08. November 2021
Neben den wesentlich bekannteren Jusos gibt es noch eine weitere sozialdemokratische Jugendorganisation: Die Falken, die seit über 100 Jahren auf die Selbstorganisierung junger Menschen setzen.
International-Falcon-Movement-Camp in Döbriach 1974.
Über die Jugendorganisationen der beiden großen Mitte-links-Parteien wurde in letzter Zeit viel berichtet. Die Jusos sind mit ihren 48 Abgeordneten – unter ihnen auch ihr ehemaliger Vorsitzender Kevin Kühnert – stark in der SPD-Fraktion im neuen Bundestag vertreten, während die Grüne Jugend droht, gegen die Ampelkoalition zu stimmen. Keine schlechten Nachrichten, erst recht wenn man bedenkt, dass die linke Opposition zur Ampel wesentlich schwächer sein wird als in der vergangenen Legislaturperiode.
Doch Verbalradikalismus gehört fast zur Tradition der Parteijugend in der Bundespolitik. Gerhard Schröder, der wie kein anderer Sozialdemokrat für die Neoliberalisierung seiner Partei steht, begann seine Karriere als prominentes Gesicht des »antirevisionistischen Flügels« der Jungsozialisten, der sich gegen parlamentarischen Reformismus und für eine Form des Rätesozialismus aussprach. Auch Olaf Scholz warb einst als stellvertretender Juso-Vorsitzender mit Leidenschaft für den Austritt Westdeutschlands aus der NATO und nahm an Versammlungen seiner ostdeutschen Genossinnen und Genossen der FDJ teil, die diese Position ebenso vertraten. Was von diesem jugendlichen Eifer geblieben ist, wissen wir.
Doch neben den viel prominenteren Jusos gibt es noch eine weitere Jugendorganisation, die der deutschen Sozialdemokratie nahesteht: die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken. Hervorgegangen aus der frühen Arbeiterjugendbewegung, versuchten die Falken, Kindern des städtischen Proletariats Freizeit in der Natur und Erholung zu ermöglichen und dies mit einer sozialistischen Ausbildung zu verbinden. Durch selbstorganisierte Ferienlager sollten sie dort auch ganz praktisch erlernen und erleben, was echte Demokratie und Selbstbestimmung bedeutet, um sie zu besseren Kämpferinnen und Kämpfern für ihre Klasse zu machen.
Die Welt, in der die Falken groß geworden sind, ist längst Vergangenheit, doch die Organisation besteht weiter fort und ist – im Vergleich zu ihren bekannteren Geschwistern – ihren sozialistischen Prinzipien treu geblieben. Wir sprachen mit zwei Falken über die Geschichte ihres Verbands und welche Rolle die Organisation heute spielt.
Woher kommen eigentlich die Falken?
GR: Die Falken wurden 1904 gegründet als eine Selbstorganisation von Lehrlingen in Berlin und zeitgleich – aber unabhängig voneinander – in Mannheim. Wir sind gleichzeitig auch eine Kinder-Organisation, die aus der Kinderfreunde-Bewegung stammt, die 1923 in Deutschland gegründet wurde, angeführt von Kurt Löwenstein. Diese Bewegung gab es schon länger in Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland eine Vereinigung vonstatten gegangen, woraus die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken entstanden sind. In Österreich blieben Kinder- und Jugendorganisation bis heute weiter getrennt.
MB: Dieser Zusammenschluss spiegelt sich immer noch bei den Falken wieder, denn obwohl wir in Vorständen und Gremien zusammenarbeiten, sind die meisten Gliederungen in einen Falken-Ring für Kinder bis 13 Jahre und einen Ring Sozialistische Jugend für Mitglieder ab 14 aufgeteilt.
Wieso die Bezeichnung »Falken«?
