30. Juni 2022
Die bizarren Anfeindungen gegen die streikenden britischen Eisenbahner beweisen eines: Sie machen alles richtig. Andere Sektoren wollen sich ihnen jetzt anschließen.
Mike Lynch, Gewerkschaftssekretär der RMT, bei einer Kundgebung in London, 25. Juni 2022.
In den letzten Wochen drängte sich der Eindruck auf, dass die Hetzkampagne gegen die britischen Eisenbahner und ihre Gewerkschaft einen außergewöhnlich aggressiven Charakter angenommen hat. Und der Schein trügt nicht. Nachdem 40.000 Mitglieder der britischen Eisenbahn- und Transportgewerkschaft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) Ende letzten Monats für einen Streik gestimmt haben, haben die Medien und das politische Establishment unerbittlich dagegen Stimmung gemacht.
Das hat mitunter bizarre Situationen provoziert. In der TV-Talkshow Piers Morgan Uncensored bekrittelte Großbritanniens bekanntester Provokateur den Generalsekretär der RMT, Mick Lynch, wegen seines Facebook-Profilbildes: »[Dein Profil] ist ein Bild [des fiktiven Bösewichts] the Hood aus [der Marionetten-Serie] Thunderbirds ... Ich frage mich, was dieser Vergleich nahelegen soll. Diese Figur ist ein böser, krimineller, terroristischer Strippenzieher, der [in der Serie] als der ›gefährlichste Mann der Welt‹ gilt ... Vergleichst Du Dich selbst mit the Hood?«
Lynch wehrte diese Frage gekonnt ab – sein Profilbild ist nebenbei gesagt einfach nur eine Anspielung auf seine Glatze und markanten Augenbrauen [also seine optische Ähnlichkeit mit der Marionettenfigur]. Dieser absonderliche Vorfall liefert einen Vorgeschmack auf das, was der Gewerkschaft an öffentlicher Verunglimpfung noch bevorsteht. Kurz darauf hatte der Tory-Abgeordnete Chris Philp aus Croydon South Lynch öffentlich dafür kritisiert, eine Tarifverhandlung sausen haben zu lassen, um an einer Protestkundgebung teilzunehmen, obwohl für den fraglichen Tag gar keine Verhandlungen angesetzt waren.
In einem anderen Interview konfrontierte der TV-Moderator Jeremy Kyle den stellvertretenden RMT-Generalsekretär Eddie Dempsey mit der Aussage, das Jahresgehalt von Mick Lynch summiere sich auf »ein Paket« von 124.000 Pfund. »Sie wissen genau, dass das stimmt«, bekräftigte er. Nur: Das war bestenfalls eine Halbwahrheit. Um auf diese horrende Summe zu kommen, rechnete Kyle Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung und eine ganze Litanei an Belanglosigkeiten hinzu.
Doch es gab noch heftigere Anschuldigungen. Die Ehre für den wohl absurdesten Vorwurf gebührt dem Tory-Abgeordneten Chris Loder aus Dorset, der im Parlament führende Mitglieder der RMT beschuldigte, Agenten von Wladimir Putin und Russland zu sein. Loder behauptete, die Gewerkschaft würde die Labour Party »finanzieren« – dabei hat sich die RMT im Jahr 2004 offiziell von der Partei unabhängig gemacht.
Während des gesamten vergangenen Monats haben Medienkommentatoren und Politikerinnen alles daran gesetzt, den Streik der Eisenbahner als eine Frage der Sicherung überzogener Privilegien zu charakterisieren. »Eine Lokführerin verdient im Schnitt 59.000 Pfund, eine Pflegekraft 31.000 Pfund«, erklärte der Verkehrsminister der Tories, Grant Shapps, gegenüber dem Fernsehsender Sky News. Wie können diese gierigen RMT-Beschäftigten angesichts dieses gewaltigen Lohnunterschieds also noch mehr verlangen?
Shapps weiß natürlich ganz genau, dass es beim Arbeitskampf der RMT nicht nur um die Lokführerinnen und Lokführer geht, sondern um 40.000 Beschäftigte, die bei den Bahnunternehmen die unterschiedlichsten Berufe ausüben. Und Shapps kennt auch das Durchschnittsgehalt dieser Beschäftigten ganz genau: 31.000 Pfund. Hier spiegelt jemand ganz offensichtlich falsche Tatsachen vor – aber immerhin können die Pflegekräfte ganz bestimmt auf seine Unterstützung hoffen, wenn sie nächstes Mal über einen Streik abstimmen.
Die Wahrheit ist, dass die RMT-Mitglieder keine extravaganten Gehälter beziehen. Sie werden lediglich ein bisschen besser bezahlt als der Durchschnitt. Und zwar aus einem guten Grund: Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner gehören zu den am besten organisierten Beschäftigten Großbritanniens und sind daher wahrscheinlich am ehesten bereit dazu, ihre Bedingungen zu verteidigen.
In anderen Branchen der britischen Wirtschaften geht es längst zu wie im Wilden Westen: Null-Stunden-Verträge, betrügerische Scheinselbstständigkeit, Uberisierung und der regelmäßige Gang zur Lebensmitteltafel, um das kleine Gehalt aufzustocken, sind weit verbreitet. Im Vergleich dazu haben die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner auf ihrem Recht bestanden, in den Streik zu treten, wenn ihnen schlechte Bedingungen aufgezwungen werden.
