06. April 2020
Während der Finanzkrise hieß es, man sollte den Crash nicht »politisieren«. Darauf folgte ein Jahrzehnt der Austerität. Klar ist, dass auch die Corona-Krise gravierende Folgen in der Wirtschaft nach sich ziehen wird – umso wichtiger ist es jetzt, sozialistische Antworten auf die Krise zu finden.
Patienten werden auf dem Hospitalschiff der US-Marine, USNS Mercy, im Hafen von Los Angeles behandelt
Das letzte Mal, dass wir mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert waren, die auch nur annähernd so schwerwiegend war wie die uns bevorstehende, war im Jahr 2008, als das globale Bankensystem unter der Last seiner eigenen Exzesse zusammenbrach.
Als die US-Regierung entschied, die Investmentbank Lehman Brothers bankrottgehen zu lassen und die Finanzmärkte in den freien Fall zu stoßen, erkannten die Staatsführungen dieser Welt, dass es Zeit war zu handeln. Zunächst stellten sie den weltgrößten Banken kurzfristige Kredite im Umfang von Billionen von Dollar zur Verfügung, um ihre Liquidität zu sichern. Aber sie mussten bald einsehen, dass die Banken nicht einfach nur illiquide waren (also kein Bargeld mehr hatten), sondern insolvent (d.h. völlig unfähig, ihre Schulden zu bezahlen). Daher sprangen sie ihren Finanzsystemen mit Rettungsaktionen zu Hilfe, die die Staaten zu bedeutenden Anteilseignern vieler der größten Finanzinstitutionen der Welt machten.
In den darauffolgenden Jahren ergriff eine Reihe von Ländern fiskalische Maßnahmen, um die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft zu begrenzen. Zunächst beschlossen sowohl die USA als auch Großbritannien große Konjunkturprogramme, um Arbeitsplatzverluste aufzufangen und eine keynesianische Abwärtsspirale in der Nachfrage zu unterbinden. So wurde versucht, eine Wiederholung der letzten großen Weltwirtschaftskrise, der Great Depression, abzuwenden. Doch tatsächlich bewahrte China die Weltwirtschaft vor einer neuen Depression – mit einem Konjunkturpaket im Wert von fast 20 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Diese massiven staatlichen Investitionen retteten sowohl die chinesische Wirtschaft als auch die Volkswirtschaften ihrer wichtigsten Handelspartner.
Bald jedoch wechselten Regierungen überall auf der Welt ihren Kurs. In Europa standen Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien 2010 vor einer Staatsschuldenkrise – einer Spätfolge der Finanzkrise in den Ländern, deren Geldpolitik durch die Euro-Mitgliedschaft eingeschränkt war. Die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verlangte als Gegenleistung für ihre Hilfsprogramme harte Sparmaßnahmen von Ländern wie Griechenland. Großbritannien folgte dem Beispiel und verhängte ein drastisches Sparprogramm, obwohl es keinerlei Anzeichen für eine bevorstehende Staatsschuldenkrise gab.
Woher dieser plötzliche Umschwung? Die Interpretation der Geschehnisse im Jahr 2008 ist von Anfang an von links und rechts umkämpft gewesen. Viele in der Linken erwogen selbstgefällig, dass die Finanzkrise ihren Warnungen vor der Unhaltbarkeit des Finanzkapitalismus Recht geben würde. Die Rechten, die anfangs von der globalen Finanzkrise eingeschüchtert waren, hatten bald ihr eigenes Narrativ entwickelt: Was 2008 geschehen war, sei nicht einfach eine Krise des internationalen Finanzsystems gewesen, sondern von verschwenderischen Regierungen verursacht worden, die zu viel Geld für öffentliche Dienstleistungen ausgegeben hatten.
Der vom Thatcherismus durchgesetzte Common Sense besagt, dass ein Staat nur so viel Geld ausgeben kann, wie er an Steuern einnimmt. Dieser Leitlinie folgend forderten die Konservativen in Großbritannien harte Sparmaßnahmen ein und gewannen mit diesem Austeritätsnarrativ 2010 die Wahlen. Seitdem sind 120.000 Menschen in direkter oder indirekter Folge der Sparpolitik dieser Regierung gestorben. Die britische Wirtschaft – und mit ihr auch die Löhne und die Produktivität – stagnieren seit zehn Jahren und die Staatsverschuldung beläuft sich heute auf einen größeren Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts als noch im Jahr 2010. Die Politik der Austerität ist also – an ihren eigenen Maßstäben gemessen – gescheitert.
Im Zuge der Finanzkrise verbreiteten die Konservativen absichtlich falsche Botschaften, um politischen Profit aus einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte zu ziehen. Die Labour Party war nicht viel besser: Da die Strategie der Tories Erfolg zeigte, sprach sich auch Labour für eine – wenn auch mildere – Austerität sowie für Einwanderungskontrolle aus. Damit war die hegemoniale Antwort auf die Krise etabliert.
Die Corona-Krise entspinnt sich zu einem Zeitpunkt, in dem die Rechten an der Macht sind. Die Bürgerinnen und Bürger, die Medien und sogar die Gesundheitssysteme werden aufgefordert, sich geschlossen hinter das Regierungsnarrativ zu stellen. Die Infragestellung der Politik der Regierung – sei es in Bezug auf Gesundheitspolitik, Geldpolitik oder Sozialhilfe – würde eine unredliche »Politisierung« einer Gesundheitskrise bedeuten.
Die Annahme, dass die Corona-Krise »politisiert« werden könne, unterstellt, dass sie nicht bereits inhärent politisch sei. Selbstverständlich war der Ausbruch des Virus ein natürliches – und den Untersuchungen der Gates Foundation zufolge vorhersehbares – Ereignis. Doch die Frage nach seinen wirtschaftlichen Auswirkungen und insbesondere der Verteilung der anfallenden Kosten könnte kaum politischer sein. Wenn wir uns eine weitere Lektion der Rechten in Sachen Katastrophenkapitalismus ersparen wollen, müssen wir die wahrscheinlichen Folgen dieser Krise für unsere Wirtschaft abschätzen und uns entsprechend vorbereiten.
Die Panik über das Coronavirus wirkt sich bereits jetzt auf die Finanzmärkte aus: Unter anderem die US-amerikanischen Aktienindizes S&P und Dow Jones sowie der britische FTSE haben größere Rückgänge als im Jahr 2008 erlebt. Die fallenden Aktienkurse spiegeln die Erkenntnis der Investorinnen und Investoren wider, dass der Weltwirtschaft eine tiefe Rezession bevorsteht, wenn die Grenzen dicht gemacht werden, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Hause bleiben müssen und sowohl Konsum als auch Investitionen einbrechen. Nach einem Jahrzehnt steigender Unternehmensverschuldung besteht große Sorge, dass sinkende Umsätze eine Kaskade von Firmenpleiten auslösen werden, die auch einigen großen Finanzinstituten gefährlich werden könnten.
Bis hierhin ähnelt die Corona-Krise einer gewöhnlichen Rezession. Doch es gibt eine Reihe bedeutender Unterschiede zwischen der Krise, mit der wir derzeit konfrontiert sind, und jener, die auf den Crash von 2008 folgte. Nach 2008 verloren viele Menschen ihre Wohnungen und Häuser und viele weitere auch ihre Arbeitsplätze. Das Leid war groß und nicht auf die Ärmsten in der Gesellschaft begrenzt. Dagegen sind die wirtschaftlichen Risiken der Corona-Rezession viel individueller und – insbesondere für Großbritannien – auch viel schwerwiegender.
Vor allem in London, wo sich das Virus am stärksten ausbreitet, werden viele Menschen ihre Mieten und Rechnungen nicht von den 94,25 Pfund gesetzlichem Krankengeld pro Woche bestreiten können, das jenen zur Verfügung steht, die sich selbst isolieren müssen. Und Selbständige, Angestellte in der Gig Economy und Menschen mit Arbeitsverträgen, die keine Mindestarbeitszeit festlegen, haben möglicherweise nicht einmal Anspruch auf Krankengeld.
Die wachsende Zahl der Menschen ohne stabile Arbeitsverhältnisse sieht sich mit dramatischen Einkommenseinbußen konfrontiert, weil Unternehmen den Handel einstellen, die Leute ihren Konsum einschränken und öffentliche Räume nach und nach geschlossen werden. Selbst wenn sie nicht zur Selbstisolation gezwungen sind, müssen diejenigen ohne regelmäßiges Einkommen – und das betrifft neben den bereits genannten Gruppen auch Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer sowie Personen, deren Gehälter auf Provision basieren – mit einem sofortigen und dauerhaften Ausbleiben ihrer Einkünfte rechnen.
Nach einem Jahrzehnt der Austerität sind die Ersparnisse der Privathaushalte besorgniserregend gering. Im Jahr 2017 haben die Haushalte erstmals seit 1987 mehr ausgegeben als sie eingenommen hatten, wobei sie die Differenz durch das Aufbrauchen ihrer Ersparnisse und die Aufnahme neuer Schulden ausgleichen mussten. In Großbritannien haben bereits mehr als acht Millionen Haushalte mit verschiedenen Formen von Problemschulden zu kämpfen.
Mit hohen Mieten, hohen Transportkosten und stagnierenden Löhnen befand sich Großbritannien bereits in einer Krise der Lebenshaltungskosten, bevor das Coronavirus zuschlug. Wie sollen Familien mit weiteren Lohneinbußen fertig werden, wenn die Banken weiterhin die Rückzahlung von Schulden einfordern, die Vermieterinnen und Vermieter weiterhin Miete verlangen und die Versorgungsunternehmen weiterhin Rechnungen stellen?
Auch die Zentralbanken sind heute weitaus stärker eingeschränkt als 2008. Die Geldpolitik ist bereits extrem locker – die Zinsen wurden schon so weit wie möglich gesenkt, ohne in das gefährliche Terrain negativer Zinssätze vorzudringen. Zwar könnte die quantitative Lockerung noch fortgesetzt werden – allerdings gab es schon vor der Krise Anzeichen dafür, dass sich weitere Geldschöpfung immer weniger rentiert. Die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve hat dem Finanzsektor bereits kurzfristige Kredite im Wert von 1,5 Billionen Dollar angeboten – doch selbst das konnte die Panik nicht eindämmen.
Jede einzelne dieser Fragen ist politisch, denn jedes dieser Probleme – von den niedrigen Löhnen über die hohen Schulden bis hin zu dem Umstand, dass bereits sämtliches Pulver der Geldpolitik verschossen ist – resultiert aus den Maßnahmen früherer Regierungen. Und nur die heutigen Regierungen können sich dieser Probleme annehmen. Allgemeine Konjunkturprogramme und weitere quantitative Lockerungen der Geldpolitik werden nicht ausreichen.
Regierungen müssen gezielt Familien unterstützen, die infolge der Corona-Krise Einkommensverluste erleiden. Denn ansonsten werden wir dabei zusehen müssen, wie die Menschen entweder die staatlichen Vorgaben zur Selbstisolierung ignorieren und das Virus weiterverbreiten, oder sich ihnen fügen und innerhalb weniger Monate ihre Wohnungen verlieren und bankrottgehen. Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die die »Politisierung« der Krise beklagen, nicht vor diese Wahl gestellt werden.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.