17. Januar 2023
Die landesweiten Proteste in Peru dauern bereits vier Wochen an. Die ländliche Bevölkerung demonstriert nicht nur für die Freilassung von Pedro Castillo, sie fordert Neuwahlen und eine neue Verfassung.
Demonstrierende fordern den Rücktritt von Dina Boluarte und die Freilassung von Pedro Castillo, Lima, 4. Januar 2023.
IMAGO / ZUMA WireAm 7. Dezember wurde Pedro Castillo des höchsten Amtes in Peru enthoben. Damit endete seine sechzehnmonatige Amtszeit, die von ungeschickter Verwaltung und Sektierertum gezeichnet war. Die Zeit war auch von unerbittlichen Angriffen des feindseligen, konservativ geführten Kongresses geprägt, der sich über die Vorstellung empörte, dass ein indigener Gewerkschafter im Regierungspalast sitzt.
Für die meisten kam Castillos Sturz wenig überraschend. Das Amtsenthebungsverfahren vom 7. Dezember war der dritte derartige Versuch der peruanischen Rechten innerhalb von etwas über einem Jahr. Schockierend war vielleicht nur noch Castillos eigene Verzweiflung und sein Mangel an Kalkül: Er ordnete die Schließung des Kongresses an, um ein Amtsenthebungsverfahren zu vermeiden, lieferte dabei aber versehentlich den notwendigen verfassungsrechtlichen Vorwand für eben genau dieses Amtsenthebungsverfahren.
Wirklich überraschend war jedoch die Welle der Empörung, die sich in den Tagen und Wochen nach Castillos Absetzung in ganz Peru ausbreitete. Einerseits waren die landesweiten Straßenproteste auf die anhaltende Legitimitätskrise in Peru zurückzuführen. Diese Krise ist unter anderem ein Grund dafür, dass ein unbekannter Landschullehrer an die Macht kommen konnte. Gleichzeitig hat sie sich unter Castillo weiter verschärft. Verschwörungen der Rechten und Machtkämpfe der Linken während seiner Amtszeit haben die Enttäuschung der Bevölkerung über die politische Klasse Perus, die ohnehin schon zu den unbeliebtesten in der westlichen Hemisphäre gehört, weiter geschürt. Die Verkündung, dass die Regierung von Castillos Nachfolgerin Dina Boluarte – nicht gewählt, und von manchen als illegitim bezeichnet – den Rest der fünfjährigen Amtszeit voll ausschöpfen wollte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Andererseits sind die nun schon vier Wochen andauernden Proteste auch Ausdruck der Empörung der Nadies (Spanisch für »niemande«), die ihre Hoffnungen auf Castillo gesetzt haben. Was auch immer Castillo als Staatschef erreicht haben mag, wie wenig er auch die Kämpfe seiner unterdrückten Wählerinnen und Wähler voranzubringen vermochte, so hat er doch den Willen eines beträchtlichen Teils der peruanischen Bevölkerung verkörpert. Für die Demonstrierenden war die Botschaft, die hinter Castillos Amtsenthebung steckte, eindeutig: Die Forderungen der Armen, Indigenen, Bäuerinnen und Bauern und Prekären sind nicht legitim.
Anahí Durand war in Castillos Regierung Ministerin für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen. Sie erlebte aus erster Hand, wie die Regierung vergeblich versuchte, durch die Unterstützung der Bevölkerung im peruanischen Hinterland eine Basis aufzubauen. Sie sprach mit JACOBIN über die Forderungen der Protestbewegung und warum Castillos größtes Vermächtnis ironischerweise darin bestehen könnte, jene Schichten der peruanischen Gesellschaft politisiert zu haben, die jetzt teilweise unter Lebensgefahr auf die Straße gehen.
Die Proteste in Peru, die durch die Absetzung von Pedro Castillo ausgelöst wurden, halten weiter an. Viele haben vorausgesagt, dass die rechte Mehrheit im Kongress sich schließlich durchsetzen und Castillo anklagen würde; andere prophezeiten, dass seine Amtsenthebung soziale Unruhen nach sich ziehen würde. Aber nur wenige haben das Ausmaß und die Intensität der Proteste wirklich vorausgesehen.
