12. Oktober 2024
Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Gewerkschaftsbund ins Leben gerufen. Seine Gründungsgeschichte erinnert uns heute daran, wie umkämpft die Ausrichtung der neuen Bundesrepublik nach dem Krieg gewesen ist.
Blick über den Saal aufs Podium beim DGB-Gründungskongress in München, 12.–14. Oktober 1949.
Hamburger Hafen, Mai 1947. Ein Streiktag geht zu Ende, als ein Reporter ein Grüppchen von Arbeitern bemerkt, die offenbar nicht daran denken, zurück zur Arbeit zu gehen. Plackerei und faule Kartoffeln, erzählen sie, so kann es nicht weitergehen. Seit Wochen haben sie für ihre Bezugsscheine keine Kartoffeln bekommen, nun wurden ihnen verfaulte gegeben, eine Sauerei sei das. »Ja Moment, wann wollen Sie mit der Arbeit wieder anfangen?«, fragt der Reporter. »Wenn man erst mal was Ordentliches zu essen kriegt!«, entgegnen die Arbeiter. »Und der Lohnausfall?«, hakt der Reporter nach. Ein Arbeiter lacht. »Hamstern gehen«, ist doch klar.
Doch es geht nicht nur um den knurrenden Magen. »Wir wollen erreichen«, sagt ein Arbeiter, »dass heute die Hamburger Bürgerschaft, also der Hamburger Senat endlich einmal dazu übergeht, den Gewerkschaften tatsächlich die Vollmacht über die Kontrolle der Erzeugung und der Produktion zu übergeben. Gefordert wird es bereits seit zwei Jahren. Aber man ist immer und immer noch nicht dazu übergegangen, diesen Kontrollausschüssen tatsächlich eine gesetzliche Vollmacht zu geben!«
Diese Szene offenbart eine Grundstimmung der westdeutschen Nachkriegsjahre, die jedoch kaum mehr im kollektiven Gedächtnis zu finden ist. Zerbombte Städte, überall Berge von Schutt, dazwischen die sich in die Hände spuckenden Trümmerfrauen. Das sind bekannte Bilder nach der Niederlage Nazideutschlands. Hunger und Elend sind mit dieser Zeit verbunden, und natürlich die darüber schwebende Frage nach der Kollektivschuld der Bevölkerung an den deutschen Verbrechen.
Doch wie virulent Klassenkonflikte um alltägliche Versorgung und um eine umfassende Demokratisierung von Staat und Wirtschaft nach dem Krieg gewesen sind, ist nahezu vergessen. Die Gründung des DGBs, die sich vom 12. bis 14. Oktober 1949 in München vollzog, steht exemplarisch für diese Geschichte der westdeutschen Nachkriegsjahre. Es war eine Zeit von Kartoffelschlachten und großen Massenstreiks, in denen die Forderung nach einem Ende des Hungers Hand in Hand ging mit der Forderung nach der Enteignung von Unternehmern, die im Krieg viel Geld verdient haben.
So plausibel die Verknüpfung von ausreichendem Essen, einem Dach über dem Kopf und einer demokratischen Kontrolle der Produktion für die Hamburger Hafenarbeiter auch war, so sehr sollte sie zum Dilemma für die Gewerkschaften werden. Aufbauhilfe und Gegnerschaft zum Wiederaufbau des Kapitalismus erweisen sich rückblickend als zwei Pole, zwischen denen die Gründungsgeschichte des DGBs im Zickzack verlief. Als am Ende des Aufbruchs zwei deutsche Staaten entstehen, ist der DGB zu einer wichtigen Institution der Bundesrepublik und damit auch der Westbindung geworden. Doch das Ziel einer Entprivatisierung der Arbeit bleibt in seinem Gründungsmanifest stehen – als Geist, der bis heute weiterlebt.
Die Gründungsgeschichte der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich aus zwei Blickrichtungen beschreiben: von oben, indem man sich die schwierigen Entscheidungen der Institutionalisierung unter den Bedingungen des beginnenden Kalten Krieges anschaut; und von unten, indem man die alltäglichen Probleme der Leute und ihre Hoffnungen und Erwartungen an gewerkschaftliche Organisationen betrachtet.
