10. Juni 2022
Die dänische Außenministerin aus der Netflix-Serie »Borgen« gleicht Annalena Baerbock beinahe aufs Haar. Nur hätte sich Birgitte Nyborg in Verhandlungen mit Liberalen nicht über den Tisch ziehen lassen.
Sidse Babett Knudsen mimt die linksliberale Politikerin Birgitte Nyborg auch in der vierten Staffel brillant.
Natürlich, die Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven Außenministerin Birgitte Nyborg und Annalena Baerbock sind beachtlich: Von den Anfängen in einer linksliberalen Partei und dem Aufstieg zur Machtpolitikerin über die Zerrissenheit zwischen eigener Überzeugung, Familie und dem Willen zur Macht bis hin zu den äußeren Umständen, unter denen sie Politik machen – beide sind mit der Herausforderung eines geopolitischen Konflikts konfrontiert. Der einzige Unterschied: In der vierten Staffel der dänischen Serie, die nun auf Netflix ausgestrahlt wird, entzündet sich der Konflikt an einem großen Ölfund auf Grönland, während wir in der realen Welt von einem Krieg eingeholt worden, der in der Serie noch abgewendet werden kann.
Insofern ist die Politserie wieder einmal erschreckend nah an der Realität, nicht nur hinsichtlich der Vorgänge in Ministerien und Redaktionskonferenzen – weshalb genau diejenigen, die selbst in eben diesen Bereichen arbeiten, sich in der Serie wiedererkennen und sie deshalb so lieben –, sondern eben auch hinsichtlich der Kämpfe um endliche Ressourcen und die Klimakatastrophe. Mehr noch als in den früheren Staffeln werden nicht nur Fake-Verhandlungen geführt (man erinnere sich an die dänischen Friedensverhandlungen durch Birgitte Nyborg in Nord- und Südkharun, die den Konflikt im Sudan nachstellten), sondern Ross und Reiter beim geopolitischen Kampf um die Arktis benannt. Birgitte verhandelt mit Diplomatinnen und Diplomaten aus den USA, China und Russland, quer dazu liegt der Konflikt mit der grönländischen Regierung, die Dänemark vorwirft, das Land weiterhin unter kolonialer Kontrolle zu halten. Insgesamt also ausreichend Stoff, um die Serie nach zehn Jahre wieder auf die Bildschirme zu bringen.
Die Ähnlichkeit mit der deutschen Außenministerin ist ein Zufall, denn die Serie wurde vor den Bundestagswahlen produziert. Die medienwirksamen Aufnahmen von Baerbock in schicken Kleidern oder in Schutzweste konnte man damals noch nicht erahnen. Wohl aber seziert die Serie einen bestimmten Politikstil, den beide Frauen verkörpern: Machtpolitik mit menschlichem Antlitz.
Baerbocks »feministische Außenpolitik« wird in der Serie zwar nicht wörtlich genannt, aber durchzieht die Serie im Prinzip wie ein roter Faden. Deutlich wird das vor allem in den Szenen, in denen Nyborg nach ihrem Verhältnis zu anderen Frauen gefragt wird und in bestem Französisch Madeleine Albright zitiert. Schon die erste Folge steht im Zeichen des Feminismus: Der Titel »The Future is Female« verweist auf den neuen Politikstil in Christiansborg und könnte auch einem Post einer Grünen-Abgeordneten auf Instagram entstammen.
Die Serie bricht an diversen Stellen mit diesem ernsten, fast schon zwanghaften liberalen Feminismus, der im echten Leben meistens aufgesetzt wirkt. Denn Birgitte, ebenso wie ihre neue Konkurrentin, die sozialdemokratische Premierministerin Signe Kragh, müssen sich förmlich dazu zwingen, sich in den sozialen Medien als weibliche Superpolitikerinnen in Szene zu setzen.
Doch die Stärke der Serie besteht gerade auch darin, zu zeigen, dass Pose und politische Überzeugung nicht immer voneinander zu unterscheiden sind. Einmal treten bei Birgitte Nyborg mütterliche Gefühle für ihren Sohn Magnus deutlich zutage, als sie ein Bild aus seiner Schulzeit in den Händen hält, doch schon im nächsten Moment nutzt sie ihren Sohn, um im Fernsehen ihr Image als sympathische Politikerin aufzubügeln. Auch Magnus wird als widersprüchlicher Charakter gezeigt: Er selbst zerrt seine Mutter ein paar Folgen später in dieselbe Sendung, um sich als Klimaaktivist in Szene zu setzen und seine eigene Agenda voranzubringen. Vor laufender Kamera entbrennt eine Diskussion über die Verantwortung der Generationen – das Verhältnis zwischen den beiden bricht auch privat kurz auseinander. Die Inszenierung, um die eigenen Interessen durchzusetzen, wird bei Borgen genauso offen thematisiert wie die reale Verzweiflung darüber, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern. Anstatt dieses Dilemma zu moralisieren, fokussiert sich die Serie auf Handlungen und Entscheidungen.
Sidse Babett Knudsen spielt die linksliberale Politikerin Birgitte Nyborg, die fortwährend mit ihren Idealen bricht, auch in dieser Staffel schlicht glänzend – etwa wenn sie betrunken im Außenministerium spätabends die Nachrichten über sich verfolgt, erst in den Mülleimer erbricht, aber sich direkt wieder aufrichtet und die Arme in Siegespose nach oben streckt. Oder wenn sie in der letzten Folge (Achtung Spoiler) auf dem Parteitag der von ihr selbst gegründeten Neuen Demokraten zurücktritt und das Amt der Vorsitzenden souverän abgibt. Wie in der allerersten Folge, als Nyborg zugibt, eigentlich zu viele Pfunde für das lila Kleid draufzuhaben, zeigt sie sich in diesen Szenen von ihrer stärksten Seite: als Politikerin, die Fehler zugeben und sich selbst zurücknehmen kann – in dem Wissen, dass die Macht sie korrumpiert hat.
Wer jetzt wiederum an Baerbock denkt, die offen eingeräumt hat, in ihrem Lebenslauf ein bisschen geschummelt zu haben, oder an Anne Spiegel, die als grüne Ministerin wegen ihres kranken Mannes vom Urlaubsort aus arbeitete und nach wachsender Kritik schließlich zurücktrat, der liegt nicht ganz falsch. Dennoch zeigt Borgen abermals was Nyborg den Politikerinnen aus dem echten Leben voraus zu haben scheint: den Willen zur Macht und das großartige Verhandlungsgeschick.
Nyborg ließe sich in Verhandlungen mit Liberalen vermutlich nicht über den Tisch ziehen. Im Gegenteil: Wer sich an vorangegangene Folgen erinnert, weiß, dass sie bei Abstimmungen immer wieder die anderen Parteien gegeneinander ausspielte, um ihre Gegner zu schwächen und das eigene Ziel zu erreichen. In der Wirklichkeit war es leider die FDP, die mit ihren vergleichsweise wenigen Mandaten rote Linien zog und die Politik der Bundesregierung immer wieder an entscheidenden Stellen blockiert oder beeinflusst.
Nyborg kommt gegen Ende der Serie wieder zur Besinnung und ändert ihre Klimapolitik. Die schädlichen Ölbohrungen in Grönland werden gestoppt, der Konflikt gelöst. Unsere Realität ist düsterer. Hier bricht sich Opportunismus bahn, weil die Kapitalinteressen der Lobbygruppen stärker sind als jede politische Überzeugung. Das belegt das unfassbar schädliche Sondervermögen für die Bundeswehr von über 100 Milliarden Euro. Hätte Nyborg das durchgehen lassen? Ja, vermutlich. Aber sie hätte vielleicht auch 100 Milliarden für eine vernünftige Klimapolitik als Ausgleich ausgehandelt.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.