Die meisten von uns wussten, dass es nicht so einfach sein würde, Castillo loszuwerden, wie es bei den letzten vier Präsidenten Perus der Fall war [diese wurden ebenfalls durch Amtsenthebungsverfahren aus dem Amt entfernt]. Wir wussten, dass dies unter seinen Anhängern und normalen Bürgerinnen eine Welle des Protests auslösen würde. Aber die »weiße«, in Lima ansässige Wirtschaftselite und die politische Rechte haben sich grundlegend geirrt. Sie haben seinen Sieg nie anerkannt, Castillo war ihnen verhasst – sie haben ihn nicht einmal als ihren Präsidenten anerkannt und bezeichneten ihn als »Esel«. Ich glaube, dieser Teil der Gesellschaft hat sich in seiner eigenen Echokammer verloren und glaubte ernsthaft, dass Handlungen von ihnen keine Konsequenzen haben würden.
Nehmen wir zum Beispiel Dina Boluarte, die amtierende Präsidentin. Sie war fest davon überzeugt, dass sie nach der Amtsenthebung Castillos vom peruanischen Volk mit offenen Armen empfangen werden würde. Sie versprach, eine volle Amtszeit bis zum 28. Juli 2026 zu absolvieren und ließ sich dann lächelnd und in siegessicherer Pose mit Castillos Kontrahenten im Kongress fotografieren. Einige Tage später kam es im ganzen Land zu Protesten, die mehrere Todesopfer forderten.
Andererseits glaube ich, dass das Ausmaß dieser Proteste uns alle, nicht nur die herrschende Klasse Perus, überrascht hat. Wir Peruanerinnen und Peruaner sind daran gewöhnt, uns als eine völlig zersplitterte Gesellschaft zu betrachten, in der es nur sektorale Proteste gibt, in denen es in der Regel nur um wirtschaftliche Belange geht: An einem Ort sind es die Kokabauern, im Norden die Bergarbeiter, woanders wiederum die indigenen Gemeinschaften aus dem Amazonasgebiet.
»Der Wahlsieg von Castillo war nie ein Sieg der Linken. Es war ein Sieg der populären, informellen und prekären Klassen.«
Aber jetzt haben wir es mit einem landesweiten Aufruhr zu tun. Allerdings liegen die Epizentren des Protests außerhalb Limas, vor allem im Süden der Anden. Dort gab es die ersten zehn Todesopfer, in der Region Apurímac. In den beiden größten Städten dieser Region, Andahuaylas und Abancay, demonstrieren die Menschen in großer Zahl und besetzen Flughäfen, Autobahnen und andere Gebiete. Währenddessen feuert die Armee mit scharfer Munition auf die Demonstrierenden. Unter den drei Demonstrierenden, die in den ersten Tagen der Proteste getötet wurden, waren Gymnasiasten, die den Unterricht verlassen hatten, um zu protestieren. Ein weiteres Epizentrum im Süden ist Arequipa, wo es bereits mindestens fünf Tote gegeben hat. Auch in Ayacucho gab es zehn oder mehr Tote.
Welche Teile der Gesellschaft protestieren vor allem?
Das sind vor allem die ausgeschlossenen, marginalisierten, informell beschäftigten, ländlichen und indigenen Teile der Gesellschaft – also genau diejenigen, die den Präsidenten unterstützt haben. Die Kokabauern, die informellen Minenarbeiter, die kommunalen Sicherheitskräfte, die so genannten Ronderos, und die indigenen Gemeinschaften sind in Orten wie Cajamarca, Ayacucho, Arequipa und Puno in großer Zahl auf der Straße, manchmal zusammen mit Studierenden und anderen Gruppen. Die Entscheidung, an den Protesten teilzunehmen, wird oft kollektiv als Gemeinschaft getroffen.
Die Demonstrationen sind massiv und teilweise gewalttätig: Flughäfen, Autobahnen und Gewerbegebiete wurden von den Demonstrierenden besetzt. Nach tagelangen Protesten verhängte die Regierung von Dina Boluarte den Ausnahmezustand und schränkte damit das Recht auf Versammlungs- und Bewegungsfreiheit ein. Schließlich lenkte ihre Regierung ein und zog die Wahlen auf den 24. April 2024 vor. Aber das sind nicht die Forderungen der Bevölkerung, für eine sofortige Auflösung des Kongresses, sofortige Parlaments- und Kongresswahlen und eine neue Verfassung demonstriert. Aber das wird völlig ignoriert.
Pedro Castillo trat 2021 mit dem Versprechen einer neuen Verfassung an. Seitdem hat der Kongress alles in seiner Macht Stehende getan, um das zu verhindern. So berief er sich etwa auf verfassungswidrige Mittel, um das Recht auf ein Referendum zu verweigern. Die Bevölkerung fordert dieses Recht jetzt stärker ein denn je.