Im Niedriglohnland Großbritannien sind Streiks inzwischen zur Ausnahme geworden. Wie Erhebungen des Office for National Statistics (ONS) zeigen, haben sich 1979 rund 4 Millionen Beschäftigte an Arbeitskämpfen beteiligt. 2017 waren es gerade einmal 33.000. Eine ganze Serie von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen hat die Durchführung effektiver Streiks enorm erschwert – so wurde etwa das Recht auf Solidaritätsstreiks abgeschafft, drakonische Vorschriften für Streikposten eingeführt und strafrechtliche Sanktionen gegen Gewerkschaften verhängt.
Eines der jüngsten gewerkschaftsfeindlichen Gesetze schreibt vor, dass Beschäftigte nur dann streiken dürfen, wenn bei einer Abstimmung, an der sich mehr als die Hälfte der Belegschaft beteiligen muss, auch mehr als die Hälfte dafür ausspricht. Würde man eine ähnliche Regel für die Wahlbeteiligung in der Politik geltend machen, hätte man sämtliche Kommunalwahlen der letzten Zeit für ungültig erklären müssen. Aber Politikerinnen und Politiker werden mit derartigen Vorschriften niemals konfrontiert.
Diese Gesetze sind darauf angelegt, Streiks zu verhindern. Die Tatsache, dass Arbeiterinnen und Arbeitern die Möglichkeit genommen wurde, wirksam in den Streik zu treten, hat ihre Verhandlungsposition massiv geschwächt und zu Großbritanniens längster Lohnstagnation seit 1800 geführt. Die RMT und ihre 40.000 Mitglieder haben bei der Abstimmung über den Streik nicht nur die notwendigen Hindernisse überwunden, sie haben sie regelrecht zerschlagen: Bei einer Wahlbeteiligung von 71 Prozent stimmten 89 Prozent dafür.
Dieses Ergebnis hat das Establishment in Schock versetzt. Denn es weiß ganz genau, welches Signal die RMT damit an Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern im ganzen Land aussendet: Wenn man die Löhne und Arbeitsbedingungen bekommen will, die man verdient, dann sollte man sich kollektiv organisieren und sie sich erkämpfen.
In einer Zeit, in der viele Menschen Abstriche machen müssen, ist das eine starke Botschaft. Denn wenn in einer Wirtschaft mit einer Inflationsrate von 11 Prozent echte Lohnerhöhungen ausbleiben, dann führt das notgedrungen zu sinkenden Lebensstandards. Für einige bedeutet das vielleicht, dass sie sich einige Dinge, die das Leben lebenswert machen, nicht mehr leisten können; doch für viele andere bedeutet es, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie ihre Wohnung heizen oder das Geld für Lebensmittel ausgeben wollen.
Die greifbare Ungerechtigkeit, die sich in diesen Missständen ausdrückt, ist ein Pulverfass, dass die Grundfesten der britischen Politik in den kommenden Jahren zu erschüttern droht. Es waren nicht die Beschäftigten, die diese Preissteigerungen angeheizt haben, selbst Boris Johnson musste einräumen, dass das Lohnniveau in den letzten Jahren zu tief abgefallen ist. Warum sollten Arbeiterinnen und Arbeiter weitere Sparmaßnahmen jetzt widerstandslos über sich ergehen lassen?
Das Establishment befürchtet nun, dass sie das nicht tun werden. Genau deshalb ist ihnen die RMT so verhasst. Sie wissen, dass ihr Streik weitere Arbeitskämpfe inspirieren könnte. Sie sind nicht besorgt darüber, dass die Eisenbahner ihre Lohnerhöhung bekommen könnten, während die Pflege-, Lehr- und Reinigungskräfte leer ausgehen. Wovor sie sich am meisten fürchten, ist, dass diese Beschäftigten sich an der RMT ein Beispiel nehmen und ähnliche Forderungen stellen werden.
Und um genau zu sein, geschieht das bereits. Bei den Mitgliedern der Verkehrsgewerkschaften Transport Salaried Staffs’ Association (TSSA), Associated Society of Locomotive Engineers and Firemen (ASLEF) und Unite sowie Postangestellten, Ingenieurinnen, Ingenieuren und Callcenter-Beschäftigten der Gewerkschaft Communication Workers Union (CWU), Lehrkräften der National Education Union (NEU), Beschäftigten des Gesundheitswesens in der Gewerkschaft UNISON sowie Angestellten des öffentlichen Dienstes stehen Urabstimmungen bevor. Arbeiterinnen und Arbeiter finden neues Selbstvertrauen – und die Angst, die sie verspürten, wechselt die Seiten.
Wie wir schon im April schrieben, steht uns der heißeste Streiksommer seit Jahren bevor. Und wenn die RMT diesen Kampf gewinnt, dann können wir uns schon einmal darauf einstimmen, dass Millionen von anderen dazu ermutigt werden, ebenfalls für das zu kämpfen, was ihnen zusteht.