30. Juni 2023
Die Schuldenbremse ist in Wahrheit eine Investitionsbremse, die unterm Strich der ganzen Wirtschaft schadet.
»Sparen ist für Oma Erna, Busfahrer Heinz und Bäcker Lutze völlig vernünftig. Für einen Finanzminister aber nicht.«
»Spare in der Zeit, dann hast du in der Not« lautet ein bekanntes Sprichwort, das sattelfest in vielen Köpfen zu sitzen scheint. Gemeint ist: Wer in guten Zeiten spart, kommt in schlechten Zeiten besser zurecht – dann, wenn das Auto eine teure Reparatur benötigt, wenn die Versicherung nicht für Zahnersatz aufkommt, wenn ein Corona-Lockdown zu Kurzarbeit oder Betriebsschließungen führt, oder wenn Tanken, Heizen und Kochen durch Mondpreise für Energie das Einkommen auffressen. Wohl dem, der Puffer hat, die sich anzapfen lassen.
Nebenbei bemerkt: Sich einen solchen Puffer aufzubauen, bleibt vielen in Deutschland verwehrt. 2022 musste mehr als die Hälfte der Menschen jeden Cent des Monatseinkommens verwenden, um den Alltag zu bewältigen. Sparen, um einen Puffer aufzubauen? Nicht mehr möglich. Jeder dritte Mensch in Deutschland hatte schon vor der Krise kaum nennenswerte Ersparnisse, jede zehnte erwachsene Person war sogar überschuldet, konnte also ihre laufenden Rechnungen nicht mehr begleichen.
Mehr als eine Million Menschen hatten schon vor der Energiekrise sogenannte Energieschulden, konnten also ihre Strom- oder Heizrechnungen nicht bezahlen. Hunderttausenden Haushalten wurde der Strom abgeschaltet. Ein Stapel offener Rechnungen und Mahnungen, rote Zahlen auf dem Kontoauszug und dann im Dunkeln mit den Kindern Mathe lernen – eine Zumutung.
Auch wenn es nicht allen möglich ist, ist Sparen eine private Tugend. Diese Einstellung ist für Oma Erna, Busfahrer Heinz und Bäcker Lutze völlig vernünftig, um nicht zu sagen: einzelwirtschaftlich rational. Für einen Finanzminister aber nicht. Denn ein Finanzminister muss nicht nur die eigenen Finanzen im Blick haben, sondern die der ganzen Wirtschaft. Sprich: Er muss gesamtwirtschaftlich denken, nicht einzelwirtschaftlich.
Genau hier liegt das Problem. Vierzig Jahre Neoliberalismus haben einzelwirtschaftliches Denken in die Köpfe der Politik gezimmert und gesamtwirtschaftliches Denken gecancelt. Einfach ausgedrückt: Seit vierzig Jahren heißt es »Ich, ich, ich« statt »wir«. Niemand hat das besser verkörpert als die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Sie hat den Neoliberalismus – man muss es ihr zugestehen – in ein perfektes Framing gegossen und politisch durchgeprügelt.
Ein Beispiel aus einer ihrer bekanntesten Reden: »Wir sollten diese entscheidende Tatsache nie vergessen. Der Staat hat keine andere Geldquelle als das Geld, das die Menschen selbst verdienen. Wenn der Staat mehr Geld ausgeben will, kann er dies nur tun, indem er sich Ihre Ersparnisse leiht oder indem er Sie stärker besteuert. Es gibt kein staatliches Geld, es gibt nur das Steuerzahlergeld.«
»Während wir kulturell immer sprachsensibler werden und Begriffe politisieren, canceln und abwandeln, sprechen die meisten von uns ökonomisch noch mit dem Zungenschlag der Margaret Thatcher.«
Bis heute ist dieses Framing quer durch alle Parteien, Talkshows und Zeitungen als vermeintlicher Konsens verbreitet – von rechts bis links. Alle nutzen den Begriff »Steuergeld« oder »Steuerzahlergeld«, wenn sie über Staatsausgaben sprechen. Der Chaos-Bau des Berliner Flughafens wird von der AfD ebenso als Steuergeldverschwendung gebrandmarkt wie das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr von der Linken.