»Der Kongress reagiert aktuell direkt auf Unternehmensinteressen. Es ist kein Zufall, dass es diese rechten Bündnisse waren, die Castillos Regierung am meisten zu schaffen gemacht haben.«
Außerdem protestiert die Bevölkerung für die Freilassung Castillos. Er wurde nicht nur angeklagt, sondern auch auf völlig irreguläre Weise festgenommen und der »Rebellion« bezichtigt [weil er zur Schließung des Kongresses aufgerufen hatte], ohne dass die notwendigen rechtlichen Schritte durchgeführt wurden. Das Ziel dieser Anklage war, ihn und seine Anhängerinnen und Anhänger zu demütigen. Man wollte an ihm ein Exempel statuieren. Es gibt auch Protestierende, die seine Wiedereinsetzung ins Präsidentenamt fordern, obwohl es in dieser Frage insgesamt weniger Konsens gibt.
Die Demonstrierenden fordern mit überwältigender Mehrheit, dass Boluarte, Castillos ehemalige Vizepräsidentin und derzeitige amtierende Präsidentin, zurücktreten soll. Sie fordern eine Übergangsregierung, die die Zeit bis zu den Wahlen im Jahr 2024 beaufsichtigt.
In einigen Regionen ebben die Proteste allmählich ab, vor allem wegen der unerbittlichen Militärgewalt. Die 28 toten Demonstrierenden [Stand 09. Januar 2023], von denen keiner bewaffnet war oder irgendeine Art von »Terrorismus« begangen hatte, werden von dieser Regierung einfach als Kollateralschaden betrachtet. Der rechtsgerichtete Kongressabgeordnete Jorge Montoya hat ganz offen zugegeben, dass die Beseitigung von Castillo diese Art von Blutvergießen erfordern würde.
Die prominente Rolle der peruanischen Streitkräfte bei den jüngsten Ereignissen ist interessant. Zunächst appellierte Castillo vergeblich an das Militär als er die Auflösung des Kongresses forderte. Jetzt hat die amtierende Präsidentin den Ausnahmezustand verhängt und die nationale Polizei und die Streitkräfte gegen die Demonstrierenden eingesetzt. Stehen die peruanischen Streitkräfte zwanzig Jahre nach der vom Militär unterstützten zivilen Diktatur von Alberto Fujimori wieder im Mittelpunkt der Politik?
Ich glaube, wir haben uns zu sehr an die Vorstellung gewöhnt, dass das Militär in Peru kein zentraler politischer Akteur mehr ist. Nach dem bewaffneten Konflikt mit der Kommunistischen Partei, dem Leuchtenden Pfad, bei dem etwa 70.000 Menschen ums Leben kamen, wurde eine Reihe von Militärs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Ich denke, das hat uns zu der naiven Annahme verleitet, dass es genügend institutionelle Garantien gäbe, um die militärischen Kräfte in Schach zu halten.
Die Beweise für das Gegenteil liegen auf der Hand. Wie Du erwähntest, hatte Präsident Castillo eindeutig keine Kontrolle über die militärische Elite. Als er ihnen aus Verzweiflung befahl, ihn bei der Auflösung des Kongresses zu unterstützen, ignorierten sie ihn einfach. Außerdem deutet alles darauf hin, dass sich die obersten Militärs zuvor bereits darauf geeinigt hatten, keine Befehle von der Exekutive entgegenzunehmen.
Und nun zeigt sich die neue Präsidentin Boluarte beim Teekränzchen mit den Befehlshabern der drei Teilstreitkräfte. Das wirkt genau wie die Fujimori-Diktatur der 1990er Jahre. Wir sollten uns nicht davor scheuen, die Dinge beim Namen zu nennen: Es handelt sich hierbei um ein zivil-militärisches Regime.
Natürlich sind sowohl die Abgeordneten als auch der Präsident gewählte Vertreter. Aber die Art und Weise, in der sich die peruanische Legislative und Exekutive in den letzten zehn Jahren offen bekämpft haben, scheint auf zwei sehr unterschiedliche Formen der Demokratie hinzudeuten: eine, die eher privaten Interessen und politischem Klientelismus verpflichtet ist, und eine andere, die eher »plebiszitär« ist; Du und andere haben diese Form auch als »plebejische Demokratie« bezeichnet. Wäre es richtig, die Demonstrierende auf der Straße als Vertreterinnen und Vertreter der letzteren zu bezeichnen?