Folgt man Letzterem, wirft man Licht auf das Elend der Arbeiterfamilien nach dem Krieg, die in zerstörten Städten mit Hunger und Wohnungsnot kämpfen. Die, die das Glück haben, einen Lohn zu bekommen, müssen unter schwersten Bedingungen arbeiten. Bis 1955 steigt die Regelarbeitszeit auf 49 Stunden bei sechs Tagen – fast vier Stunden mehr als unter den Nazis 1936. Lokale Gewerkschaftsorganisationen sind zunächst Bedarfsgemeinschaften, in denen geholfen wird, die Grundversorgung von Wasser und Lebensmitteln, Heizmaterial und Kleidung wiederherzustellen.
Noch vor Kriegsende, im März 1945, wird in Aachen – gerade durch die Offensive der Westalliierten befreit – die erste Gewerkschaft ins Leben gerufen, seitdem unter Hitler am 2. Mai 1933 die freien Gewerkschaften zerschlagen wurden. Kurz nach offizieller Kapitulation der Nazis gibt es dann im übriggebliebenen Deutschland, in dem die Verheerungen des Krieges noch überall spürbar sind, vielerorts spontane Wiedergründungen, erzählt Stefan Müller, der als Historiker im »Archiv der sozialen Demokratie« der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet, in dem sich auch der DGB-Nachlass befindet. »Das war einerseits ein spontaner Akt, aber das waren häufig Personen, die sich da gedanklich und zum Teil organisatorisch einige Zeit darauf vorbereitet haben.« Neugründungen werden vor allem von ehemaligen Partei- oder Gewerkschaftsfunktionären der Weimarer Republik vorangetrieben, die entweder im Ausland oder – wie der spätere Vorsitzende des DGBs, Hans Böckler – im innerdeutschen Exil den Nationalsozialismus überwinterten.
»Um die Wurzeln des Nationalsozialismus auszutrocknen, so die verbreitete Meinung bei den Gewerkschaftern, braucht es die Ausbreitung des Gemeinwohls – und dazu gehört umfassende Mitbestimmung.«
Viele der Gewerkschaftsorganisationen, die 1945 entstehen, sind aufgrund von Reisebeschränkungen, völlig zerstörter Post- und Telefonleitungen und ohne Zeitungen, voneinander isoliert. Schaut man auf deren Selbstverständnis, teilen die meisten aber zwei Positionen. Erstens favorisiert die Mehrheit das Konzept der Einheitsgewerkschaft. Perspektivisch sollen also alle Branchen und Berufe in eine Gewerkschaft integriert werden, mit einer Abteilung je Industrie und einer gemeinsamen Streikkasse. Die endlosen Richtungsstreits der Weimarer Republik will man hinter sich lassen.
Zwar gab es dort den mächtigen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, der eng an den Zentrumsflügel der Sozialdemokratie gebunden war. Aber Arbeiter und Angestellte organisierten sich insgesamt in über fünfzig Gewerkschaften, die sich anhand ihrer politischen Ziele und Strategien unterschieden und mitunter in die Quere kamen. Dass die zersplitterte Gewerkschaftsbewegung ein Einfallstor für die Machtübernahme der Nazis war – wie es der viel zitierte Ausruf »Schafft die Einheit!« von Wilhelm Leuschner kurz vor seiner Hinrichtung auf den Punkt bringt –, ist eine verbreitete Deutung in den Debatten der Neugründungen nach 1945.
Zweitens teilen alle einen antifaschistischen Konsens, der in den Programmen mit der Forderung nach einer Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise verbunden wird. Um die Wurzeln des Nationalsozialismus auszutrocknen, so die verbreitete Meinung bei den Gewerkschaftern, braucht es die Ausbreitung des Gemeinwohls – und dazu gehört umfassende Mitbestimmung über das Womit und Wofür der Industrieproduktion, eine Ausrichtung der Wirtschaft an den Bedürfnissen der Bevölkerung, Aufteilung von Vermögen und so weiter.
So stellt wenig später der erste Kongress der bayerischen Gewerkschaften fest: »Die deutschen Gewerkschaften beginnen einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte. Aus dem Zusammenbruch der Weimarer Republik haben sie gelernt, daß eine demokratische Staatsverfassung und eine autoritäre Wirtschaftsverfassung unvereinbar sind. […] Die Gewerkschaften erklären im Namen der deutschen Arbeitnehmerschaft, daß diese nicht gewillt ist, für den Wiederaufbau des Kapitals im privaten Besitz zu arbeiten und zu hungern. Mit dem Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft muß deshalb die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln verbunden werden […].« Und auf der ersten sogenannten Interzonenkonferenz, bei der Gewerkschafter aus allen Zonen zusammenkommen, ist selbstverständlich, dass es ein Weiterso nicht geben kann.