GR: Auch die Pfadfinder, die damals im Grunde eine Art konservative Konkurrenz waren, benutzten Figuren aus dem Tierreich als Identifikationssymbole – und der Falke ist ein freier Vogel, stark und schnell. Die Österreicher haben den Namen erfunden, und alle anderen Mitglieder der Internationalen Falkenbewegung (IFM-SEI) haben ihn übernommen – außer die Schweden. Sie heißen »Junge Adler«. Unter Linken in Deutschland und Österreich war der Adler als Reichssymbol negativ konnotiert. Damit hatten die Schweden kein Problem.
Errichtung eines Zeltlagers der Sozialistischen Arbeiterjugend Bremen in den 1920er Jahren. Quelle: Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Urheber unbekannt.
Wie kann man sich die damalige politische Organisierung unter Jugendlichen vorstellen? Was waren die politischen Ansätze?
GR: Bis 1914 gab es eine starke Orientierung auf Verbesserungen der Arbeitsbedingungen der Lehrlinge. Die Falken entstanden nach einem Selbstmord, als sich der Lehrling Paul Nähring 1904 im Berliner Grunewald erhängt hatte, weil er die Misshandlung durch seinen Schlossermeister nicht mehr ertragen konnte. Danach sind andere Lehrlinge auf die Idee gekommen, sich zusammenzutun und Petitionen gegen Prügelstrafen zu organisieren.
Die Sozialistische Jugend-Internationale hielt ihre Gründungskonferenz 1907 in Stuttgart ab, parallel zum Internationalen Sozialistischen Frauenkongress und dem Internationalen Sozialistischen Parteikongress. Danach schossen Falkengruppen wie Pilze aus dem Boden. Natürlich gab es auch von staatlicher Seite diverse Versuche, die Arbeiterjugendvereine plattzumachen – das Vereinsrecht wurde geändert und schon war es illegal, sich zu treffen. Mit der beginnenden Kriegsgefahr 1914 hat es auch ganz viel antimilitaristische Arbeit gegeben. Das hing natürlich an solchen Figuren wie Karl Liebknecht, dem ersten Vorsitzenden der Sozialistischen Jugendinternationale.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Deutschland 1923 die Kinderfreunde gegründet und 1927 gab es das erste riesige Zeltlager, die erste »Kinderrepublik«, in Seekamp. Viele von den bis heute üblichen Mechanismen wurden dort das erste Mal auf großer Ebene erprobt, wie die Lagerparlamente. Das sind Selbstorganisationen, wo Kinder in Gruppen den Alltag organisieren und auf diese Art und Weise den Sozialismus ein bisschen vorwegnehmen. Gleichzeitig galt in der Organisation das Prinzip der Koedukation: Jungen und Mädchen in einer Gruppe, in einem Zelt zusammen. Darüber regen sich Rechte seit 1927 auf.
Die Zeltlager spielen offenbar eine große Rolle in der politischen Praxis der Falken. Was sollen sie bewirken?
MB: Zeltlager sind vor allem ein Moment, wo Jugendliche für zwei, drei Wochen Selbstorganisation erleben, etwas anderes erfahren und lernen, wie sie für ihre Interessen einstehen. Es dauert immer ein paar Tage bis sie richtig angekommen sind. Danach lernen sie, dass sie machen dürfen, worauf sie Lust haben – aber sie müssen schauen, wie sie das gemeinsam entscheiden.
Dadurch erfahren sie, dass sie nicht alleine sind in der Gesellschaft. Dieses Moment der Partizipation hilft ihnen, handelnde Subjekte zu werden. Sie sehen dadurch, wie sie sich für ihre eigenen Interessen einsetzen können.
Ist es das, was die Falken mit dem Begriff »sozialistische Erziehung« meinen?
MB: Sozialistische Erziehung bedeutet, sich die Frage zu stellen: Was wollen wir von Jugendlichen oder was machen Jugendliche überhaupt? Das ist nicht, wie man sich klassische Erziehung vorstellt, denn es geht darum, wie Kinder und Jugendliche für ihre eigenen Interessen einstehen können.