Erstens glaube ich nicht, dass es in Peru eine demokratische Rechtsstaatlichkeit gibt. Schau Dir einmal die Beweise an: Ein von der Bevölkerung gewählter Präsident durfte nicht regieren, er wurde seines Amtes enthoben, und dann hat der Kongress einen Regimewechsel zugunsten der parlamentarischen Herrschaft durchgesetzt und sogar die Verfassung geändert, um das alles durchzusetzen. Das Gleichgewicht der Kräfte ist völlig gestört und die Demokratie ist das Opfer.
Darüber hinaus wird die Botschaft vermittelt, dass nicht alle Stimmen gleich viel zählen. Wenn die Wählerinnen und Wähler, die ich als »Plebejer«bezeichne, für einen Wandel stimmen, dann werden ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter völlig diskreditiert und sabotiert. Deshalb fordern die Demonstrierenden auf der Straße, dass ihre Stimme zählt.
Der Begriff »Plebejer« bezieht sich in diesem Kontext auf die ausgeschlossenen und populären Schichten der Wählerschaft, die sich von der städtischen Wählerschaft, insbesondere der in Lima, dem Epizentrum der traditionellen politischen Macht, unterscheidet. Wenn diese plebejischen »Emporkömmlinge« in die Hauptstadt kommen, fühlt sich das für die regierende Elite wie das Ende der Welt an.
Das war die wahre Bedeutung von Castillos Regierung: Die gesamte Bandbreite der informellen und ausgegrenzten Sektoren – die Rondero, Cocaleros [Kokabauern], Bergarbeiter, informellen Taxifahrer und viele weitere – wurde politisiert. Sie waren plötzlich nicht nur in der Opposition, sondern fanden sich tatsächlich in einem Kampf um die Kontrolle des Staates wieder. Castillo gehörte selbst zu diesen Sektoren, was Vorteil und Nachteil zugleich war. Es war insofern ein Vorteil, als dass er sie wirklich vertreten konnte, gleichzeitig aber ein Nachteil, da genau dieser Hintergrund bei bestimmten Klassen auf instinktives Misstrauen gestoßen ist.
Die wachsende Kluft zwischen der rechten Elite in Lima und den Regionen, die Castillo mit überwältigender Mehrheit unterstützt haben, führt nun zu separatistischen Tendenzen, etwa im Süden der Anden. Gruppen und Intellektuelle in diesen Regionen beginnen sich zu fragen, warum sie überhaupt im selben Land wie Lima bleiben sollten, wenn einerseits alle materiellen Ressourcen im Süden vorhanden sind, die dortigen Provinzen andererseits aber politisch vernachlässigt werden. Es ist ein bisschen wie mit Santa Cruz in Bolivien, nur umgekehrt.
Leider reagiert die Regierung nicht auf diese Forderungen, sondern unterdrückt und kriminalisiert die Demonstrierenden und ihre sozialen Anführer, indem sie sie der Korruption oder des Terrorismus beschuldigt. »Terruqear« ist der Begriff, den wir für diese Art von politischer Taktik in Peru verwenden, bei der politischer Protest als terroristische Aktivität stigmatisiert wird.
Kannst Du mehr über die Forderung der Demonstrierenden sagen, den Kongress zu schließen? Immerhin war es Castillos Versuch, genau das zu tun, der direkt zu seiner Amtsenthebung führte. Der peruanische Kongress ist bekanntlich unpopulär und korrupt, aber was sind die konkreten Vorschläge, die mit der Forderung nach seiner Schließung verbunden sind?
Der Kongress ist eine der am meisten gehassten Institutionen Perus, vor allem, weil er radikal von der sozialen Realität abgekoppelt ist. Ein Grund dafür ist die Art und Weise, wie das Einkammergremium gewählt wird: Auf 33 Millionen Peruanerinnen und Peruaner kommen nur 130 Abgeordnete, also weniger als die Hälfte der gewählten Vertreterinnen und Vertreter, die man in den meisten lateinamerikanischen Ländern ähnlicher Größe findet. Mit anderen Worten, das Volk ist politisch stark unterrepräsentiert. Gleichzeitig unterhält jeder Kongressabgeordnete sein eigenes Gefolge mit fünfzehn oder mehr Assistentinnen, die unter ihm arbeiten.
