13. September 2021
Grüne und SPD wollen regieren. Während sie sich zur Linkspartei abgrenzen, fassen sie die FDP mit Samthandschuhen an. Das ist gefährlich.
Anstatt offensiv für Rot-Rot-Grün zu werben, betonen SPD und Grüne lieber, was sie von der Linkspartei unterscheidet.
Nachdem eine schwarz-grüne Koalition lange als das einzige realistische Szenario gehandelt wurde, hat sich das Blatt nun wenige Wochen vor der Wahl gewendet: Deutschland-Koalition, Ampel, Jamaika oder Rot-Rot-Grün – sämtliche Koalitionsoptionen sind im Gespräch. Viele Linke hatten die Hoffnung auf ein rot-rot-grünes Bündnis schon aufgegeben, mittlerweile ist es in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt – leider vor allem in Form einer Rote-Socken-Kampagne von rechts.
Während die Linkspartei ziemlich souverän klarmacht, dass sie für eine Regierungsbeteiligung bereit wäre und Projekte benennt, die in einem rot-rot-grünen Bündnis umsetzbar wären, scheinen Teile von SPD und Grünen von der konservativen Panikmache erfasst worden zu sein – etwa wenn sie DIE LINKE immer wieder dazu auffordern, sich zur NATO zu bekennen. Dazu sei gesagt, dass der Austritt aus der NATO für die Linkspartei keineswegs eine Bedingung für eine Regierungsbeteiligung darstellt, sondern vor allem die Abrüstung und das Abweichen vom 2-Prozent-Ziel, was so auch die Grünen in ihrem Wahlprogramm fordern.
Die scharfen Angriffe erwecken den Eindruck, SPD und Grüne hätten mit der Linkspartei weniger gemeinsam als mit der FDP. Dass das nicht der Fall ist, zeigt ein Blick auf die zentralen Bereiche Wirtschaft, Arbeit und Soziales.
Wenn Christian Lindner sagt, dass er kaum inhaltliche Überschneidungen zu SPD und Grünen sieht, sollten sie ihn ernst nehmen. Auch wenn die FDP sich oft als progressive Partei inszeniert, ist sie das höchstens hinsichtlich gesellschaftspolitischer Fragestellungen, wie etwa der gleichgeschlechtlichen Ehe oder dem rechtlichen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Wenn es um Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik geht, vertritt sie klar die Interessen eines kleinen, sehr vermögenden Teils der Bevölkerung.
Unlängst haben verschiedene Wirtschaftsinstitute wie das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung oder das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung – denen man wirklich nicht vorwerfen kann, linke Propaganda verbreiten zu wollen – festgestellt, dass die FDP vor allem Reiche und Wohlhabende stark entlasten will. Da die FDP ebenfalls fordert, keine neuen Schulden aufzunehmen, wird Christian Lindner oft gefragt, wie er denn seine Vorhaben finanzieren will. Seine Antwort: »Man muss andere Prioritäten setzen«. Im Klartext heißt das: Sozialabbau und das Kaputtsparen der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Im Wahlprogramm der FDP finden sich keine Maßnahmen gegen den Niedriglohnsektor, was schlicht und ergreifend daran liegt, dass sie ihn nicht abschaffen will. Der Partei war die rot-grüne Agenda-Politik zu weich, weshalb Christian Lindner noch im Jahr 2017 eine »Agenda 2010 für ganz Europa« forderte. Doch was es jetzt stattdessen braucht, ist eine Rücknahme der Agenda 2010: Sichere Arbeitsplätze durch ein Ende von Befristungen und einen höheren Mindestlohn.
In ihrem Wahlprogramm äußern sich die Liberalen zu diesen Themen eher schwammig. Das ist verständlich, denn sie wissen genau, dass das, was sie in diesen Bereichen umsetzen wollen, bei der Mehrheit der Bevölkerung – der arbeitenden Klasse – kaum Zustimmung finden dürfte.