Während aber im Osten die unabhängigen Gewerkschaftsgründungen zunächst begrüßt werden, schieben die Westalliierten diesen erst einmal den Riegel vor. Die Skepsis gegenüber dem deutschen Institutionalisierungseifer sowie die Furcht vor kommunistischem Einfluss dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Doch mit der neu gewählten Labour-Regierung und dem Trade Union Congress im Nacken lässt die britische und bald darauf auch die amerikanische Verwaltung ab Herbst 1945 wieder Gewerkschaften zu. Vorgesehen ist nun ein Modell, in dem von lokalen Versammlungen über den Entwurf von Satzungen bis hin zur Etablierung überregionaler Verwaltung und Mandatsträgern alles mit den Behörden abgestimmt werden muss. Für die Westalliierten ist dabei klar: Die von vielen anvisierte Einheitsgewerkschaft wird es nicht geben.
»Bei der neuen Gewerkschaftsspitze, die von den Westalliierten legitimiert wird, den Organisationsaufbau zu koordinieren, herrscht bald Pragmatismus vor.«
Das sehen auch viele westliche Gewerkschafter der World Federation of Trade Unions so, die ansonsten den schnellen Aufbau von Gewerkschaften unterstützen. Sie sind skeptisch gegenüber der Gründung einer stark zentralisierten Massenorganisation in Deutschland nach 1933. Noch im September 1945 protestieren zwar Gewerkschaftsvertreter aus fünfzehn Städten gegen die Vorgaben, kommen aber in den Verhandlungen mit den Militärregierungen nicht weiter. Dort, wo ein sozialistisches Selbstverständnis stärker ist, wird weiter versucht, das Prinzip Einheitsgewerkschaft durchzusetzen, jedoch ohne Erfolg.
Bei der neuen Gewerkschaftsspitze, die von den Westalliierten legitimiert wird, den Organisationsaufbau zu koordinieren, herrscht bald Pragmatismus vor und man freundet sich mit der Idee einer Konföderation an. Nach und nach gründen sich bis Ende 1947 der Bayerische Gewerkschaftsbund, der Freie Gewerkschaftsbund Hessen oder der Allgemeine Gewerkschaftsbund Rheinland-Pfalz – alles Landesvertretungen von regionalen Branchengewerkschaften. Im britischen Sektor wird der DGB als Verband gegründet, den Hans Böckler anführt. Der französische Verwaltungsbereich handhabt den Aufbau zunächst restriktiver, schließt sich später aber dem Vorgehen der Briten und Amerikaner an.
Vor allem ältere Arbeiter, die bereits vor dem Krieg organisiert waren, werden nun Gewerkschaftsmitglieder, während Jüngere, Frauen und Arbeitslose kaum eingebunden werden. Dass damit relevante Gruppen fehlen, zeigt sich auch in den Zahlen: Bis 1948 sind in der britischen Zone 2.748.900 Beschäftigte organisiert (42,9 Prozent), 1.644.800 in der amerikanischen Zone (37,9 Prozent) und 385.300 in der französischen Zone (29,6 Prozent).
Hans Böckler spricht auf dem Gründungskongress. AdsD der FES, 6/FOTA068266
Der Osten hingegen schreibt seine eigene Geschichte, die einen gesonderten Artikel wert ist. Anders als im Westen wird dort die Einheitsgewerkschaft politisch gewollt. Bereits im Februar 1946 wird eine »Erste Allgemeine Delegiertenkonferenz des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes für das sowjetisch besetzte Gebiet« abgehalten und damit der Gründungskongress des FDGB. Dessen Vorstand gehören Mitglieder von KPD, SPD und auch CDU an.
Der FDGB wird in die Wirtschaftspolitik eng einbezogen, so etwa bei der Verstaatlichung von Großbetrieben. Doch je mehr das politische System auf Linie Stalins gebracht wird, umso mehr verliert auch der FDGB seine Rolle als unabhängige Interessenvertretung. »Das nannte sich dann damals Kampf gegen den Sozialdemokratismus«, beschreibt Historiker Stefan Müller die Situation, in der ab 1946 Sozialdemokraten und oppositionelle Kommunisten aus den Organisationen gedrängt und der Führungsanspruch der SED festgesetzt wurde.
Die Gewerkschafter in Ost und West teilen zunächst die Vision eines geeinten Deutschlands mit einer geeinten Gewerkschaftsbewegung. Aber die Fliehkräfte der beginnenden Polarisierung zwischen Washington und Moskau treiben auch die Einheitshoffnungen auseinander. Spätestens 1947 sind beide Gewerkschaftsführungen an zwei unterschiedliche Staatsprojekte gebunden, die Fronten verhärten sich und die gemeinsamen Treffen kommen zum Erliegen.
Für die Menschen wird in ihrem Alltag nun zunehmend offensichtlich, dass die Lasten nach dem Krieg nicht gleich verteilt sind. Viele kämpfen um das tägliche Brot, einigen geht es aber gar nicht schlecht. Zwar sind in der Nachkriegsverwaltung Löhne und Preise gedeckelt, um die Inflation auszubremsen, und ein Bezugsscheinsystem soll die Verteilung von Lebensmitteln regeln, aber die Versorgung mit Basisgütern stockt.
Das liegt vor allem daran, dass Unternehmer Waren und Betriebsmittel zurückhalten. Sie profitieren von einem Schwarzmarkt, auf dem man nahezu alles für einen fürstlichen Preis bekommen kann. Sie warten also ab, welche Richtungsentscheidungen für die Westzonen getroffen werden, in welchem Maß sie etwa für Kollaboration und Profite im Nationalsozialismus belangt werden. Einige Eigentümer sind wegen ihrer Rolle im nationalsozialistischen Staat untergetaucht oder interniert. Für die Wiedereröffnung der Betriebe spielen Betriebsräte eine wichtige Rolle, die in den Westzonen ab April 1946 wieder zugelassen werden, sie koordinieren Aufräumungsarbeiten und organisieren Rohstoffe und Aufträge.
Als »Wucher« und als »Hortung« wird die Strategie der Unternehmer gebrandmarkt – und zum zentralen Thema von Hungerdemonstrationen, Brotaufständen und gewerkschaftlichen Streiks. Denn nachdem Lebensmittelrationen und Bedarfsgüter immer wieder gekürzt werden, nehmen die Spannungen zu. So weigern sich die Ruhrbergarbeiter im Herbst 1946 Sonderschichten zu fahren. Immer wieder werden nun einzelne Betriebe bestreikt, wie bei der fünfwöchigen Arbeitsniederlegung bei Miele in Bielefeld.
»Betrachtet man die Forderungen jener Zeit, fällt auf, dass die Begründung, Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen, immer mehr von dem Motiv abgelöst wird, die eklatante Armut der Nachkriegsjahre zu bekämpfen.«
Im März und April 1947 demonstrieren Tausende in den westdeutschen Städten, mit einem Schwerpunkt der Proteste wiederum im Ruhrpott. Am 2. April 1947 wird dort auf der »Revierkonferenz Bergbau« ein Massenstreik beschlossen, denn, so steht es in der Begründung, »Zu dem seit Monaten andauernden Brotmangel ist nun noch das vollständige Fehlen von Kartoffeln, Nährmitteln und Fett hinzugekommen. Die Bergarbeiterfamilien stehen vor dem blanken Nichts«. Der »24-Stündige Generalstreik der Bergarbeiter« stellt daher folgende Forderungen auf:
»1. Beseitigung aller jener Personen in den Ernährungs- und Wirtschaftsämtern, die durch Unfähigkeit oder politische Böswilligkeit zu der jetzigen Katastrophe beigetragen haben. 2. Verwaltungen, Ämter und Behörden müssen mit demokratischen Kräften, vor allem mit Gewerkschaftsvertretern besetzt werden. 3. In allen Städten und Gemeinden sind sofort von der Gewerkschaft zu ernennende Kontrollausschüsse zu bilden. Durch diese ist eine gerechte Erfassung und Verteilung der vorhandenen Lebensmittel vorzunehmen. 4. In den Landgemeinden sind unverzüglich Hofkontrollen durch Ausschüsse, die von den Gewerkschaften zu bilden sind, vorzunehmen. [...] 5. Gegen Schwarzhändler und Schieber ist mit schärfsten Strafen vorzugehen.«
Betrachtet man die Forderungen jener Zeit nach Demokratisierung von Wirtschaft und Verwaltung der Besatzungszonen, fällt auf, dass die Begründung, Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen, immer mehr von dem Motiv abgelöst wird, die eklatante Armut der Nachkriegsjahre zu bekämpfen. So oder so scheinen Sozialisierung und Enteignungen aber bis ins konservative Lager hinein das Gebot der Stunde zu sein und gehören damals auch zum Selbstverständnis der westdeutschen Gewerkschaften. Der Historiker Stefan Müller ordnet den Wunsch nach Sozialisierung der Stahl-, Kohle- und Bergbauindustrie wie folgt ein:
»Das waren alles Unternehmen, die durchaus ganz gut verdient haben im Krieg, die sehr viele Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt haben. In diesen Branchen sollte es kein Privateigentum mehr geben. Zu diesem Zeitpunkt ging es dabei nicht einfach um Verstaatlichung, sondern um Körperschaften, die von Organisationen demokratisch geführt werden. Heute könnte man so etwas vielleicht vergleichen mit dem Prinzip der Industriekammer, der Handwerkskammer, oder dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.«
Bei dem Ziel einer demokratischen Kontrolle der Industrie geht es aber nicht um einen Sozialismus, wie er sich im Osten anbahnt, wo die Enteignung der Landwirte durch die Bodenreform in vollem Gange ist. »Wirtschaftsdemokratie« lautet stattdessen die Losung, ein altes sozialdemokratisches Konzept aus der Weimarer Republik, womit ein dritter Weg jenseits von Ost-Kommunismus und West-Kapitalismus eingeschlagen werden soll.
Wie erfolgreich dieses Konzept ist, spiegelt sich 1947 auch in Landesverfassungen wie der hessischen wider, in der CDU, KPD und SPD gemeinsam Sozialisierungsparagrafen festschreiben. Dazu befragt, stimmt eine große Mehrheit der Bevölkerung für die Umwandlung des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie, der Energiewirtschaft und des Verkehrswesens in Gemeineigentum. Später verabschieden auch andere Landesparlamente, wie in NRW, Gesetze zur Enteignung. Deren Umsetzbarkeit wird aber vor allem durch die Amerikaner gestoppt, die die Zuständigkeit bei dem noch zu gründenden Deutschen Bundestag sehen.
Doch so sehr sich die Gewerkschaftsführung in den Zeichen der Zeit bestätigt sieht, findet sie sich in den Verhandlungen mit Westalliierten über die Ausrichtung des neuen deutschen Staates in widersprüchlichen Koalitionen wieder. Die Not eines Großteils der Bevölkerung vor Augen, machen die Sozialisierungsforderungen realpolitischen Kompromissen zur unmittelbaren Anhebung des Lebensniveaus Platz.
Exemplarisch ist das Thema der Betriebsdemontagen. Nach den ersten Plänen der Alliierten sollte die Produktion auf 55 Prozent des Niveaus von 1938 begrenzt werden, wodurch 1.800 Betriebe vernichtet würden. Zusammen mit den Betriebseigentümern verhandeln die Gewerkschaftsvertreter eine Reduzierung des Abbaus auf 682 Betriebe. Auch die Wiederherstellung von Koalitionsfreiheit, betrieblicher Mitbestimmung, Arbeitsgerichtsbarkeit und die schrittweise Einführung von Tarifverhandlungen ab 1948 zählen sie als ihre Erfolge. Gleichzeitig müssen sie jedoch immer wieder die Instandsetzung von Privateigentum und Marktbeziehungen hinnehmen, obwohl es ihren Programmen entgegensteht.
Auf der Straße spitzen sich die Proteste derweil weiter zu. Welche Rolle die Gewerkschaften darin spielen wollen, ist nicht klar. Führungsetage, örtliche Organisationen und betriebliche Vertreter verfolgen oft keine gemeinsame Strategie. Im Gegenteil, die Einheit scheint insbesondere an der Frage des Generalstreiks zu zerbrechen, nach dem an der Basis immer lauter gerufen wird. Deutlich wird dies in einer Rede Hans Böcklers in Wuppertal, einer Hochburg der KPD, in der er die Bergarbeiter von seinem Kurs überzeugen will. Zu heiß sind die Verhandlungen mit den Alliierten, zu risikoreich scheinen die Konsequenzen eines Generalstreiks. Er plädiert dafür, Produktionssteigerungen nicht zu gefährden, für Aufbau statt Abbruch.
»Der zweite große Generalstreik in Deutschland ist heute, anders als der Widerstand gegen den Kapp-Putsch von 1920 oder der Aufstand von 1953 in der DDR, nahezu vergessen.«
»Wir haben eine Reihe Teilstreiks gehabt. Ich habe sehr viel Verständnis für Aktionen, die da spontan entstehen, weil die Not allmählich einen unerträglichen Umfang angenommen hat. Und ich habe es auch den Deutschen wie den militärischen Stellen gegenüber immer und immer vermieden, solche Aktionen etwa zu verurteilen [...]. Aber wenn nun immer und immer wieder der Gedanke auftaucht, Generalstreik, dann muss ich mich und müssen sich mit mir alle Verantwortlichen fragen, welches sollte der Zweck sein und was kann künftig denn bestenfalls als Ergebnis herauskommen. Und da haben glücklicherweise die meisten unserer Kollegen in Nordrhein-Westfalen bislang begriffen und sie werden es auch weiterhin festhalten, dass der größte Streik uns noch nicht ein einziges Korn, nicht ein einziges Stück Brot mehr bringt. Ich habe verschiedentlich die Kollegen gefragt, wer soll Generalstreiken? Soll das Verkehrswesen Generalstreiken? Sollen die Bäcker, sollen die Metzger, sollen die, die für unseren Nahrungsmittelbedarf in allererster Linie in Frage kommen, sollen die mit in den Generalstreik treten? Darauf wurde mir hier in Wuppertal, die höchst blöde Antwort gegeben, und wenn wir alle verrecken, dann sollten wir schon alle zugrunde gehen!«
Darauf folgen harte Wortgefechte, doch Hans Böckler hält an seiner Position fest. Stärkere Befugnisse in der Wirtschaftspolitik bekommen die Gewerkschaften nur durch legale Verhandlungen mit den Alliierten. Stefan Müller ordnet dies ein: »Das eine ist, dass Hans Böckler und die spätere DGB-Führung natürlich wussten, wenn sie bestimmte Ziele durchsetzen wollten, müssen sie einerseits die Machtmittel haben, um auch mit so etwas wie Generalstreik drohen zu können. Sie müssen aber auch gleichzeitig in der Lage sein, die eigene Mitgliedschaft dann ein Stück weit wieder unter Kontrolle zu halten.«
In dem Zögern 1947 sieht er dabei auch ein Erbe von 1933, also von dem Jahr, in dem »die Gewerkschaften ohne Kampf in die Niederlage gegangen sind«. Denn statt auf einen großen gewerkschaftlichen Abwehrkampf setzten die Gewerkschafter damals auf eine Anpassungsstrategie. Zwar gab es damals auch andere Stimmen, aber bei der Mehrheit überwog die Hoffnung, »dass man als politisch neutrale Organisation im neuen Staat, wie das damals formuliert wurde, überleben könne«. Entgegen der späteren Realität glaubte man, zu groß und stark zu sein, als dass die Nazis die Organisation zerstören könnten. Die bittere Erfahrung des Gegenteils mache sich nach 1945 »in einem geringeren Selbstbewusstsein bemerkbar und in einem starken, ich nenne das mal Institutionalismus. Also das Setzen darauf, dass einfach die organisatorische Stärke ausreicht, um Gewicht einzubringen in die politischen Verhandlungen in der Besatzungszone und dann auch in der jungen Bundesrepublik«.
Der 1. Mai auf dem Neuen Schloßplatz in Stuttgart, 1948. Bild: Wikimedia / Bundesarchiv Bild 183-19000-1811
Als 1948 die Situation unverändert ist, Sozialisierungsvorhaben und Gesetze zur Beschlagnahmung von Waren und Produktionsmitteln angekündigt, aber nicht konsequent umgesetzt werden, erreichen die Proteste ein neues Ausmaß. So folgen im Januar 1,3 Millionen Beschäftigte dem Aufruf des Bayrischen Gewerkschaftsbundes zu einem 24-Stunden-Streik. Doch eine regionenübergreifende gewerkschaftliche Koordination kommt weiterhin nicht zustande, eine einheitliche Strategie fehlt noch immer. Vereinzelt geben Gewerkschafter dem Unmut einen Ausdruck, wie beim »Hungermarsch zu Lingham« in Hannover, bei dem 200 Betriebsräte der Metallindustrie sich »mit Ministerpräsident Kopf an der Spitze zum britischen Gebietsbeauftragten Brigadier Lingham begaben, um gegen die fortdauernden Brotkürzungen in Niedersachsen zu protestieren«, wie die Hannoversche Presse damals schreibt. Doch an anderen Stellen distanzieren sich die Gewerkschafter oder versuchen die Proteste zu entschärfen, die Verbindung bleibt widersprüchlich.
Der Kalte Krieg ist mittlerweile in vollem Gange. Aus Hoffnung auf einen schnellen Wiederaufbau stimmt die Gewerkschaftsspitze dem Marshall-Plan zu. Sie wollen aber die Kreditvergabe an Bedingungen knüpfen. Im selben Zeitraum erlässt der mittlerweile an der Spitze des Wirtschaftsrates stehende Ludwig Erhard die Währungsreform zur Einführung der Deutschen Mark – mit der Folge einer harten Abwertung aller Geld-Ersparnisse, wodurch »die normalen Leute einfach ihre alten Reichsmarkbestände wegschmeißen konnten«, so Müller.
Die Tatsache, dass Sachwerte und Produktionsmittel gleichzeitig verschont bleiben, gibt der Hortungs-Strategie vieler Unternehmer im Nachhinein recht. Während die meisten Löhne bis Oktober 1948 weiterhin einer Deckelung der Zonenverwaltung unterliegen, wird der Preisstopp aufgehoben. Dadurch kommt es zum berühmten »Schaufenster-Effekt«: Übernacht sind die Warenauslagen plötzlich voller herrlicher Dinge, die sich aber niemand leisten kann.
»Für viele war die Gründung des DGB damals ein organisationspolitischer Erfolg gegenüber der Zersplitterung in der Weimarer Republik, der aber mit Makeln gekennzeichnet ist.«
Die Wut kennt nun keine Disziplin mehr. Überall werden Urabstimmungen zu Streiks abgehalten, spontan entstehen Hungerrevolten, die auch in Plündereien münden. Berühmt geworden sind die Stuttgarter Tumulte, an der sich 50.000 Demonstrierende beteiligten. Nach offiziellem Ende der Gewerkschaftskundgebung schlagen einige von ihnen beim Modehaus Stahl die Scheiben ein und liefern sich eine Schlägerei mit der Polizei. Es kommt zu Verhaftungen und hohen Haftstrafen.
Hans Böckler verhandelt nun intensiv mit der Militärregierung über die Legalisierung eines Generalstreiks, der schließlich am 12. November 1948 ausgerufen wird. Da für die französische Zone weiterhin Streikverbot herrscht, wird nur für die britische und amerikanische Zone ein übergreifender Generalstreik für 24 Stunden gestattet. Bedingung dafür ist die Unterlassung politischer Forderungen und die Streikform »Arbeitsruhe« – die Streikenden dürfen also nicht auf die Straße gehen, wodurch man eine Wiederholung der Stuttgarter Vorfälle zu vermeiden versucht. Am 12. November bleiben daher über 9 Millionen Beschäftigte (von insgesamt 11,7 Millionen) zu Hause. Der zweite große Generalstreik in Deutschland ist heute, anders als der Widerstand gegen den Kapp-Putsch von 1920 oder der Aufstand von 1953 in der DDR, nahezu vergessen.
Der Erfolg dieser Konfliktstrategie ist nicht eindeutig. Doch in Reaktion lässt Ludwig Erhard Pläne der schnellen Marktliberalisierung fallen und popularisiert den Terminus der sozialen Marktwirtschaft. Er wird zum Aushängeschild einer Wirtschaftspolitik, die beim Kapitalismus bleiben, aber den freien Markt beschränken will. Dafür kann auch das »Jedermann-Programm« stehen, das in dieser Zeit eingeführt wird. Dieses beinhaltet eine Art sekundäre Wirtschaftsplanung, wonach Unternehmen, die sich freiwillig einer Preis- und Qualitätsbindung unterwerfen, bevorzugt Ressourcen aus dem Marshall-Plan erhalten.
Fast ein Jahr später und vor genau 75 Jahren ist es dann so weit: Der westdeutsche DGB wird in München gegründet. Prächtig prangt das Selbstverständnis als »Parlament der Arbeit« über den 487 Delegierten. Zum vorläufigen Ende kommt an dieser Stelle die widersprüchliche Institutionalisierung der aufflammenden Arbeiterbewegung der deutschen Nachkriegszeit, die von Spannungen zwischen Basis und Führung, dem Wunsch einer unmittelbaren Verbesserung der Lebensumstände und der harten Konfrontation mit dem Kalten Krieg geprägt ist.
Das Konzept der Einheitsgewerkschaft ist einem föderalen Bund von sechzehn Branchengewerkschaften gewichen, die alle Strömungen politisch integrieren wollen, vor allem in der Führungsetage aber eng an die SPD gebunden sind. Für viele war die Gründung des DGB damals ein organisationspolitischer Erfolg gegenüber der Zersplitterung in der Weimarer Republik, der aber mit Makeln gekennzeichnet ist. Denn die Losung »eine Gewerkschaft, ein Betrieb« geht nicht ganz auf.
»Die Forderung nach Vergesellschaftung wurde letztendlich zu einem Papiertiger.«
Für Berufe der öffentlichen Daseinsfürsorge sind mit ÖTV, GEW, GdEP und DPG allein vier Gewerkschaften zuständig, deren verschiedene Traditionen nicht in einem Haus vereinigt werden konnten. Außerdem gelang es nicht, Beamte und Angestellte in den DGB von 1949 zu integrieren – sie gründeten eigene und zum Teil bis heute konkurrierende Gewerkschaftsföderationen. Und schließlich war im föderativen Modell von Beginn an ein Spannungsverhältnis über den Kompetenzbereich zwischen DGB und den Einzelgewerkschaften angelegt, die letztlich zu einer Machtzentrierung bei den mitgliederstarken Einzelgewerkschaften führte. In der Zusammensetzung der Delegierten wurde außerdem die Schieflage der gewerkschaftlichen Repräsentanz deutlich: Nur vierzehn Frauen sind anwesend und nur ein Drittel ist unter fünfzig Jahre alt, was in großer Diskrepanz zur damaligen Bevölkerung steht.
Sowohl die Positionierung gegen Krieg und Faschismus als auch die Vision einer Demokratisierung der Wirtschaft werden 1949 ins Münchner Grundsatzprogramm geschrieben. Nur eine Strategie, wie man die Industrie in kollektive Verfügung bringen will, fehlt.
Einerseits sind die Hoffnungen auf einen Wahlsieg der SPD für den ersten Bundestag im August geplatzt. Der Wind in der Politik hat sich gedreht und die CDU ihr kurzzeitiges Projekt eines christlichen Sozialismus beendet. Für die neue Regierung verspricht Arbeitsminister Anton Storch zwar am Gründungstag noch eine »Neuordnung der Besitzverhältnisse in den Grundindustrien«, hat dann aber andere Sorgen.
Doch andererseits ist Adenauer für den Preis der Westbindung zu gewissen Zugeständnissen bereit. Als 1950 der Konflikt in der Montanindustrie eskaliert und als Protestmittel tausende Beschäftigte kündigen, verhandelt Hans Böckler für die Beschäftigten der Stahl- und Bergbauunternehmen das bis heute einzige paritätische Mitbestimmungsrecht in Aufsichtsräten der Industrie. Dabei ist es aber geblieben: Die Forderung nach Vergesellschaftung wurde letztendlich zu einem Papiertiger.
Die gesellschaftliche Situation, mit der die Gewerkschaften sich in den 1950er Jahren konfrontiert sahen, unterscheidet sich von unserer in vielerlei Hinsicht. Die Industrie ist geschrumpft oder ins günstigere Ausland verlagert, nur noch eine Minderheit der Beschäftigten bekommt gute Tariflöhne, weltweit wächst die Polarisierung von Arm und Reich in nie dagewesenem Ausmaß. Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte, aber auch die sich anbahnende Klimakrise, bringen Debatten um eine demokratische Planwirtschaft, auch im Geist der Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit, zurück auf den Tisch. Gewerkschaften sind dabei unersetzlich, zeigen sie doch, dass Politik nicht am Werkstor oder der Bürotür stehen bleibt.
Eine gekürzte Radioversion dieses Artikels lief zuerst bei Deutschlandfunk Kultur. Dort sind einige der Quellen im Original zu hören.
Jonas Ochsmann beschäftigt sich mit Gewerkschafts- und Klassenpolitik, momentan als Visiting Researcher am European Trade Union Institut in Brüssel.