Der erste Schritt ist es, erstmal zu verstehen, was ihre Interessen sind. Was sind die Grenzen, die bei ihnen eingehalten werden dürfen? Und was sind die Grenzen von anderen, die sie einhalten müssen? Ich nenne das »die Entwicklung zu sozialistischen Persönlichkeiten«. Es geht nicht darum, dass die Kinder unbedingt Sozialisten oder Kommunisten werden, sondern: Wie gehen sie miteinander um? Wie gehen sie mit anderen Leuten um? Was wollen sie von der Gesellschaft?
Kinderrepublik Namedy 1930. Quelle: Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Urheber unbekannt.
Geht es also doch nicht darum, junge Menschen zu Sozialistinnen und Sozialisten auszubilden?
MB: Für mich ist die klare Konsequenz aus meiner Erfahrung bei den Falken, dass Menschen ihre Interessen erkennen müssen, und das kann nur in der Organisierung funktionieren. Auch Kinder müssen sich organisieren, um ihre Interessen umsetzen zu können – im besten Fall bei den Falken. Natürlich würde ich mir wünschen, dass sie danach Sozialisten werden. Das ist der nächste logische Schritt. Aber in erster Linie ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche überhaupt aktiv werden.
GR: Da spielt die andere Säule bei den Falken, die Bildungsarbeit, eine wichtige Rolle. Wir haben zwei Bildungsstätten und noch mehrere kleine Häuser, wo wir viele Wochenendseminare, internationale Treffen und Bildungstreffen veranstalten. Hier können Jugendliche, die anfangen sich zu politisieren, von sich aus sagen, ob sie gerne etwas von Luxemburg oder Liebknecht lesen möchten – und zwar ohne große Indoktrination. Dass wirkt dann in die Zeltlager zurück, wo auf einmal Marx diskutiert wird.
Du hast die historische Nähe zur SPD erwähnt. Wie hat sich die Spaltung in der Arbeiterbewegung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf die Falken ausgewirkt?
GR: Der historische Kern der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in der Weimarer Republik stammt aus der USPD-Jugend, der Freien Sozialistische Jugend. Die USPD war ja eine Massenpartei – in den meisten industriellen Ballungsräumen war sie stärker als die Mehrheits-SPD, und ihre Jugendorganisation war dort auch größer. Doch als 1920 die Mehrheit der USPD mit der KPD fusionierte, sind von der Freien Sozialistischen Jugend nicht alle mitgegangen. Der andere Teil nannte sich dann Sozialistische Proletarierjugend und wurde dann Teil der SAJ.
Die Jugendpolitik der KPD hatte einen Makel: Kinderarbeit gab es de facto gar nicht. Die Roten Jungpioniere, die Kinderorganisation der KPD, waren immer zu vernachlässigen, wenn man von Hamburg absieht. Die Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands (KJVD) hatten lange Zeit das Problem, dass sie nicht Kinder sein durften. Sie mussten kleine Klassenkämpfer sein und wurden teilweise, böse gesagt, im Klassenkampf verheizt. Junge Kommunisten hatten in der Schule einen wirklich schweren Stand. Die konservativen Lehrer drangsalierten Schüler, deren Eltern Kommunisten waren, und der KJVD erwartete gleichzeitig, dass sie »den Klassenkampf« in die Schule tragen. Jeder Widerspruch gegen die Lehrer führte dazu, dass man die ganze Zeit im Karzer landete und mit dem Rohrstock verprügelt wurde – eine Lose-lose-Situation.
Bei der Sozialistischen Proletarierjugend und der wieder sozialdemokratischen SAJ war das Credo bis zum Aufkommen des Faschismus durchaus »Wir probieren uns aus« – mit Elementen der Lebensreform und Selbstorganisation. Im Laufe der Zeit reagierte man zunehmend auf die wachsende Gefahr von rechts. Die Sozialistische Arbeiterjugend bekam viel stärker organisierte Züge, sie liefen in Blauhemden rum, um sich als Sozialisten erkennbar zu machen, und machten mit im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, um die Faschisten zu bekämpfen. Die KJVD war militanter, blieb aber stets kleiner und hatte bis zum Ende ein großes Verheizpotenzial.
Hat diese historische Abgrenzung heute noch eine Bedeutung für die Falken?
