06. Dezember 2024
Gerade wo die Linke sich erneuern will, wird sie in einen verfrühten Wahlkampf hineingezogen. Ihre Zukunft hängt jedoch weniger davon ab, was am Wahltag passiert, als vom Parteiumbau danach.
Es steht viel auf dem Spiel: Da sie in den Umfragen gerade zwischen 2 und 4 Prozent liegt, droht die Bundestagswahl die Linke in die außerparlamentarische Bedeutungslosigkeit zu verbannen.
Nur wenige Wochen, nachdem Ines Schwerdtner und Jan van Aken auf einem Parteitag voller Good Vibes den Parteivorsitz der Linken übernommen haben, entdeckt Olaf Scholz offenbar seinen inneren Sozialdemokraten, bricht mit der auf Austerität versessenen FDP und löst damit viel früher als erwartet den nächsten »Stärketest« aus. Die neue Führung hatte geplant, die kommenden Monate damit zu verbringen, an 100.000 Türen zu klopfen, sich die Erwartungen und Enttäuschungen der Menschen anzuhören, und auf dieser Basis eine Umorientierung und einen Umbau der Partei in Gang zu setzen. Stattdessen müssen sie sich sofort in den Wahlkampf stürzen – mit mehr oder weniger den gleichen Strukturen, die bei der Europawahl im Juni 2,7 Prozent einstecken mussten.
Es steht viel auf dem Spiel: Da sie in den Umfragen gerade zwischen 2 und 4 Prozent liegt, droht die Bundestagswahl die Linke in die außerparlamentarische Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Das wäre eine schmachvolle Niederlage für eine Partei, die vor knapp zwei Jahrzehnten sowas wie ein linker Leuchtturm für den ganzen Kontinent war. Es ist heute schwer vorstellbar, aber 2008 könnte ihr Erfolg, linke Sozialdemokratinnen, Ex-Kommunisten und eine Handvoll progressive Grüne zu einer neuen parlamentarischen Kraft zu vereinen, sogar Jean-Luc Mélenchons kurzlebige Parti de Gauche inspiriert haben, die 2016 in der weitaus erfolgreicheren Partei La France Insoumise aufging. Jahrelang spielte die Linke eine dominante Rolle in der (jetzt ebenso krisengeschüttelten) Partei der Europäischen Linken und war entscheidend für die Förderung anderer aufstrebender Formationen wie der slowenischen Linkspartei Levica, die derzeit Juniorpartnerin in einer Mitte-Links-Regierung ist.
»Hausgemachte Probleme lassen sich nicht mit Rezepten aus der Nachbarsküche lösen. Nur mit einer Klärung strategischer Grundfragen, die seit der Gründung ausbleibt, kann die Partei zu neuer Stärke finden.«
Heute scheint sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie umgekehrt zu haben. Sei es der Trend, jedem zweiten Slogan ein »der Vielen« hinzuzufügen, in der Hoffnung, etwas von Jeremy Corbyns Meme-Magic einzufangen, oder die jüngste Nachahmung kleinerer kommunistischer Schwesterparteien – seit Jahren durchkämmen Funktionäre der Linkspartei und ihr nahestehende Intellektuelle die internationale Linke nach einer schnellen Lösung für ihre strategische Malaise, meistens ohne den erhofften Erfolg. Denn hausgemachte Probleme lassen sich nicht mit Rezepten aus der Nachbarsküche lösen. Nur mit einer Klärung strategischer Grundfragen, die seit der Gründung ausbleibt, kann die Partei zu neuer Stärke finden.
Die Linke wurde, wie viele ihrer Geschwister unter den Parteien der »Neuen Linken«, in den 2000er Jahren auf einer Plattform gegründet, die in erster Linie in Opposition bestand – gegen die Hartz-Reformen, gegen die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik und gegen die völkerrechtswidrigen und zerstörerischen Kriege, die der Westen gegen den Irak und Afghanistan führte. Wofür sie sich einsetzte, geschweige denn, wie sie an ihre Ziele gelangen sollte, blieb eine offene Frage (und ist es in vielerlei Hinsicht noch heute).
Die beiden Ursprungsparteien kamen von sehr unterschiedlichen Erfahrungen her – die ehemaligen Sozialdemokraten der WASG hatten gerade eine Regierungspartei verlassen, die ihrer Meinung nach ihre lang gehegten Prinzipien verraten hatte. Jede neue linke Partei würde diesen Verrat scharf kritisieren müssen. Die Ex-Kommunisten der PDS hingegen hatten fünfzehn Jahre damit verbracht, sich von den Missständen des real existierenden Sozialismus zu distanzieren, und nicht wenige von ihnen wären vielleicht der Sozialdemokratie beigetreten, wenn man sie genommen hätte. Mit der SPD zu regieren, wie es die PDS damals in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern tat, hatte sich zumindest in der Praxis, wenn auch nicht in der Theorie, als Horizont ihrer politischen Ambitionen herauskristallisiert.