Die Menschen haben genug davon, denn der Kongress ist zu einem Ort geworden, an dem Politikerinenn völlig ungestraft handeln können. Man könnte sich natürlich fragen, warum die Bevölkerung ihre gewählten Vertreter so schlecht auswählt. Doch das eigentliche Problem ist, dass das Volk unterrepräsentiert ist. Lima selbst ist mit 35 Kongressabgeordneten überrepräsentiert, während Regionen wie Cusco nur fünf haben. Auch das peruanische Parteiensystem muss komplett reformiert werden, da es in seiner jetzigen Form neue Akteure daran hindert, in die Politik einzutreten.
Der Kongress reagiert aktuell direkt auf Unternehmensinteressen – private Universitäten, Kasinos und dergleichen. Es ist kein Zufall, dass es diese rechten Bündnisse waren, die Castillos Regierung am meisten zu schaffen gemacht haben. Bereits drei Monate nach Beginn seiner Amtszeit hatten sie versucht, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, was ihnen durch eine Änderung der Verfassung nach ihrem Gusto auch gelang. Dieselben Gruppen, die sich mit Händen und Füßen gegen eine verfassungsgebende Versammlung gewehrt haben, manipulieren die Verfassung aus dem Verfassungsausschuss des Kongresses heraus!
Früher erlaubte die Verfassung dem Präsidenten, den Kongress aufzulösen, wenn dieser sich mehr als einmal weigerte, eine Vertrauensabstimmung durchzuführen – was Castillo auch tatsächlich versuchte. Doch der Kongress änderte dieses Gesetz. Nun kann nur noch der Kongress selbst darüber bestimmen, wann eine Vertrauensabstimmung durchgeführt wird. Als ich vorhin über das fehlende Gleichgewicht der Kräfte sprach, habe ich genau das gemeint. Die Peruanerinnen und Peruaner haben zunehmend die Nase voll von dieser »Diktatur des Kongresses« und sind an ihre Grenze gelangt.
»Viele meiner Genossinnen und Genossen haben sich zu sehr um die öffentliche Meinung gekümmert, während der eigentliche Maßstab für unsere Leistung hätte sein sollen, ob wir in den sozialen und politischen Organisationen an Einfluss gewonnen haben oder nicht.«
Wenn die derzeitige Präsidentin Boluarte wirklich im Sinne des Volkes handeln wollen würde, wäre sie am Tag der Amtsenthebung Castillos zurückgetreten und hätte so schnell wie möglich Neuwahlen ausgerufen. Das hat sie natürlich nicht getan, denn sie wurde vom Kongress in ihr Amt eingesetzt, um dessen Willen zu erfüllen. Aber das Volk wird sich nicht mit Wahlen im April 2024 zufriedengeben – das ist in fast anderthalb Jahren. Das ist der Grund, weshalb die Demonstrierenden die sofortige Schließung des Kongresses fordern.
Glaubst Du, dass die Proteste einer neuen Verfassung den Boden bereiten könnten?
Vorerst müssen wir wohl akzeptieren, dass ein verfassungsgebender Prozess, der zu einer neuen Verfassung führt, nicht über Nacht stattfinden wird. Die peruanische Verfassung wurde von Fujimori durchgesetzt, genoss aber auch ein hohes Maß an Konsens unter den herrschenden Klassen. Fujimori ist zwar nicht mehr an der Macht, seine neoliberale Verfassung lebt aber weiter.
Ich glaube jedoch, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung in den subalternen Klassen Wurzeln geschlagen hat und schließlich in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rücken kann. Man denke nur an den Wasserkrieg in Bolivien: Im Jahr 2000 gab es einen großen sozialen Aufstand, aber erst im Jahr 2006 wurde eine verfassungsgebende Versammlung einberufen. Eine ähnliche Geschichte könnte man über Ecuador erzählen.
Im Moment wächst das ohnehin weit verbreitete Gefühl, dass der grundlegende Sozialpakt in Peru überdacht werden muss. Die Menschen fordern also ein Referendum, um über eine verfassungsgebende Versammlung zu entscheiden. Natürlich wird der Kongress in dieser Frage keinen Millimeter nachgeben, vor allem nicht, wenn es um lukrative Geschäfte zwischen der Regierung und großen Unternehmen geht. Früher konnten die Bürgerinnen und Bürger selbst ein Referendum einberufen; jetzt hängt es von den Launen des Kongresses ab. Die Lage sieht also trotz aller Proteste nicht sehr vielversprechend aus.
Hat die extreme Rechte in der aktuellen institutionellen Krise Fuß gefasst? Der kürzlich gewählte Bürgermeister von Lima, Rafael López Aliaga, wird etwa häufig mit Jair Bolsonaro verglichen.