MB: Die Falken sind parteienunabhängig, aber kommen aus der Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung. Wir machen ein bisschen unser eigenes Ding, aber wir wissen, dass wir uns nicht aus allem raushalten können, und wir schauen, wo wir mit anderen zusammenarbeiten können. Die Linke wird gerade nicht größer und linke Politik wird nicht unbedingt leichter. Die Frage ist also, in welchen Punkten können wir uns mit anderen Gruppen zusammentun, um etwas umzusetzen.
GR: Dabei ist die Streitkultur im Verband sehr wichtig, die es, glaube ich, in anderen Verbänden so nicht gibt. Mir ist sehr früh die Heterogenität der Falken aufgefallen. Wenn man mit Außenstehenden diskutiert, dann zieht man nicht über andere Genossinnen und Genossen her. Das war immer ganz wichtig. Wir haben andere Meinungen, eine andere Praxis, aber das muss man ausdiskutieren können.
MB: Es ist ein solidarischer Umgang, den man miteinander hat. Es wird auf Bundeskonferenzen durchaus gestritten, aber wenn die Diskussion vorüber ist, sind wir gemeinsam organisiert und machen unsere gemeinsame Arbeit. Das ist der ausschlaggebende Punkt.
Micki, Du sagst, dass die Linke gerade nicht größer wird. Inwiefern kann sozialistische Jugendarbeit noch einen Beitrag dazu leisten, diesem Trend etwas entgegenzusetzen?
MB: In unserer Gesellschaft werden Leute gerade dazu getrieben, alles alleine zu schaffen, und das macht unsere Arbeit nicht einfacher, aber umso wichtiger. Wie kann ich die Leute erreichen, um ihnen zu zeigen, wie gut und wie wichtig es ist, organisiert zu sein? Wenn Jugendliche mitkommen und das so verstehen, glaube ich schon, dass es ihnen hilft, aus dieser Vereinzelung rauszukommen und Interessensgemeinschaften zu bilden.
Falkenstaat »Junges Europa« in Schwangau bei Füssen 1952. Quelle: Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Urheber unbekannt.
Inwiefern erreichen die Falken aber noch »die Arbeiter«? Die SPD ist in großen Teilen inzwischen eine Partei der Lehrer und Beamten geworden. Trifft das auch auf euch zu?
MB: Ich würde schon sagen, dass die Falken eine Arbeiterjugend sind. Natürlich gibt es Leute, die zu Akademikern werden, und viele Mitglieder können dem Verband einen Bildungsaufstieg verdanken, denn man lernt bei den Falken Skills, die einem helfen, in der Gesellschaft klarzukommen. Aber wenn ich mir die Gliederungen angucke, sind das häufig Kinder und Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen, die sie sich das nicht leisten können, und wir machen es für sie realisierbar. Ich glaube, das ist für sie häufig ein Moment der Wertschätzung, den man sonst in unserer Gesellschaft nicht bekommt, wenn man nicht viel Geld hat.
GR: Es gibt viele Beispiele für diesen Bildungsaufstieg, der meiner Einschätzung nach viel schwieriger geworden ist, als noch zu meiner Zeit. Wir haben vor kurzem einen Genossen verloren, Anton »Tony« Schaaf – er war ein typischer Falke. Ganz armes Elternhaus, er war der Einzige, der eine Ausbildung gemacht hat. Er hat dann aber nicht in dem Beruf gearbeitet, sondern bei den Müllwerkern in Mühlheim angefangen. Über die Falken hat er quasi »Lernen« gelernt. Wir haben auch viele Seminare zusammen gemacht. Er hat sicharüber sozusagen »entwickelt«. Danach ist er Betriebsratsvorsitzender der Müllwerker und später Bundestagsabgeordneter mit Direktmandat geworden.
Der Verband bietet eine Entwicklungsmöglichkeit, die man woanders nicht geboten bekommt. Es gibt viele Leute, beispielsweise Lehrlinge oder Auszubildende, die bei den Falken merken, »Oh, ich kann ja viel mehr«. Die holen dann ihr Abitur nach und fangen an zu studieren. Das gibt’s immer wieder.