Während wir kulturell immer sprachsensibler werden und Begriffe politisieren, canceln und abwandeln, sprechen die meisten von uns ökonomisch noch mit dem Zungenschlag der Margaret Thatcher. Denkt man einen Moment lang darüber nach, was ihre Sätze bedeuten, erkennt man, welchen Unterschied die scheinbar harmlose Wortwahl macht.
Der Staat habe kein eigenes Geld, nur das seiner Steuerzahler. Geld ist also knapp. Wenn der Staat mal mehr braucht, als er über Steuern einnimmt, muss er es sich von seinen Bürgern leihen, verschuldet sich also bei uns – sprich: Er schuldet uns also irgendwann eine Rückzahlung. Zu Ende gedacht heißt das: Macht der Staat Schulden, nimmt er den Bürgern zukünftig ihr hart erarbeitetes Geld weg; häuft er immer größere Schulden an, zahlt er den Bürgern das geliehene Geld also nicht einmal zurück.
Als erfolgreicher Finanzminister gilt also einer, der seinen Bürgern möglichst wenig Steuern abnimmt und keine Schulden macht. Das wäre allerdings ein Finanzminister, der nicht viel zu regeln und entscheiden hat. Kein Zufall, schließlich ist der Kern neoliberaler Überzeugung ein Staat, der sich aus der Wirtschaft heraushält. Deregulierung, Privatisierung, Staatsrückbau: all das steht hinter dem Begriff Steuerzahlergeld.
Genauso verhält es sich mit dem Leistungsträgernarrativ. Nach Thatchers Logik ist der Staat ja von den Steuerzahlern abhängig, besonders von denen, die viele Steuern zahlen – und das sind nun mal die, die besonders viel verdienen, die »Leistungsträger«. Die will man als Regierung natürlich nicht verprellen oder verärgern. Im Gegenteil, ein Finanzminister hat sich gefälligst um deren Interessen zu kümmern. Dass neoliberale Politik also Arbeitgeberverbände, Unternehmen und Milliardäre hofiert, ist nur konsequent und ebenso kein Zufall.
Es ist auch kein Zufall, dass in den letzten vierzig Jahren die Steuern für Spitzenverdiener, Superreiche und Unternehmen gesenkt, aber Konsumsteuern wie die Mehrwertsteuer erhöht wurden. Ergebnis: Die Friseurin darf im Supermarkt mehr blechen, die BMW-Erbin Klatten wird verschont; das Export-Business von BMW floriert, die Traditionsbäckerei Lutze hat zu kämpfen. […]
Anschließend an Thatchers Framing ließen sich dem Staat ganz bequem neue Zwangsjacken verpassen. In den EU-Verträgen wurden in den 90er Jahren strenge Schuldenregeln verankert. Was Thatcher in den 80ern in Großbritannien begann und den Geist der EU-Verträge dominierte, kopierte SPD-Kanzler Gerhard Schröder spätestens mit der Agenda 2010 und der Senkung des Spitzensteuersatzes für Deutschland. Wohlgemerkt in einer rot-grünen Regierung!
Es war die darauffolgende Große Koalition aus SPD und CDU, das erste Kabinett unter Merkel mit SPD-Finanzminister Peer Steinbrück, die die Unternehmensteuer senkte und die Mehrwertsteuer anhob. Körperschaftsteuer sank von 25 auf 15 Prozent, die Gewerbesteuermesszahl von 5 auf 3,5 Prozent und Kapitalerträge wurden dank Einführung der Abgeltungssteuer nur noch pauschal mit 25 Prozent statt mit dem persönlichen Einkommensteuersatz von damals 42 Prozent. Die Mehrwertsteuer stieg von 16 auf 19 Prozent.