Ich denke, was Peru erlebt, ist eine Polarisierung und das Verschwinden von allem, was einer politischen Mitte ähnelt. Früher gab es im Kongress zwei große Mitte-rechts-Parteien, die Acción Popular und die Partido Morado [die Lila Partei]. Diese beiden Parteien gibt es praktisch nicht mehr. Sie folgten dem Beispiel der extremen Rechten in Bezug auf das Amtsenthebungsverfahren, bis sie sich schließlich ganz auf deren Agenda einließen.
Die Rechte hat jedoch auch ihre ganz eigene interne Krise. Ihnen fehlt eine Führung und sie ist zunehmend zersplittert: López Aliaga, den Du erwähnt hast, hat zwar in den wohlhabendsten Bezirken Limas gewonnen, aber es handelte sich dabei um die Bürgermeisterwahl mit der niedrigsten Wahlbeteiligung seit Jahren, und seine Partei hat auch sonst sehr schlecht abgeschnitten. Die Rechte ist definitiv nicht in einer guten Position.
Ich denke, diese Schwäche erklärt, warum die Rechten die Kontrolle über die Exekutive übernehmen wollen. Sie wollen die Staatsgewalt nutzen, um populäre politische Anführer zu kriminalisieren und sie daran zu hindern, zu kandidieren. Mit anderen Worten, es ist die allgemeine Schwäche der Rechten – ihre Unfähigkeit, in offenen Wahlen die Präsidentschaft zu gewinnen –, die den Hardlinern Auftrieb gibt.
Die Linke und die progressiven Kräfte befinden sich in keiner besseren Situation. Leider ist der einzige Vertreter dieses Sektors, der landesweit anerkannt und legitimiert ist, Castillo, und der sitzt im Gefängnis. Selbst als die Hetzkampagne gegen ihn am schlimmsten war, hatte er noch eine Zustimmungsrate von 30 Prozent. Das mag nicht überragend klingen, aber viele Politikerinnen und Politiker in Peru erreichen nicht mehr als 7 oder 8 Prozent. Vergleiche das mal mit den über 70 Prozent der Peruanerinnen und Peruaner, die der Meinung sind, dass es falsch war, dass Boluarte das Amt übernommen hat. Mehr noch: Einem aktuellen Bericht des Instituto de Estudios Peruanos zufolge liegt Castillos Unterstützung jetzt bei 45 Prozent. Laut dieser Umfrage stehen also nicht nur 45 Prozent der Bevölkerung hinter Castillo, sie sind auch bereit, für ihn auf die Straße zu gehen.
Abgesehen von den offensichtlichen Angriffen und Kampagnen der Rechten scheint auch das Sektierertum der peruanischen Linken Castillo zu schaden.
Der Wahlsieg von Castillo war nie ein Sieg der Linken. Damit meine ich die ideologischen linken Parteien Perus. Es war ein Sieg der populären, informellen und prekären Klassen. Nach seinem Sieg wurde versucht, eine Einheit herzustellen und eine Front mit der bestehenden institutionellen Linken zu bilden.
Perú Libre, eine sich selbst als marxistisch-leninistisch bezeichnende Partei, stellte ihm die Plattform, auf der er kandidieren konnte. Nuevo Perú, eine fortschrittlichere linke Partei, versorgte seine Regierung mit technischen Ministern. Aber ehrlich gesagt war dieses Arrangement angesichts der besonderen Merkmale von Perú Libre und seiner Führungsriege von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich glaube wirklich, dass das Sektierertum von Perú Libre einen sehr schädlichen Einfluss auf Castillos Regierung hatte.
Nuevo Perú, eine eher bürgerliche, technokratische linke Partei, war nicht einmal im Parlament vertreten, um Castillo die nötige politische Unterstützung zu geben. Schlimmer noch, um sich aus den politischen Grabenkämpfen zu herauszuhalten, verfiel sie schließlich in eine überkritische Haltung und distanzierte sich von Castillo.
Mit dem Amtsenthebungsverfahren sind diese beiden linken Parteien nun völlig entmachtet. Ehrlich gesagt glaube ich, dass jede Art von Wiederaufbau einer echten linken Volksbewegung in Peru nicht von den bestehenden linken Parteien ausgehen wird. Im peruanischen Fall müssen wir Linken in die Welt des Volkes eintauchen und uns wieder mit dieser politischen Ebene verbinden. Von dort werden die zukünftigen Führungsfiguren kommen.