Die letzte Bundeskonferenz der Falken verabschiedete einen Leitantrag, in dem das Wort »Klassenbewusstsein« 23 Mal vorkommt. Ihr sprecht von der Notwendigkeit, den Verband entlang von gesellschaftlichen Konfliktlinien auszurichten und kollektive Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Was meint Ihr damit konkret?
MB: Der Leitantrag ist in erster Linie der Anfang einer Analyse davon, wie wir uns verstehen, und was Klasse eigentlich auf der theoretischen Ebene bedeutet. Bezogen auf die Praxis heißt es, dass wir Organisationen schaffen, in denen verstanden wird, was es bedeutet, ein Klassenbewusstsein oder eine Klassenzugehörigkeit zu haben.
Wir setzen da an, um mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam zu verstehen: Was ist mein Platz in der Gesellschaft? Was ist mein Platz in den Produktionsverhältnissen? Und was muss ich tun, damit ich nicht als Verlierer rausgehe?
GR: Es hat immer was mit dem Gedanken zu tun, dass Arbeit Wert schafft. Es gibt in allen Falken-Gruppen immer wieder Diskussionen über Konsum und den Wert von Dingen, die irgendwann mal hergestellt worden sind. Klamotten sind für Jugendliche immer eine wichtige Geschichte, und dadurch kommt die Frage auf, »Wieso kostet dieses T-Shirt eigentlich bloß 10 Cent bei KiK? Und wie viel Arbeit steckt da eigentlich drin?«
Wir machen Workshops, wo Kinder Dinge zusammen herstellen. Dadurch fangen sie an, zu begreifen, dass dies Arbeit ist, und es nicht aufgehen kann, dass ein T-Shirt 10 Cent kostet. Und wenn wieder eine Zulieferfabrik von irgendeiner Modekette abbrennt und Tausende Näherinnen sterben, dann wird das in vielen Gruppen thematisiert. Deswegen ist diese Gruppenarbeit auch so wichtig.
Vor kurzem jährte sich zum 10. Mal das Massaker im Zeltlager der norwegischen Arbeiterjugend auf Utøya. Was hat dieser Angriff auf Eure Genossinnen und Genossen für Euch bedeutet, und was für Konsequenzen habt Ihr daraus gezogen?
MB: Viele Falken waren damals im Zeltlager als sie davon gehört haben. Es gab natürlich eine starke Betroffenheit, aufgrund dieses gemeinsamen Verständnisses von Gesellschaft. Das waren unsere Genossinnen und Genossen, auch wenn wir sie nicht persönlich kannten.
Wir haben 2015 eine große Gedenkveranstaltung organisiert, und es gab häufiger kleinere Gedenkstättenfahrten und Veranstaltungen von den Gliederungen. In den letzten zwei Jahren haben wir uns viel mit rechtem Terror auseinandergesetzt, gerade weil es auch so ein Erstarken von Anschlägen gibt, sei es in Halle, Lichtenberg oder anderswo. Deswegen ist umso wichtiger, sich vor Ort antifaschistisch zu organisieren, aber auch international, weil rechte Gewalt überall immer mehr zunimmt.
Eine letzte Frage, die ich schon immer stellen wollte: Warum begrüßt Ihr Euch mit »Freundschaft!«?
GR: Die einzelnen Arbeiterorganisationen hatten alle bestimmte Begrüßungssprüche. Die Arbeitersportler haben sich zum Beispiel mit »Sport frei!« begrüßt.
Die Arbeiterjugend hat aus irgendeinem Grund »Freundschaft« gewählt. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Freundschaft etwas mit der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Man muss dazu sagen, dass dies ein relativ geläufiger Gruß war in der Arbeiterbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Später, wenn Arbeiterjugendliche auf Hitlerjugendliche getroffen sind, grüßten sie auch, und zwar mit dem Wort »Freiheit!«. Aber das war eine Kampfansage: »Wir sind anders als ihr und wir stehen zu diesem Wert, den ihr vernichten wollt.« Das fanden die Nazis nicht lustig.
Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.