Der damalige Juso-Bundesvorsitzende Björn Böhning nannte das Gesetzespaket »einen schweren Schlag für das soziale Profil der SPD«. Böhning weiter: »Die Ausfälle durch die Unternehmensteuerreform entsprechen etwa einem Mehrwertsteuerpunkt. Die Bürgerinnen und Bürger zahlen damit die weitere Entlastung großer Unternehmen.« Über diese verheerende Steuerreform spricht heute niemand mehr. Allerdings nur, weil die sozialen Verwüstungen der Agenda 2010 bis heute alles überschatten – und ebenso das Profil der SPD prägen. Zurecht – sind ihre Architekten noch heute Teil der Regierung. Der heutige Kanzler Olaf Scholz drückte als Generalsekretär die Agenda 2010 durch die SPD, der heutige Arbeitsminister Hubertus Heil ein paar Jahre später die Steuerreform – auch als Generalsekretär damals!
Weil Steuersenkungen für Reiche, Bankenpleiten und der wirtschaftliche Einbruch der Finanzkrise 2008 den Staatsschuldenstand von knapp über 60 auf knapp über 80 Prozent erhöht hatten, wurde ein Jahr später die dümmste aller Regeln mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz gegossen: die Schuldenbremse. SPD-Finanzminister Peer Steinbrück war die treibende Kraft für den Bund, Horst Seehofer für die Länder. In seiner Rede im Bundestag nannte Steinbrück die Schuldenbremse eine »finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite«. Damit sollte er Recht behalten, aber feierlich ist daran nichts. Übrigens: die FDP enthielt sich damals, weil ihr die Schuldenbremse für die Länder noch nicht streng genug war. Finanzpolitik für die FDP machte damals der heutige Verkehrsminister Volker Wissing.
Als Begründung für die Schuldenbremse brachte Finanzminister Steinbrück hervor, dass Deutschland »in einem Schraubstock der Verschuldung« stecke. »Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen«. Um die Zinsen zu senken, müsse Deutschland das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Im Wortlaut, der auch so heute von Christian Lindner gesprochen wird, klang das so: »Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird«.
Auch das gehört zum Playbook des Neoliberalismus: Staaten in die Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten zu reden und private Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit von Staaten bilanzieren zu lassen. Steinbrück bemerkte: »Ein Resultat der von mir erwähnten weltweiten Finanzkrise ist es, dass plötzlich die Kreditwürdigkeit ganzer Staaten infrage gestellt ist.« »Wenn sich inzwischen selbst die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich vergegenwärtigen müssen, dass sie heruntergerated werden können«, so Steinbrück, dann müsse Deutschland erst recht auf seine Bonität am internationalen Finanzmarkt achten.
»Das Sparen führt nicht dazu, dass wir unseren Wohlstand bewahren, sondern dazu, dass wir ihn aufs Spiel setzen.«
Da wir jetzt ja wissen, wie das mit den Staatsanleihen funktioniert, können wir Steinbrück gleich widerlegen. Das Geld, das sich die Regierung besorgt, ist letztlich immer Geld der eigenen Zentralbank. Weder die USA noch Deutschland können pleitegehen, solange die amerikanische oder die europäische Zentralbank das nicht wollen. Theoretisch könnten die »internationalen Finanzmärkte« bei der Staatsfinanzierung komplett umgangen werden, indem der Staat seine Anleihen direkt an die Zentralbank verkauft – oder, noch einfacher, sein Konto bei der Zentralbank überziehen könnte. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft wären dieselben wie vorher, nämlich dass Ausgaben in der Privatwirtschaft landen. Einzig die Banken würden keine Staatsanleihen bekommen und die internationalen Ratingagenturen hätten weniger Einfluss.
Ein interessantes Detail: Die Schuldenbremse des Bundes ist nicht so streng wie die der Bundesländer. Der Bund darf sich jedes Jahr um 0,35 Prozent verschulden (plus ein bisschen mehr, wenn die Wirtschaft mies läuft), die Bundesländer hingegen gar nicht – das sogenannte »strukturelle Defizit« liegt bei null Komma null. Damit sind die deutschen Schuldenregeln strenger als die EU-Regeln, die 0,5 Prozent Neuverschuldung erlauben. Wieso? Weil Horst Seehofer als Chefverhandler für die Bundesländer besonders streng und diszipliniert sein wollte.