Diese Kluft zu überbrücken, würde sich unweigerlich als schwierig erweisen. Doch (dankenswerterweise) löste sich die Frage, wie die Linke mit dem Rest der linken Mitte zusammenarbeiten sollte, in der Praxis zunächst dadurch, dass SPD und Grüne sich weigerten, sie als potenziellen Partner zu betrachten. In der Zwischenzeit versuchte Oskar Lafontaine, eine politische Antwort in Form seiner »roten Haltelinien« zu formulieren, die Mindestanforderungen an eine Regierungsbeteiligung stellten. Es ist kein Zufall, dass die Partei in dieser Zeit den Höhepunkt ihres politischen Einflusses erreichte, da sie als einzige relevante soziale Opposition gegen die Marktbegeisterung der roten, grünen, schwarzen und gelben Parteien fungierte. Die Linke zog in einen Landtag nach dem anderen ein und erlangte in wenigen Jahren eine parlamentarische Präsenz, die in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Verankerung und organisatorischen Reife stand.
»Genau zu dem Zeitpunkt, als die junge Partei fähige, enthusiastische Führungspersönlichkeiten an der Basis gebraucht hätte, um Strukturen aufzubauen und eine lebendige politische Kultur zu entwickeln, wurden viele ihrer Besten und Klügsten in den parlamentarischen Apparat gezogen.«
Diese Konstellation würde jedoch nicht von Dauer sein, wie der überraschende Rücktritt Lafontaines vom Parteivorsitz im Jahr 2010 klarmachte. Der Vormarsch der Partei bei den Wahlen kam zum Stillstand und mündete bald in einen langen, langsamen Rückzug. Doch die Partei fand keine gemeinsame Antwort auf die Situation. Keine Figur unter Lafontaines und Gysis Nachfolgerinnen und Nachfolgern erwies sich als fähig, die Partei um eine gemeinsame Strategie herum zu vereinen. Die Linke driftete in einer Serie von wechselnden Allianzen zwischen rivalisierenden Fraktionen mit teils sehr unterschiedlichen politischen Vorstellungen durch das nächste Jahrzehnt, zunehmend zusammengehalten von den Routinen und Strukturen des Parlaments selbst.
Man kann nicht umhin, sich zu fragen, ob der frühe Erfolg für die Linke nicht eher ein Fluch war: Denn genau zu dem Zeitpunkt, als die junge Partei fähige, enthusiastische Führungspersönlichkeiten an der Basis gebraucht hätte, um Strukturen aufzubauen und eine lebendige politische Kultur zu entwickeln, wurden viele ihrer Besten und Klügsten in den parlamentarischen Apparat gezogen, oft zu Lasten des Parteiaufbaus vor Ort. Die Linke war zwar kurzzeitig die Partei mit den drittmeisten Mitgliedern in Deutschland, davon waren aber überproportional viele bereits in Rente. Von Anfang an war klar, dass die Linke ohne eine ernsthafte Arbeit am Parteiaufbau schnell an Dynamik verlieren würde.
Natürlich ist das Parlament in jeder kapitalistischen Demokratie ein entscheidender Schauplatz der politischen Auseinandersetzung – aber es ist ein Schauplatz, der von Natur aus gegen alle Kräfte voreingenommen ist, die versuchen, die Interessen der arbeitenden Mehrheit gegenüber denen der besitzenden Eliten durchzusetzen. Deshalb haben sozialistische Parteien historisch stets Wahlkampf mit der Organisierung am Arbeitsplatz und in den Gemeinden verbunden, um gesellschaftliche Machtressourcen zu entwickeln, die sie einsetzen können, um ihre Position innerhalb und außerhalb des Parlaments zu stärken. Regierungen können eine parlamentarische Abstimmung oder sogar einen Volksentscheid leicht umgehen, wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen vor wenigen Jahren gezeigt hat. Eine dauerhafte Massenorganisation, die mit Streiks und gesellschaftlichen Mobilisierungen drohen kann, lässt sich nicht so einfach ignorieren.
»In Ermangelung einer greifbaren Alternative dominiert parlamentarischer Pragmatismus, gepaart mit einem abstrakten Verbalradikalismus und trendiger Kulturpolitik – ein Spiegelbild der sich verändernden Zusammensetzung der Mitgliedschaft.«
Diese Art von Doppelstrategie wurde von der Linkspartei nie ernsthaft verfolgt, zumindest nicht in kohärenter Form. Ihre parlamentarische Arbeit entwickelte schnell ein Eigenleben, und auch innerhalb der Partei entstand nie eine einheitliche Vision für den Parteiaufbau. Viele der gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Partei hatten wahrscheinlich von vornherein wenig Interesse an einer solchen Strategie, aber sie hatten auch ein schlagendes Argument auf ihrer Seite: Der Eintritt in Regierungskoalitionen war viel unmittelbarer und greifbarer als die abstrakte Aussicht, Klassenmacht außerhalb des Staates aufzubauen. Wie sollte ein solcher Aufbau in der Bundesrepublik, wo die radikale Linke seit den 1950er Jahren nur noch ein Randdasein fristet, überhaupt aussehen?
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Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.