Bereits jetzt gefällt sich Christian Lindner in der Rolle des Königsmachers sehr gut. Es ist damit zu rechnen, dass er für die Ampel sehr große Zugeständnisse einfordern wird. Für Grüne und SPD wäre ein solches Bündnis mit einem weiteren Verlust ihrer Glaubwürdigkeit verbunden. Wir erinnern uns, welchen massiven Vertrauensverlust die gesamte politische Linke nach Rot-Grün erlebt hat.
In der Euphorie über die Möglichkeit einer Regierung ohne Beteiligung der CDU sollten wir als politische Linke in den Parteien, Jugendorganisationen und Bewegungen nun nicht kurzsichtig werden. Sonst stehen wir am Ende des Jahres mit einem Koalitionsvertrag da, der aufgrund der Durchsetzungskraft der Liberalen kaum sozialer ausfällt als der eines schwarz-grünen Bündnisses.
Die Tatsache, dass die Ampel schon jetzt als »progressives Bündnis« betitelt wird, birgt das Risiko, dass sich die Politik des progressiven Neoliberalismus verfestigt: Wenn die Führungsetagen von Unternehmen diverser besetzt werden, die Büros am Abend aber trotzdem migrantische Frauen für beschissene Löhne sauber machen müssen, gilt der »progressive« Anspruch als erfüllt. Wir kämpfen jetzt schon damit, dass Antirassismus und Feminismus marktkonform verwaschen werden. Mit einer Bundesregierung, die diese neoliberalen Ansätze als »progressiv« begreift, würde sich diese Tendenz nur noch weiter verschärfen.
Das Gute ist, dass wir als Linke nicht dazu verdammt sind, einfach nur zuzuschauen. Wir können Einfluss darauf nehmen, wie die nächsten Wochen verlaufen – sowohl in den Parteien als auch in der Öffentlichkeit. Zentral dabei ist, dass wir jede Möglichkeit nutzen, um die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen. Jetzt vor der Wahl und auch in der Zeit danach. Wenn uns das gelingt, wird es umso schwieriger, die soziale Frage in Sondierungs- und Koalitionsgesprächen auszublenden – Rückschritte in diesem Bereich hinzunehmen, wird dann nur schwer legitimierbar sein.
Die Herausforderung liegt dabei auch darin, dass es im Gegensatz zur Klimabewegung und dem großen zivilgesellschaftlichen Engagement im Bereich von Migration und Flucht keine ähnlich schlagkräftige Massenbewegung für soziale Gerechtigkeit gibt, die aus sich heraus massiven Druck ausüben könnte. Umso wichtiger ist es, dass alle linken Akteure jetzt soziale Gerechtigkeit einfordern – und sich später auch nicht abspeisen lassen, wenn die nächste Bundesregierung zwar einen früheren Kohleausstieg, aber keinen höheren Mindestlohn und kein Ende von Hartz IV umsetzen will.
Ja, auch mit einem rot-rot-grünen Bündnis ist nicht garantiert, dass es große soziale Fortschritte geben wird. Der Druck durch die Kapitalfraktion wird immens sein, und schon jetzt ist garantiert, dass große Unternehmen lautstark ankündigen werden, das Land zu verlassen, wenn etwa höhere Löhne oder eine gerechte Besteuerung gefordert werden.
Doch mit der FDP zu regieren heißt, sich die Klientelpartei der reichsten 5 Prozent an den Koalitions-Tisch zu holen, anstatt ein politisches Bündnis für die Interessen der großen Mehrheit einzugehen. SPD und Grüne müssen es sich nicht unnötig schwer machen: Ein linkes Reformbündnis ist möglich.
Sarah-Lee Heinrich ist Mitglied des Bundesvorstands der Grünen Jugend.
Sarah-Lee Heinrich ist ehemalige Bundessprecherin der Grünen Jugend und Aktivistin für soziale Gerechtigkeit.