08. März 2021
Manche Stühle sind besser als andere, aber im Grunde sind sie alle schlecht.
Der Kampf gegen Stühle ist aussichtslos.
Wer Industriedesigner kennt, der wird wissen, dass diese Leute eine Schwäche für Stühle haben. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, den Lieblings-Stuhlhersteller einer Designerin anhand ihres Kleidungsstils erraten zu können. Schwarzes Hemd? Mies van der Rohe. Schwarzer Rollkragenpullover? Peter Opsvik. Tiefer Ausschnitt und penibel gegeltes Haar? Campanas. Jede Absolventin einer Designschule braucht einen cool aussehenden Stuhl in ihrem Portfolio. Das Stuhldesign ist ein hart umkämpftes Feld. Die Stellenausschreibungen für den Posten »Gefeierter Designer«, die auf den letzten Seiten von Hochglanz-Design-Magazinen zu finden sind, müssen sich in etwa so lesen: »Sie brauchen sich gar nicht erst zu bewerben, es sei denn, Sie sind wie besessen davon, schöne, schreckliche Möbel für die Upper Class zu entwerfen.«
Es tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber Stühle sind beschissen. Alle von ihnen. Kein Designer der Welt hat jemals einen guten Stuhl entworfen – weil es schlichtweg unmöglich ist. Klar, manche Stühle sind besser als andere, aber im Grunde sind sie alle schlecht. Stühle sind nicht nur gesundheitsschädlich, sie haben auch eine suspekte Geschichte, die untrennbar mit unserer Kultur eines status-versessenen Individualismus verwoben ist. Schlimmer noch: Wir sind mittlerweile komplett auf Stühle angewiesen und wer weiß, ob wir uns jemals aus dieser Abhängigkeit werden befreien können.
Stühle sind gefährlich. Diese Behauptung mag absurd klingen, schließlich sind sie bequem, allgegenwärtig und scheinen fast zu harmlos, als dass sie einen wirklichen Schaden anrichten könnten. Aber wenn man bedenkt, dass wir im Durchschnitt mehr als neun Stunden pro Tag auf Stühlen verbringen – ob bei der Arbeit, beim Entspannen, beim Pendeln, beim Essen oder manchmal auch beim Schlafen –, dann leuchtet einem schnell ein, weshalb Stühle einen gravierenden Einfluss auf die öffentliche Gesundheit haben könnten. Und den haben sie tatsächlich.
Die Statistik spricht eine düstere Sprache: Eine 14-jährige Längsschnittstudie mit 120.000 Teilnehmenden der American Cancer Society befand, dass langes Sitzen zu einem dramatischen Anstieg des Sterberisikos führte. Das galt sogar auch für jene Studienteilnehmenden, die regelmäßig Sport trieben. Man mag nun über Kausalität und Korrelation streiten. Fakt ist aber, der Stapel von Beweisen, die langes Sitzen für Herzerkrankungen, Fettleibigkeit, Diabetes, Depressionen und unzählige orthopädische Leiden mitverantwortlich machen, wächst stetig. Ganz egal ob man nun jung ist, sich gut ernährt oder ansonsten ein aktives Leben führt – wer exzessiv sitzt, schadet der eigenen Gesundheit.
So ganz für bare Münze sollte man solche Studienergebnisse trotzdem nicht nehmen. Denn das Problem ist nicht einfach nur, dass wir als Gesellschaft so viel sitzen, sondern wie wir sitzen – normalerweise in erhöhter Position, mit einer Lehne im Rücken. Auf einem Stuhl also. Das Sitzen an sich wäre nicht ganz so bitter, würden wir es nicht auf einem Möbelstück tun, das so ausgesprochen schlecht für uns ist.
Woran das liegt? Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Es kommt ganz auf den Stuhl an. Unterschiedliche Stühle haben unterschiedliche Mängel. Unbequeme Stühle üben zum Beispiel einen ungünstigen Druck auf einen Teil des Körpers aus oder erfordern unverhältnismäßig viel Muskelarbeit, um auf ihnen zu sitzen. Das kann zu Verspannungen führen und zu einer gekrümmten Haltung verleiten, die die Durchblutung einschränkt, die Atem- und Darmfunktion beeinträchtigt und den Bewegungsapparat schädigen kann.
Bequeme Stühle sind noch schlimmer. Da man auf besonders gemütlichen Stühlen dazu neigt, lange Zeit beinahe bewegungslos in einer Position zu verharren, wird die Wirbelsäule belastet und die Muskeln, die den Körper stützen und Verletzungen vorbeugen, werden geschwächt. Sie erzeugen die gleichen Kreislaufprobleme wie ihre weniger komfortablen Pendants. Und das ist nur der Anfang.
»Niemand weiß so recht, was einen »guten« Stuhl überhaupt auszeichnen würde.«
Es gab mal eine Zeit, in der hoffnungsvolle Möbelhersteller wie Herman Miller prophezeiten, dass uns die etwas zweifelhafte Quasi-Wissenschaft der Ergonomie einen körperfreundlichen Stuhlentwurf bescheren würde. Tatsächlich erweist sich die von Kontroversen und Verwirrungen durchzogene wissenschaftliche Literatur der Ergonomie als wenig erhellend.
Überhaupt weiß niemand so recht, was einen »guten« Stuhl auszeichnen würde, geschweige denn, wie man einen solchen konstruieren könnte. Einige Ergonomen meinen, entscheidend sei, dass sich die Wirbelsäule beim Sitzen C-förmig nach vorne und unten krümmen solle, um muskuläre Belastungen zu vermeiden. Das übt allerdings Druck auf die inneren Organe aus und kann mit der Zeit Bandscheibenrisse herbeiführen. Andere plädieren für Lordosenstützen, aber die erzwungene Hohlkreuzhaltung, die man mit einer solchen Lehne einnimmt, ist kurzfristig auch nicht viel besser. Im schlimmsten Fall ist sie langfristig sogar schädlich, da sie die Muskulatur der Lendenwirbelregion schwächt und so die Wahrscheinlichkeit eben jener Verletzungen erhöht, die sie verhindern soll. Ähnlich uneinig ist man sich über Höhe, Winkel und Tiefe des Sitzes, über Kopf-, Fuß- und Armstützen sowie über die Polsterung des idealen Stuhls.
Galen Cranz, Architektursoziologe und der vielleicht bedeutendste Stuhlforscher der Welt, hat die Ergonomie einmal als »verwirrt und mithin albern« bezeichnet. Für Designer ohne wissenschaftliche Ausbildung bleibt sie ein undurchsichtiges, verworrenes Chaos.
Es sind einige ehrenwerte Anstrengungen unternommen worden, wenn auch nur mit begrenztem Erfolg. Eine Reihe skandinavischer Designer entwarf Kugelstühle, Kniestühle und solche, die das Sitzen in wechselnden Positionen begünstigen. Hier zeigen sich bescheidene Verbesserungen, aber noch lange keine Lösungen. Sie sind nicht an die gängigen Tischhöhen angepasst und sehen außerdem so schräg aus, dass sie an den meisten Arbeitsplätzen nicht akzeptiert würden. Nach jahrzehntelangen Versuchen ist es vielleicht an der Zeit, sich einzugestehen, dass wir das Problem mit den Stühlen niemals lösen werden.
Fraglich bleibt, weshalb sich Stühle so hartnäckig halten, obwohl sie schon immer eine dumme Idee waren. Wieso besteht unsere Kultur darauf, dass wir die meiste Zeit des Tages auf einem Möbelstück verbringen, dass uns nur schadet? Wie zur Hölle konnte uns das passieren?
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