23. November 2022
Die WM in Katar ist kein Ausreißer, sondern die logische Konsequenz der aggressiven Kommerzialisierung des Fußballs. Ein Sieg für große Unternehmen und autoritäre Regime, eine Tragödie für Fans und Arbeiter.
Eröffnungszeremonie in Katar, am 20. November 2022.
IMAGO / Ulmer/TeamfotoEigentlich unterscheidet sich die diesjährige Fußball-WM in Katar gar nicht so sehr von ihren Vorgängern, wie es scheint. Autoritäre Regime nutzen das Turnier schon lange, um ihr Image aufzupolieren. Der goldene Glanz des Pokals wird immer wieder instrumentalisiert, um über Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Machtmissbrauch hinwegzutäuschen.
Benito Mussolini hatte die Weltmeisterschaft 1934 nach Italien geholt, um eine Art Festival des Faschismus zu veranstalten. 1978 fand das Turnier in Argentinien statt, während Jorge Rafael Videla und seine rechtsradikale Militärjunta einen schmutzigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führten und Zehntausende Argentinier ihr Leben ließen. Das Finale fand damals im Estadio Monumental statt, nur wenige Blocks von einer Marineschule entfernt, in der politische Gefangene gefoltert wurden. Überlebende erklärten später, sie hätten die Jubelrufe des Publikums bis in ihre Zellen hören können.
2018 war Russland Ausrichter der Weltmeisterschaft – trotz gut dokumentierter Fälle von Menschenrechtsverletzungen, diskriminierenden Gesetzen gegen die LGBTQI-Community und Wladimir Putins zunehmend radikalerem Autoritarismus. Vier Jahre später, während Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, schließt die FIFA das russische Nationalteam aus allen Wettbewerben aus. Auf Fotos von 2018, auf denen der FIFA-Präsident Gianni Infantino mit einem dümmlichen Grinsen neben Putin das WM-Finale im Moskauer Luschniki Stadion verfolgt, kann man die moralische Verkommenheit des Weltfussballverbands förmlich greifen.
Wie im Falle Katars waren all diese Turniere von Korruptionsvorwürfen begleitet. Die Ungerechtigkeiten, die im Zuge der diesjährigen Weltmeisterschaft ans Licht kamen, scheinen ungeheuerlich – die systematische, oft tödliche Ausbeutung von Arbeitsmigranten, der Vorwurf der Zwangsarbeit, willkürliche Festnahmen und die Kriminalisierung von Homosexualität. Sie reihen sich ein in eine lange Liste von Vergehen, die die Mächtigen des Fussballs geflissentlich übersehen.
»Neben Katars Reichtum lässt sich kaum ein weiterer Grund dafür ausmachen, wieso die FIFA all das geschehen ließ.«
Und trotzdem hat die WM in Katar 2022 den Fussball verändert. Die Entscheidung der FIFA von 2010, zwei aufeinanderfolgende Weltmeisterschaften in Russland und Katar auszurichten, kostete viele der einflussreichsten Funktionäre des Weltfussballverbands ihre Posten. Von den 22 Funktionären, die sich damals an der Abstimmung beteiligt hatten, wurde anschließend gegen 16 wegen Korruption oder unlauteren Machenschaften ermittelt (auch wenn sich nicht alle Verfahren direkt auf den Vergabeprozess bezogen).
Der Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter, Infantinos Vorgänger, sah sich 2015 gezwungen, zurückzutreten – nach siebzehn Jahren als mächtigster Mann des Fussballs. Michel Platini, ehemaliger UEFA-Präsident, Jack Warner, vormaliger FIFA-Vizepräsident und Jerome Valcke, einst Generalsekretär des Weltfussballverbands, gehören ebenfalls zur Riege der Gescheiterten dieser Dekade.
Durch diese Verfahren ist das Ausmaß der Korruption, das den dubiosen Vergabeprozess der WM prägt, an eine breite Öffentlichkeit gelangt. Sie verdeutlichten, wie stark das Geld den moderne Fussball prägt. Und dennoch ist die öffentliche Empörung über die Skandale des Weltfussballverbands Teil einer größeren Geschichte.
Als die Wahl zum Gastgeber des Turniers auf Russland fiel, war die Aufregung groß – insbesondere, nachdem 2013 homophobe Gesetze erlassen wurden und ein Jahr darauf der Angriff auf den Donbas und die Annexion der Krim erfolgte. Im Falle Russlands konnte die FIFA ihre Entscheidung jedoch noch entlang der Logik des Sports begründen: Russland hatte als Teil der Sowjetunion große Spieler und Mannschaften hervorgebracht, einmal das WM-Halbfinale und drei Mal das Viertelfinale erreicht. Die nationale Liga zieht viele Fans an und mit dem Champions League Finale 2008 in Moskau hatte das Land bereits bewiesen, dass es in der Lage ist, große internationale Fussballspiele auszutragen.