Du hast kürzlich in einem Artikel argumentiert, dass Castillo – ungeachtet dessen, was er auf politischer Ebene getan oder nicht getan hat – seine Exekutivgewalt genutzt hat, um die ausgegrenzte und überwiegend ländliche Bevölkerung Perus zu politisieren. Wie genau hat er das gemacht und inwieweit ist diese politische Mobilisierung auf dem Land mit der eher städtischen Linken vereinbar?
Der Kern von Castillos Anhängerinnen und Anhängern, also die 20 Prozent, die ihm einen Platz in der Stichwahl 2021 verschafft haben, rekrutiert sich aus einer ländlichen Wählerschaft, die aus ausgeschlossenen und informellen Sektoren besteht. Diese Menschen leben in Armut oder extremer Armut. Das war die Bevölkerungsschicht, für die er zu regieren versuchte. Er tat dies auf plebiszitäre Weise, indem er direkt in die Orte reiste, in denen die Menschen leben, oder indem er den Regierungspalast [Palacio de Gobierno] in Lima mit Scharen von Anhängerinnen und Anhängern füllte. Manche mögen das Populismus nennen. Wie auch immer man es nennt: Es ist eine Art zu regieren, mit der sich die Progressiven in der Hauptstadt nicht unbedingt wohl fühlen. Der fortschrittliche, urbane Teil der Linken muss sich überlegen, wie er mit der Führungsfigur Castillo umgehen will.
Für bestimmte akademische und politische Kreise war es immer schwierig, Castillos Rolle zu verstehen. Die progressiven Kräfte in Peru haben anerkannt, dass er den bürgerlichen Sektoren eine gewisse Identifikation und Repräsentation verschaffte; aber sie verstehen nicht wirklich, wie er eine so intensive Unterstützung unter seinen Anhängerinnen und Anhängern entfachen konnte, warum sie seine Freilassung fordern und vor dem Gefängnis, in dem er festgehalten wird, kampieren.
Dennoch ist es Castillo weder gelungen, die wichtigsten natürlichen Ressourcen zu verstaatlichen, noch hat er die zweite Agrarreform ernsthaft vorangetrieben. Allerdings müssen wir uns fragen: Wie hätte er die Ressourcen ohne eine Mehrheit im Kongress verstaatlichen sollen? Wie hätte er eine zweite Agrarreform durchführen können, ohne einen richtigen Landwirtschaftsminister? Das Problem ist komplizierter: Castillo hatte eine ganze Reihe von Ministerinnenposten auf der Basis von Gemeinschafts- und Familienbeziehungen vergeben. Das stimmt mit den Praktiken der Gemeinschaft, aus der er stammt, völlig überein. Warum sollte er diese Ämter jemandem anvertrauen, der zwar möglicherweise besser qualifiziert ist und einen Doktortitel hat, der ihn aber zuvor nicht unterstützt oder respektiert hat?
»Nach dreißig Jahren Neoliberalismus gibt es eine staatliche Verwaltung und rechtliche Architektur, die völlig gefestigt ist. Deshalb ist es so wichtig, durch eine neue Verfassung grundlegende politische Veränderungen zu erreichen.«
Castillos hat Lima die Macht zu entzogen, indem er ein dezentralisiertes Kabinett schuf. Das ist etwas völlig Neues in Peru. Correa in Ecuador und Morales in Bolivien haben in ihren Regierungen etwas Ähnliches getan. Castillo reiste mit seinen Ministerinnen und Ministern in die am stärksten marginalisierten Provinzen und setzte sich mit den lokalen Behörden und Gemeindevorstehern zusammen, um deren Probleme zu besprechen. Er versuchte, den Staat zu den Menschen zu bringen und sie auf diese Weise zu politisieren. Das ist in einer so unglaublich entpolitisierten, zersplitterten und neoliberalen Gesellschaft wie Peru keine leichte Aufgabe. In gewisser Weise können die aktuellen Proteste als ein Teil des Erbes dieser Bemühungen verstanden werden.
Du hast einige dieser Initiativen aus erster Hand miterlebt, als Du in Castillos Regierung als Ministerin für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen tätig warst. Was hast Du aus Deiner Zeit in der Regierung mitgenommen?
