04. Januar 2021
Seit den Protesten gegen das autoritäre Regime in Bulgarien distanziert sich die EU von Regierungschef Bojko Borissow. Doch der wurde von deutschen Konservativen hochgezogen.
Angela Merkel und Bojko Borissow, 16. Mai 2018.
Seit Juni 2020 wird das politische Leben Bulgariens von Anti-Korruptions-Protesten beherrscht, die den Rücktritt des Ministerpräsidenten Bojko Borissow und der von seiner Partei GERB geführten Regierungskoalition fordern.
Obwohl die nächtlichen Kundgebungen langsam abflauen – und es der Bewegung allem Anschein nach nicht gelingen wird, die Regierung vor den für Anfang 2021 angesetzten Parlamentswahlen zu Fall zu bringen –, könnte es sein, dass sie Borissows Image irreversiblen Schaden zugefügt haben. Seine Umfragewerte sind so schlecht wie nie zuvor – und, was nicht weniger bedeutsam ist: Auch das internationale Ansehen von GERB hat ernsthaft gelitten.
Die Proteste sind der Höhepunkt der öffentlichen Empörung über eine lange Reihe von Skandalen – so hat sich die Regierung in einen geradezu mafiösen Missbrauch der Staatsfinanzen verwickelt, um die Parteiführung und ihre Geschäftspartner zu bereichern. Auf den Straßen der Hauptstadt Sofia wie auch anderer Städte waren wütende Menschenmengen zu beobachten, die den Rücktritt der Regierung forderten, wobei unter anderem Schilder zu sehen waren, welche direkt an die Eliten der EU gerichtet waren – oft sogar in deutscher Sprache, wie zum Beispiel: »Frau Merkel! Schämen Sie sich nicht für den korrupten Typ?«
Einige linke und grüne EU-Politikerinnen und -Politiker unterstützten die Proteste von Anfang an, später folgten, etwas zaghaft, auch einige Konservative. Gunther Krichbaum von der Union, der dem Ausschuss für EU-Angelegenheiten im Bundestag vorsitzt, nannte Bulgarien »den korruptesten Staat in Europa« und forderte die EU zum Handeln auf.
Im vergangenen Oktober verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, die die Proteste in Bulgarien unterstützte und den Mangel an Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, die grassierende Korruption, die Unterdrückung von NGOs und die Missachtung der Rechte von Frauen, LGBT-Personen, Inhaftierten und Minderheiten durch die Regierung kritisierte.
Bis vor kurzem beschränkte sich diese Art von Kritik auf Viktor Orbáns Ungarn: Borissows Bulgarien blieb trotz der unbestreitbaren Ähnlichkeit der beiden Staatsführungen bisweilen davon verschont. Aber das hat jetzt ein Ende.
Im Vorfeld der Wahlen im November erklärte das Magazin Foreign Policy sogar, dass es in den USA im Falle eines Trump-Wahlsiegs schon bald ganz wie in Bulgarien zugehen könnte. In Wirklichkeit ist Bulgarien noch weit davon entfernt, sich mit der Art von rassistischer Gewalt, politischer Instabilität und extremer Machtkonzentration in den Händen der Unternehmen messen zu können, wie sie in den USA an der Tagesordnung sind. Aber die Tatsache, dass Bulgarien in der westlichen Presse zu einem Sinnbild für Korruption geworden ist, sagt viel darüber aus, wie sehr sich die Meinung der internationalen Öffentlichkeit gewandelt hat.
Dieser Tage hat die deutsche Politik zwar ihren moralischen Zeigefinger erhoben, jedoch handelt es sich bei GERB – was »Wappen« bedeutet, aber auch ein Akronym für »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« bildet – um eine bewusste Schöpfung des konservativen Establishments der Bundesrepublik.
Nach dem Vorbild der SPD, die in den 1970er Jahren die Sozialistische Partei Portugals finanzierte, um sie gegen die Kommunisten zu unterstützen, begannen konservative Think Tanks in den 2000er Jahren, Borissow als ein Gegengewicht zur Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) und einen verlässlichen Garanten für »Stabilität« und den »Kampf gegen Korruption« im jüngsten EU-Mitgliedstaat aufzubauen.