Steinbrück erklärte dazu in erwähnter Bundestagsrede, dass die Länder eigentlich ein Ziel von 0,15 Prozent auferlegt bekommen sollten, um in Summe auf die europäischen 0,5 zu kommen. Die »Landesfürsten« lehnten das aber, »zum Erstaunen der Bundesvertreter«, ab, so Steinbrück, der dazu ergänzte: »Ich sage etwas flapsig: Das ist doch deren Problem und nicht mein Problem. Dann sollen sie es regeln. Ich habe nichts dagegen, wenn sie diese Position im Bundesrat verändern.«
Und tatsächlich wurde das zum Problem. Das Gros der öffentlichen Investitionen wird in Deutschland nämlich in den Ländern und Kommunen getätigt. Und die Länder wiederum sind für die finanzielle Ausstattung der Kommunen zuständig. Logischerweise gilt also: Je enger die finanzielle Zwangsjacke der Länder, desto schlechter die Finanzierung der Kommunen, desto gravierender die Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit. Laut der deutschen Investitionsbank Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beträgt der kommunale Investitionsstau rund 160 Milliarden Euro. Hinter dieser abstrakten Zahl stecken geschlossene Jugendzentren und Hallenbäder, marode Straßen und Turnhallen, baufällige Verwaltungs- und Schulgebäude, verkommene Spiel- und Sportplätze, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und Feuerwehrstationen und so weiter. Ein Armutszeugnis für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Und das bezieht sich nur darauf, die bestehende Infrastruktur zu modernisieren. Zukunftsinvestitionen sind noch gar nicht einberechnet, ebenso wenig die staatlichen Personalausgaben. Im öffentlichen Dienst sind 300.000 Stellen unbesetzt. Gesundheitsämter, Planungsbehörden, Verkehrsbetriebe, Krankenhäuser, Pflegeheime, Kitas und Schulen sind strukturell unterbesetzt. Das Investitionsproblem wird dadurch verstärkt, weil zum Beispiel Genehmigungen länger dauern, die ärztliche Betreuung schlechter ausfällt und die junge Generation nicht die Bildung bekommt, die sie verdient.
Das wiederum fällt sogar der Privatwirtschaft auf die Füße. Sie braucht gut gebildete Fachkräfte – erst recht, weil die Gesellschaft immer älter wird. Sie ist auf öffentliche Infrastruktur wie Schienen, Straßen und Brücken angewiesen, um Güter und Mitarbeiter zu transportieren. Tagtäglich verstopfen vollgeladene LKWs deutsche Autobahnen, statt über ein modernes und großzügig ausgebautes Schienennetz per Güterbahn transportiert zu werden. Die Privatwirtschaft braucht ausgebaute Stromnetze, stabile Energiepreise und erstklassiges Internet genauso wie staatliche Grundlagenforschung und Förderung. Aus diesen Bereichen hat sich der Staat vielfach zurückgezogen und sie privaten Quasi-Monopolen überlassen.
Kurz: Die Schuldenbremse ist in Wahrheit eine Investitionsbremse, die unterm Strich der ganzen Wirtschaft schadet. Aber nicht nur das: Sie ist auch eine Sozialstaatsbremse. Denn genauso verhindert sie eine ordentliche Absicherung beim umkämpften Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung. Sie ist die ins Grundgesetz gegossene Sparideologie. Allerdings führt das Sparen nicht dazu, dass wir unseren Wohlstand bewahren, sondern dazu, dass wir ihn aufs Spiel setzen.
Übrigens: Auch an der Energiekrise und dem Preisschock von 2022 hat die Schuldenbremse ihren Anteil. Hätte Deutschland, statt sich kaputtzusparen, längst eine Investitionsoffensive für bessere Stromnetze, energetisch sanierte Gebäude, einen Hochlauf von Wärmepumpen, mehr Windräder und Solaranlagen, Forschung an Speichertechnologien und einer wirklichen Verkehrswende gestartet, wären wir weder so abhängig von Putins Gas gewesen noch hätte der Preisschock so heftig eingeschlagen. Allein bei der Stromproduktion unabhängig vom Gas zu sein, hätte den massiven Anstieg der Strompreise verhindert und die Inflationsrate gedämpft. Anders als Finanzminister Lindner behauptet, ist die Schuldenbremse auch keine Inflationsbremse, sondern ein Inflationsbeschleuniger! […]
Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel »Der zersparte Staat« des Sammelbands GENUG! – Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.