Dass die Kritik gegen Katar 2022 deutlich schärfer ausfällt, mag auch daran liegen, dass es der FIFA nicht gelungen ist, neben finanziellen Aspekten glaubhafte Argumente dafür vorzulegen, weshalb der Wüstenstaat zum Austragungsort der WM ernannt wurde. Nach einem Jahrzehnt, in dem Menschenrechtsorganisationen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass Arbeitsmigranten in der sengenden Hitze ums Leben kommen, ist es tragisch und surreal zugleich, dass Katar die Ausschreibung mit dem Versprechen gewann, Klimaanlagen innerhalb der Stadien anzubringen. So könne das Turnier wie gewohnt im Juni und Juli stattfinden, hieß es damals. Dass Fans vor und nach den Spielen trotzdem über 40 Grad Außentemperatur ertragen müssen, wurde nicht erwähnt.
2015 entschied die FIFA schließlich doch noch, die Spiele in den Winter zu verlegen, um Spieler und Fans zu schützen. Es bestätigte sich, was den meisten längst klar war: Das zentrale Argument, das für Katars WM-Bewerbung vorgebracht wurde – nämlich ein Turnierstart im Sommer – war völlig unrealistisch. Vor dem Turnier im eigenen Land, das dem Gastgeber eine Teilnahmegarantie sichert, hatte sich die Nationalmannschaft Katars noch nie für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Die heimische Liga hat kaum Fans und der Großteil der Fussball-Infrastruktur musste von Grund auf neu gebaut werden – ein Großprojekt, bei dem viele Arbeiter verletzt wurden oder verstarben.
Selbst Sepp Blatter, der nicht unbedingt für sein Reflexionsvermögen bekannt ist, gab zu, dass das Turnier »ein Fehler« und »eine schlechte Entscheidung« gewesen sei, weil »der Fussball und die Weltmeisterschaft zu groß« für das Land seien, nicht etwa, weil dort menschenunwürdige Arbeitsbedingungen vorherrschen. Neben Katars Reichtum lässt sich kaum ein weiterer Grund dafür ausmachen, wieso die FIFA all dies geschehen ließ.
Nie war der Einfluss des Geldes auf das Spiel größer. Zum ersten Mal in der Geschichte findet die Weltmeisterschaft im November und Dezember statt, was für enorme Verwerfungen im Kalender der Fussballvereine sorgt. Viele nationale Ligen sahen sich gezwungen, früher in die Saison zu starten oder sie später zu beenden und möglichst viele Spiele in kurzer Zeit auszutragen. Erholungszeit für die Spieler gab es in diesem Jahr kaum.
»Jamie Carragher warf den Entscheidern der FIFA vor, die Spieler wie Vieh zu behandeln.«
Auch das Turnier selbst wurde verkürzt. 64 Spiele werden in 28 Tagen stattfinden. Zum Vergleich: In Russland 2018 und Brasilien 2014 dauerte das Turnier 31 Tage. Zeit für Vorbereitungsspiele gab es in diesem Jahr auch kaum. Außerdem müssen Spieler, die es mit ihrer Nationalmannschaft in die Endrunden des Turniers schaffen, sofort nach Turnierende zu ihren Klubs zurückkehren. Die Weltmeisterschaft und im Grunde die ganze Fussballsaison wurde vor unseren Augen völlig umstrukturiert.
Der überfüllte Terminplan kann deutliche Spuren an der Gesundheit der Spieler hinterlassen, die Wahrscheinlichkeit von leichten und schweren Verletzungen steigt mit jedem weiteren Spieltag. Jamie Carragher, ehemaliger Abwehrspieler von Liverpool und dem englischen Nationalteam, warf den Entscheidern der FIFA vor, die Spieler »wie Vieh« zu behandeln. Die internationale Spielergewerkschaft FIFPRO, kritisierte »den beispiellosen Workload, der schon vor dem Turnier auf den Profis lastete«. Es ist eine Binsenweisheit, dass es ohne die Fussballer, keinen Fussball gäbe. Und trotzdem hat der Weltfussballverband ein Turnier auf die Beine gestellt, das die Spieler, wie es im aktuellen Bericht der FIFPRO heißt, »dazu zwingt ein Arbeitspensum zu erbringen, das nicht nur ihre psychische und physische Gesundheit gefährdet, sondern sie auch dazu nötigt, ihre Fähigkeiten und Karriereaussichten aufs Spiel zu setzen«.
Selbst die Grundregeln für die Spieler auf dem Platz wurden gemäß dem Gastgeber der WM manipuliert. Betrachtet man die hohen Kosten für Flüge, Unterbringung und Tickets – eine Vielzahl von Berichten zeigt, dass Katar Influencer bezahlt hat, um künstlich Stimmung vor Ort zu erzeugen – wirkt diese Weltmeisterschaft eher wie eine Demonstration von Macht und Reichtum, die nur oberflächlich mit einem Fussballturnier verbunden ist.
Aber nochmal: Es ist wichtig, Katar 2022 nicht als singuläres Ereignis zu betrachten. Im Laufe der vergangenen Jahre haben die Superreichen konstant versucht, den Fussball im Sinne ihrer Interessen zu verändern. So hat sich die FIFA zwar schlussendlich den Kritikern gebeugt, aber Infantino und seine Mitstreiter haben bis zuletzt dafür gekämpft, die Weltmeisterschaft alle zwei Jahre austragen zu lassen.
Infantino hatte in einem denkbar stupiden Kommentar erklärt, ein zweijährliches Turnier würde neuen Gastgeberländern Chancen eröffnen und somit »vielen Afrikanern neue Hoffnung geben, sodass sie gar nicht erst das Mittelmeer überqueren müssten, um sich dort in Lebensgefahr zu begeben«.
In Wahrheit steckte etwas ganz anderes hinter dem Plan: Fernsehgelder, Lizenzen und Marketingrechte, die der FIFA einen Großteil ihres Einkommens bescheren. Mit der WM in Katar erwirtschaftet der Fussballverband über 6 Milliarden US-Dollar. Das wiederum erklärt, weshalb sich die Funktionäre so sehr dafür einsetzten, dass Turnier entgegen aller Kritik, die seit 2010 geübt wurde, stattfinden zu lassen. Die größte Menge des Umsatzes wird überall auf der Welt für »Entwicklungszwecke« eingesetzt. Für das tagespolitische Geschäft des Weltfussballverbands ist es somit von zentraler Bedeutung. Eine Verdopplung der Weltmeisterschaften auf ein Turnier alle zwei Jahre würde nicht nur den sportlichen Kalender auf der ganzen Welt ins Chaos stürzen, auch die Bedeutung des Turniers würde schwinden. Einzig der Verband selbst würde davon enorm profitieren.
»Für die Vergabe des Turniers im Jahr 2030 werden neben Griechenland und Ägypten auch Saudi-Arabien die größten Chancen ausgerechnet.«
Dasselbe gilt für den Versuch, eine Europäische Super League zu gründen. Die Eigentümer der zwölf reichsten und größten Klubs der Welt – die meisten von ihnen Milliardäre – wollten den europäischen Fussball unter sich aufteilen. Für den Fall, dass irgendjemandem die Motive derjenigen, die jahrhundertelange Geschichte, regionale Kultur und Wettkampf bis zur Unkenntlichkeit verändern wollten, zweifelhaft vorkommen würden, versicherte der Präsident des FC Barcelona und Verfechter der Super League Joan Laporta: »Für die Gründungsmitglieder winken ein einmaliger Bonus von 1 Milliarde Euro und anschließend rund 300 Millionen Euro pro Saison«. Der Präsident von Real Madrid, Florentino Perez, legte die Karten auf den Tisch, als er vorschlug, im Zuge der Super League die Spielzeit einer Fussballpartie auf unter 90 Minuten zu verkürzen, um mehr Publikum anzulocken. In ihrem endlosen Streben nach Profit ist diese kleine Elite bereit, die Regeln des Spiels neu zu schreiben.
So mag Katar 2022 zwar ein extremes Beispiel dafür sein, wie das Geld den Sport prägt, aber diese WM fügt sich in ein altbekanntes Muster ein. Der Fussball liegt schon lange in den Händen der Reichen, aber jetzt sind sie drauf und dran, ihn nach ihrem Willen so zu verändern, dass er kaum wiederzuerkennen ist. Es wäre keine Überraschung, wenn es in den kommenden Jahren weitere Winter-Weltmeisterschaften gäbe. Für die Vergabe des Turniers im Jahr 2030 werden neben Griechenland und Ägypten auch Saudi-Arabien die größten Chancen ausgerechnet. In Sachen Gerechtigkeit und Menschenrechte wäre dies ein weiterer Albtraum.
Es bleibt dabei. So lange die Funktionäre auf Geld aus sind, statt sich für ethische, soziale und sportliche Belange zu interessieren, werden die Reichen grundsätzliche Aspekte des Spiels verändern, bis es etwas völlig anderes geworden ist – etwas, in dessen Genuss nur noch ein paar wenige kommen.