Heute gibt sich Borissow gerne als loyaler Partner an Merkels Seite. Doch auch schon lange bevor GERB eine etablierte Partei war, prahlte Borrisow öffentlich mit persönlichen Einladungen des damaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster und seinen Verbindungen zu Edmund Stoiber, als dieser noch CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident war. Er liebt es, sich zusammen mit Wolfgang Schäuble ablichten zu lassen und damit anzugeben, wie effektiv Bulgarien seine EU-Außengrenze dicht gemacht habe.
In der Tat haben seine Verbindungen zu den deutschen Konservativen Borissow stets mit Stolz erfüllt. In einem Interview mit der Deutschen Welle im GERB-Gründungsjahr 2006 erklärte er: »Die neue Partei muss euro-atlantisch und christlich orientiert sein, inspiriert von der bayerischen CSU ... Deutschland ist mein Vorbild: in Sachen Mentalität, Genauigkeit, Disziplin, Ordnung, Verantwortung – in allem.« Des Weiteren führt Borissow an, dass die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung ihm in jenen Anfangszeiten beim Aufbau der Parteistrukturen geholfen hat.
Auch bei seinem großen Durchbruch im Jahr 2007 bekam Borissow Hilfe aus Deutschland: Im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen GERB und der Union der Demokratischen Kräfte (Sajus na Demokratitschnite Sili, SDS) – einer anderen Mitte-rechts-Partei in Bulgarien – stellte sich die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung offen auf die Seite von GERB und strich der SDS die finanzielle Unterstützung. Diese Entscheidung kam nur wenige Wochen nach den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament seit dem Beitritt Bulgariens zur EU, in der GERB mit 21,7 Prozent stärkste Kraft geworden war, während die SDS nur magere 4,7 Prozent einfuhr.
Damit war klar, dass GERB für die Stärkung konservativer Politik in Bulgarien die beste Wette war. Im gleichen Jahr trat GERB bei den Kommunalwahlen an, wobei Borissow – wiederum mit Unterstützung der Konrad-Adenauer- und der Hanns-Seidel-Stiftung – zum Bürgermeister von Sofia gewählt wurde. Nur zwei Jahre später folgte 2009 seine Wahl zum Ministerpräsidenten.
Die SDS – jene Partei, die von GERB verdrängt wurde – hatte eine düstere Vergangenheit. Als sie im Jahr 1989 als Bewegung gegen die Herrschaft der Bulgarischen Kommunistischen Partei gegründet wurde, war sie ein seltsames Bündnis: So vereinte sie Menschenrechtsaktivistinnen, politische Dissidenten, Sozialdemokratinnen, ältere Vorkriegsfaschisten und die Podkrepa-Gewerkschaft, eine Massenbewegung der Arbeiterklasse, die von Solidarnosć in Polen inspiriert war.
Interne Konflikte, ideologische Ungereimtheiten und der insgesamt instabile und widersprüchliche Charakter dieser Koalition machten es der SDS schwer, eine stabile Regierung zu bilden. Die Chance, dies zu tun, bekam sie allerdings erst nach einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise im Jahr 1997.
Einmal an der Macht, versuchte die SDS das Land durch eine Reihe von – wie die Partei es nannte – »unpopulären Reformen« auf Kurs zu bringen. Das bedeutete eine radikale neoliberale Umstrukturierung unter der Schirmherrschaft des IWF und der Weltbank, die Privatisierung der verbliebenen öffentlichen Industrien und ein rücksichtsloses Austeritätsregime.
Iwan Kostow, der Vorsitzende der SDS, wurde Ministerpräsident und wandelte die amorphe Protestbewegung in eine disziplinierte, zentralisierte Partei um, die klar rechts positioniert war und wenig internen Dissens duldete. Kostows autoritärer Führungsstil brachte ihm den Spitznamen »der Kommandant« ein – ein Titel, der von den Parteimitgliedern selbst geprägt wurde.
Die SDS blieb eine ganze Amtszeit an der Macht, war jedoch bis 2001 aufgrund ihrer »unpopulären Reformen« praktisch unwählbar geworden. Was von der Partei übrig blieb, erhielt sich in verschiedensten Formen am Leben: mal als Juniorpartnerin der GERB, mal in der Opposition, weder ganz liberal noch konservativ, aber stets pro-westlich und pro-marktwirtschaftlich orientiert.
Heute sind diese Kräfte in der liberalen Partei »Da, Bulgaria« und einer breiteren liberalen Opposition namens »Demokratisches Bulgarien« zu Hause, deren Anführer einst als Minister in einem früheren Kabinett Borissows gedient hat.
Auch die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung mischte in der bulgarischen Politik fleißig mit. Im Jahr 2001 gründete Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha – der Erbe des letzten bulgarischen Zaren, der von den Kommunisten vertrieben worden und nach dem Zweiten Weltkrieg in Francos Spanien untergekommen war – mit ihrer Hilfe eine neue Partei. Obwohl die »Nationale Bewegung Simeon der Zweite« (NDSV) nur elf Wochen vor den Parlamentswahlen gegründet wurde, gewann sie anschließend mit Leichtigkeit eine absolute Mehrheit.
Von Sachsen-Coburg und Gotha, genannt »der Zar«, stellte sich als überparteilicher Technokrat dar, der seine in Spanien erworbenen Wirtschaftskenntnisse anwenden und »innerhalb von 800 Tagen alles in Ordnung bringen« würde. Er kokettierte mit populistischer Rhetorik, setzte aber in der Praxis die neoliberalen Reformen der Vorgängerregierung fort und ist heute vor allem für seine weitreichenden Privatisierungsvorhaben bekannt. Seine Partei wurde bei den nächsten Wahlen im Jahr 2005 geschlagen, blieb jedoch als Teil einer Koalition bis 2009 an der Macht, woraufhin »der Zar« in sein spanisches Exil zurückkehrte.
Dies war auch die Zeit, in der Borissow zu Prominenz gelangte und zunehmend von deutschen konservativen Eliten wahrgenommen wurde. In der Regierung der NDSV wurde er Staatssekretär des Innenministeriums – und damit zugleich oberster Polizeichef – und lernte einige wertvolle Lektionen darüber, wie man sich die Unterstützung der Bevölkerung für neoliberale Politik sichern kann, indem man Anti-Korruptions-Rhetorik vorschützt.
Prominente liberale Politikwissenschaftler in Bulgarien bezeichnen sowohl von Sachsen-Coburg und Gotha als auch Borissow als »weiche« – also akzeptable – Populisten. Dieses Etikett haben sie sich verdient, indem sie den Neoliberalismus in einem gewissen Maß populär machten. Das unterscheidet sie von den »harten« Populisten, welche die Vorherrschaft des Westens und die Überlegenheit des freien Marktes in Frage stellen.
Doch ein Erbe des letzten Zaren gibt keinen guten Populisten ab, nicht einmal einen »weichen«, wenn man ihn mit einem Mann wie Borissow vergleicht – einem ehemaligen Polizisten und Karatemeister, der am Stadtrand von Sofia aufgewachsen ist und in den 1990er Jahren durch die schonungslose Restauration des Kapitalismus gestählt wurde.
Vor 1989 arbeitete Borissow als Feuerwehrmann und nahm zugleich an Karate-Turnieren teil. Er wird beschuldigt, in den späten 1980er Jahren in gewaltsame Angriffe auf Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung der türkischen Minderheit Bulgariens verwickelt gewesen zu sein, als diese gegen den sogenannten »Wiederbelebungsprozess« stellten, der muslimische Bürgerinnen und Bürger dazu zwang, entweder ihren Namen zu ändern oder in die Türkei auszuwandern. Als Borissow 2008 dazu befragt wurde, sagte er, dass dieser Prozess »nicht für seine Ziele, sondern für seine Mittel« kritisiert werden sollte, und leugnete seine Beteiligung an der brutalen Repression der Bewegung – er habe lediglich ein Bataillon von Feuerwehrleuten und jungen Karateschülern angeführt, das landwirtschaftliche Nutzflächen vor »türkischen Brandstiftern« beschützte.
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gründete Borissow eine private Sicherheitsfirma namens »Ipon« – ein üblicher Karriereschritt unter ehemaligen Kampfsportlern und Polizisten in den frühen 1990er Jahren. Sie wurden als mutri (»hässliche Fressen«) bekannt – die Kraftmeier, die in dieser Ära für die Straßengewalt verantwortlich waren.
Borissow trägt dieses Kapitel seiner Biographie mit Stolz und hat nie versucht, seine Verbandelung mit hochrangigen Gangstern zu verbergen. In einem Interview mit dem Titel »Nur die Fittesten überleben«, das er vor fünfzehn Jahren dem einflussreichen Lifestyle-Magazin Egoist gab, spricht Borissow, in eine Militäruniform gekleidet, über seine engen Verbindungen mit berüchtigten Verbrechern der 1990er Jahre. Er bezeichnet sie als »intelligente Jungs« und untermauert diese Einschätzung mit der Tatsache, dass sie heute »legalen Geschäften« nachgehen – zumindest diejenigen, die nicht von ihren Komplizen ermordet worden sind. Noch heute erinnert sich Borissow öffentlich an die 1990er Jahre: »Ich bin immer auf der Hut, nicht wieder zum Schläger zu werden. Es gibt keinen guten Kampf. Selbst wenn du sie vermöbelt hast, tut es trotzdem weh.«
Nach 1989 wurde Ipon angeheuert, um den langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Bulgariens, Todor Schiwkow, zu bewachen, 2001 wurde auch von Sachsen-Coburg und Gotha Klient. In beiden Fällen war Borissow der persönliche Leibwächter der Politiker. In dieser Rolle lernte er die politische Elite Bulgariens kennen, was schließlich zu seiner Ernennung zum Staatssekretär des Innenministeriums während der Regierungszeit der NDSV führte.
Als Polizeichef verfolgte Borissow eine brillante PR-Strategie, die von den privaten Medien sehr geschätzt wurde. Er war immerzu in den Nachrichten, gab die Rolle des hart arbeitenden Polizisten, der mit eiserner Faust gegen das Verbrechen vorging, schwadronierte neben der Leiche des nächsten Opfers im Krieg gegen die Kriminalität in die Kamera, brüllte in sein Telefon und trug dabei einen schwarzen Ledermantel.
Sein Slogan als Polizeichef war: »Wir [die Polizei] fangen sie ein und sie [die Justiz] lassen sie laufen.« Seine Theatralik beförderte die Vorstellung, dass die Rechtsstaatlichkeit endlich wiederhergestellt werden könnte, wenn nur ein stahlharter Mafia-Jäger wie er ins Amt käme.
Borissows zunehmende Präsenz in der Öffentlichkeit erregte die Aufmerksamkeit von Wolfgang Gläsker, der das Büro der Hanns-Seidel-Stiftung in Sofia leitete, und er begann ihn zu der Gründung einer neuen Partei zu drängen. Zu diesem Zeitpunkt spielte die Stiftung bereits eine Schlüsselrolle bei der Umstrukturierung der bulgarischen Polizei und baute nun auch Verbindungen zu dem zukünftigen Ministerpräsidenten auf.
Sie finanzierte Borissows Vortragsreisen, die der Rekrutierung von Parteimitgliedern im gesamten Land dienten. Schon das erste GERB-Programm war über weite Strecken beim Parteiprogramm der CSU abgekupfert. Die Übersetzerin Antoaneta Baycheva arbeitete damals für die Hanns-Seidel-Stiftung und wurde später zur bulgarischen Generalkonsulin in München ernannt. Auch der Name GERB wurde von der Hanns-Seidel-Stiftung erdacht. Manche spotteten, dass der einzige wirkliche Unterschied zwischen den Programmen von CSU und GERB sei, dass dort wo vorher »Bayern« stand, nun »Bulgarien« stehe.
Michael Martens, Korrespondent der FAZ, schrieb 2016 über die frühen Annäherungsversuche der CSU gegenüber dem zukünftigen bulgarischen Ministerpräsidenten, dass Borissow leicht zu beeindrucken gewesen sei – alles, was es brauchte, war ein wenig bayerische Gastfreundschaft, ein paar Trainingseinheiten mit deutschen SEKs und ein Ausflug mit einem BMW über die Autobahn.
»Ich bin dumm und ihr seid dumm, also kommen wir gut miteinander aus« – diesen berühmten Spruch Borissows über die bulgarische Wählerschaft zitierte Martens als eine mögliche Erklärung für die relative Stabilität der GERB-Regierungen. Seine Analyse wurde in Bulgarien als eine ironische und kritische Darstellung von GERB wahrgenommen.
Bei den Wahlen von 2009 erhielt Borissows neue Partei weniger als 40 Prozent der Stimmen. Obwohl die Rechtsliberalen bereit waren, die zweite Geige zu spielen, bildete Borissow eine Minderheitsregierung mit der stillschweigenden Unterstützung der extremen Rechten. Die erste Amtshandlung der neuen Regierung bestand darin, mit der Strafverfolgung von Alexej Petrow zu beginnen, einem ehemaligen Geschäftspartner Borissows aus den 1990ern, der ihm in der Zwischenzeit abtrünnig geworden war.
Borissow machte Petrow zu seinem Erzfeind und gab ihm die Schuld an sämtlichen Problemen des Landes – er wurde zu einem bulgarischen Emmanuel Goldstein aus George Orwells 1984, der regelmäßig im nationalen Fernsehen mit »zwei Minuten Hass« bedacht wurde. Petrow wurde schließlich vor einem bulgarischen Gericht freigesprochen, klagte später vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Bulgarien aufgrund des Schauprozesses gegen ihn und gewann auch dieses Verfahren.
»Wir fangen sie ein und sie lassen sie laufen« blieb auch weiterhin die Bilanz der GERB im Kampf gegen die Korruption, denn Petrows Geschichte wiederholte sich noch mehrfach mit anderen Personen, sofern sie denn ihre Verhaftungen überlebten. Die bulgarische Polizei war nämlich während Borissows Amtszeit in mindestens zwei Morde an mutmaßlichen Kriminellen während ihrer Verhaftung verwickelt.
In einem Fall wurde der Verdächtige, wie sich später vor Gericht herausstellte, erst mit einem Granatwerfer in die Luft gesprengt, und dann seine Leiche in Brand gesteckt, um es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Niemand wurde für den Mord angeklagt, möglicherweise um zu verhindern, dass der Angeklagte gegen Beamte aussagt, einschließlich Borissow selbst. »Jedes Land hat seine eigene Mafia, aber in Bulgarien hat die Mafia ein eigenes Land« – dieser Sprechchor wird in Bulgarien regelmäßig auf Demonstrationen skandiert.
Trotz ihres nominell konservativen Programms ist die Ideologie von GERB in der Praxis nicht fest umrissen, mit einem starken Antikommunismus, der sich überraschend gut mit einer gehörigen Dosis Nostalgie für die sozialistische Vergangenheit verträgt. Die einzigen Konstanten sind die entschiedene Pro-EU-Haltung der Partei und ihre Unterwürfigkeit gegenüber den westlichen Eliten.
Sie ist zudem eine Ein-Mann-Partei – demokratische Entscheidungen, die Borissows Willen zuwiderlaufen, sind praktisch unvorstellbar. Bei der Gründungsversammlung von GERB im Jahr 2006 verkündete Borissow, damals Bürgermeister von Sofia, dass er alle Anwesenden persönlich eingeladen habe und sie, wenn er wolle, auch wieder rauswerfen könne.
Borissows zwielichtige Vergangenheit und seine autoritären Tendenzen waren seinen deutschen Förderern keineswegs verborgen geblieben, als sie ihn vor fünfzehn Jahren zu ihrem politischen Schützling machten. Im Gegenteil: Es war genau dieser Ruf, der ihn für sie so attraktiv werden ließ. Wenn es um die Haltung der deutschen Eliten gegenüber ihren ärmeren europäischen Nachbarn geht, scheinen politische und wirtschaftliche Interessen die erklärten liberalen Werte regelmäßig zu übertrumpfen – und so gesehen war GERB ein idealer Partner.
Die Partei ist mittlerweile seit fast zehn Jahren an der Macht und unterstützt die deutschen Konservativen weiterhin in sämtlichen EU-Debatten, sichert die »Null Migration« durch die strenge Bewachung ihrer EU-Außengrenze mit der Türkei, und bietet – vielleicht am wichtigsten – ein ideales Investitionsumfeld für das deutsche Kapital.
Deutschland ist Bulgariens wichtigster Handelspartner und nach den Niederlanden der zweitgrößte ausländische Investor im Land. Deutsches Geld fließt vor allem in den Einzelhandel, den Finanzsektor und die Produktion, aber auch in die Rohstoffgewinnung. Das deutsche Unternehmen Aurubis zum Beispiel ist ein Top-Produzent von Kupfer in Bulgarien. Tatsächlich ist Kathodenkupfer – eine Schlüsselressource für die wachsende Elektroautoindustrie – Bulgariens wichtigster Exportartikel, was das Land zum viertgrößten Kupferexporteur Europas macht.
Sektoren wie der Einzelhandel und der Bergbau bieten jedoch weder gut bezahlte Arbeitsplätze noch große Wertschöpfung für die bulgarische Wirtschaft, sondern verstärken eher den semi-peripheren Status des Landes am Rande Europas. Man braucht sich nur die zahlreichen bulgarischen Firmen anzusehen, die von größeren deutschen Konzernen unter Vertrag genommen wurden, wie die für ihre gewerkschaftsfeindlichen Vorkehrungen berüchtigte Bekleidungsfabrik Pirin-Tex, die Kleidung für Hugo Boss herstellt.
Borissows Auftreten und seine ambivalente Haltung gegenüber liberalen Werten mögen in Berlin oder Brüssel als unangenehm empfunden werden, jedoch steht für das deutsche Kapital und seine konservativen Verbündeten einfach zu viel auf dem Spiel, um ihren gefügigen Staatsmann in Bulgarien aufzugeben. Ihre vielen Gefallen hat Borissow erwidert, indem er ein für sie ideales Geschäftsklima schuf – mit knappen öffentlichen Haushalten, Armutslöhnen und Steuerbefreiungen sowie Subventionen auf Investitionen.
Die einzigen, die bei diesem Deal leer ausgehen, sind die Menschen in Bulgarien. Es ist heute das Land mit der extremsten Ungleichheit und den niedrigsten Löhnen in der EU – und die in der Folge um sich greifende Massenauswanderung macht es außerdem zu der am schnellsten schrumpfenden Nation der Welt.
Franklin D. Roosevelt soll einmal über den nicaraguanischen Diktator Anastasio Somoza García gesagt haben: »Er mag ein Hurensohn sein, aber er ist unser Hurensohn.« Die deutschen Konservativen äußern sich zwar nicht ganz so unverblümt, aber man kann sich vorstellen, dass ihnen dieser Gedanke des Öfteren durch den Kopf geht, wenn sie einen Blick in ihren Hinterhof in Osteuropa werfen.
Georgi Medarow ist Soziologe und lebt in Sofia, Bulgarien. Er ist Mitglied des Collective for Social Interventions (KOI).
Georgi Medarow ist Soziologe und lebt in Sofia, Bulgarien. Er ist Mitglied des Collective for Social Interventions (KOI).