Ironischerweise empfand ich ein starkes Gefühl der Ohnmacht. Es war naiv zu glauben, dass man mit einem so unausgeglichenen Kräfteverhältnis einfach an die Macht kommen würde und effektiv regieren könnte. Für mich war eine der wichtigsten Lektionen, dass alles so eingerichtet ist, dass sich nichts verändert: Nach dreißig Jahren Neoliberalismus gibt es eine staatliche Verwaltung und rechtliche Architektur, die völlig gefestigt ist. Deshalb ist es so wichtig, durch eine neue Verfassung grundlegende politische Veränderungen zu erreichen.
Die andere wichtige Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass man die Mobilisierung der Bevölkerung und die Aktionen an der Basis im Auge behalten sollte, wenn man wissen will, wie man in der Regierung abschneidet. Man sollte nicht zu sehr auf Meinungsumfragen achten. Zu viele meiner Genossinnen und Genossen haben sich zu sehr um die öffentliche Meinung gekümmert, während der eigentliche Maßstab für unsere Leistung hätte sein sollen, ob wir in den sozialen und politischen Organisationen an Einfluss gewonnen haben oder nicht.
In gewisser Weise war das auch die größte Schwäche des Präsidenten. Er war ein in seiner Herangehensweise an die Politik durch und durch Gewerkschafter: Er arbeitete mit den Leuten, die er in den Gewerkschaften kannte – die selbst politisch schwach sind – und konnte seinen Einfluss nie wirklich über diese Kreise hinaus ausweiten.
Das war etwas, worüber wir viel diskutiert haben: Wie können wir die Leute politisieren, die noch nicht politisiert sind, aber eine wichtige Rolle in der Regierung spielen können? Castillo begann seine Amtszeit mit einer wichtigen Figur in seinem Kabinett, Héctor Béjar. Béjar ist ein altgedienter Linker und war in den 1970er Jahren Teil der revolutionären Regierung von Juan Velasco Alvarado. Er hat sich genau für diesen Punkt eingesetzt, indem er Kampagnen durchführte, um alle möglichen Gruppen in die Agrarreformbewegung einzubinden. Doch die Rechte nahm ihn sofort ins Visier. Und er war leider einer der ersten Minister im Kabinett, die Castillo entließ.
Als Castillo sein Amt antrat, herrschte vorsichtiger Optimismus darüber, dass Peru Teil einer zweiten Pinken Welle sein könnte, die auch Chile, Kolumbien und Mexiko ergreifen würde. Seine Amtsenthebung wurde jedoch von den Ländern, die die progressive Bewegung Lateinamerikas bilden, mit gemischten Reaktionen aufgenommen. Einige Regierungen, wie die von Boric in Chile, haben die neue Regierung Perus schnell als legitim anerkannt, während andere – unter anderem Argentinien, Bolivien, Kolumbien und Mexiko – ihre Solidarität mit Castillo zum Ausdruck gebracht haben. Was denkst du darüber?
Andrés Manuel [Lopéz Obrador] hatte immer ein gutes Verhältnis zu Castillo. Mexiko war Castillos erstes Auslandsreiseziel als Präsident, und seither hat er sich immer gut mit der mexikanischen Regierung verstanden. Die Regierungen von Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Bolivien und Honduras haben eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie ihre Besorgnis über die Absetzung von Castillo zum Ausdruck bringen. Alle diese Regierungen haben Erklärungen abgegeben, in denen sie sich nachdrücklich von der Regierung Boluarte distanzieren.
Am aktivsten war jedoch Andrés Manuel in Mexiko: Er gewährte Castillos Familie Asyl und nahm kein Blatt vor den Mund, als er Boluartes Regime als autoritär und repressiv bezeichnete. Er schreckte auch nicht davor zurück, auf die eindeutige Verwicklung der USA in die jüngsten Ereignisse hinzuweisen, oder auf die Tatsache, dass der US-Botschafter in Peru ein ehemaliger CIA-Agent ist.
Wir könnten das, was in Peru geschieht, sogar als den Beginn einer neuen geopolitischen Ausrichtung betrachten. Chile hat Boluartes Regierung schnell anerkannt, und es ist nicht klar, wie Lula sich verhalten wird. Das war an sich schon überraschend, da Boluarte bis vor kurzem nur direkte Kontakte zu den USA und den rechtsgerichteten Präsidenten Guillermo Lasso aus Ecuador und Luis Lacalle Pou aus Uruguay hatte. Leider sieht es so aus, als ob Peru Teil einer neu konfigurierten rechten Achse in Lateinamerika werden könnte.
Anahí Durand ist die ehemalige peruanische Ministerin für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen.