15. April 2022
Was hat uns ein chilenisches Computerprojekt aus der Zeit Salvador Allendes heute noch zu sagen?
Auch wenn wir oft zu hören bekommen, dass die Vergangenheit Lehren für die Gegenwart bereithält, so wenden wir uns auf der Suche nach Inspiration doch nur selten älteren Technologien zu. Noch seltener ziehen wir in Betracht, dass uns die historischen Erfahrungen weniger industrialisierter Nationen etwas über die technologischen Herausforderungen der Gegenwart zu sagen haben könnten – geschweige denn, dass ein Jahrzehnte altes sozialistisches Projekt uns bei der Einordnung der Technologien des heutigen Silicon-Valley-Kapitalismus helfen könnte.
Und doch liefert uns ein in den 1970er Jahren im sozialistischen Chile entwickeltes Computersystem – das Projekt Cybersyn – einige Denkanstöße für unseren heutigen Umgang mit Technologien und Datenströmen.
Cybersyn war ein mutiges technologisches Projekt im Rahmen eines ebenso mutigen politischen Projekts. Es entstand zu einer Zeit, in der sich Chile auf seinem friedlichen Weg zum Sozialismus befand: Salvador Allende hatte die chilenische Präsidentschaftswahl 1970 mit dem Versprechen gewonnen, eine von Grund auf andere Gesellschaft aufzubauen. Sein politisches Programm würde aus Chile einen demokratisch-sozialistischen Staat machen, der die Verfassung achtet und individuelle Freiheiten gewährleistet.
Allende verfolgte unter anderem das Ziel, dem Staat die Kontrolle über Chiles wichtigste Industrien zu übertragen. Obwohl die Erfahrung der Regierung auf dem Gebiet der Wirtschaftslenkung sehr begrenzt war, hatte sie bis Ende 1971 die Kontrolle über mehr als 150 Unternehmen übernommen – darunter zwölf der zwanzig größten chilenischen Firmen.
Die Frage, wie diese frisch vergemeinschafteten Unternehmen zu leiten seien, veranlasste den jungen chilenischen Ingenieur Fernando Flores dazu, einen britischen Kybernetiker namens Stafford Beer um Rat zu ersuchen. Flores arbeitete für die Regierungsbehörde, die mit der Verstaatlichung beauftragt war; Beer war ein international renommierter Unternehmensberater und für seine Arbeit auf dem Gebiet der Managementkybernetik bekannt, die er als die »Kybernetik effektiver Organisation« definierte.
Gemeinsam stellten sie ein britisch-chilenisches Team zusammen, das ein neuartiges technologisches System entwickeln sollte, um die Regierung zu einer effektiveren Koordinierung der staatlichen Wirtschaft zu befähigen.
Das System würde der Regierung täglich Zugang zu den Produktionsdaten der Fabriken gewähren und ihr eine Reihe computerisierter Tools zur Verfügung stellen, auf deren Grundlage sie ökonomische Prognosen vornehmen könnte. Vorgesehen war außerdem eine futuristische Kommandozentrale, in der die Entscheidungsfindung der Regierung durch gemeinsame Beratung und bessere Aufbereitung von Daten befördert werden sollte. Beer ersann Möglichkeiten, die Autonomie der Betriebe auch bei zunehmendem staatlichen Einfluss zu wahren und zugleich die Mitbestimmung von Arbeiterinnen und Arbeitern in der Wirtschaft auszubauen.
Die Mitglieder der chilenischen Regierung gingen davon aus, dass dieses System den Erfolg von Allendes Wirtschaftsprogramm und damit die sozialistische Revolution in Chile vorantreiben würde. Beer nannte es Cybersyn – in Anspielung einerseits auf die Kybernetik, also die wissenschaftlichen Prinzipien, die seine Entwicklung anleiteten, und andererseits auf die Idee der Synergie, wonach die Gesamtheit eines Systems mehr ist als die Summe seiner technologischen Bestandteile.
Auch Jahrzehnte nach der Gründung von Cybersyn hält das Projekt noch immer wertvolle Erkenntnisse für die Gegenwart bereit. Erstens erinnert es uns daran, dass der Staat eine wichtige Rolle in der technischen Entwicklung spielt. Er kann Innovationen vorantreiben, die der Gesellschaft zugute kommen und marginalisierten Gruppen helfen, anstatt eng definierte Effizienzziele abzustecken, die nichts als die Profitsteigerung befördern. Zweitens müssen wir uns im Klaren darüber sein, wie die Potenziale von Technologien, die eine stärkere demokratische Mitbestimmung und Integration ermöglichen könnten, durch Vorurteile und Befangenheiten im Entwicklungsprozess beeinträchtigt werden. Drittens mögen zwar die kurzen Konsumzyklen von Elektronikprodukten nahelegen, dass Technologien schnell veralten – in Wirklichkeit aber können wir aktuelle Probleme durch den Einsatz älterer Technologien lösen und dabei zugleich Kosten senken und weniger Abfall erzeugen. Viertens ist Datenschutz unabdingbar, um einen möglichen Missbrauch der zentralen Kontrolle zu verhindern. Und fünftens müssen wir kreativ über die Veränderung der sozialen und organisatorischen Systeme nachdenken, wenn wir die Potenziale der Technologie bestmöglich nutzbar machen wollen – denn technologische Innovation allein wird aus der Welt keinen besseren Ort machen.
Der Staat spielt eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Technologie. Er kann auf die Entwicklung von Systemen hindrängen, die gewöhnlichen Leuten zugute kommen. Er kann aber auch das Gegenteil tun. So ist etwa die US-amerikanische Geschichte der Informatik von dem Verlangen des Staates nach Herrschaft und Kontrolle sowie dem Streben nach Automatisierung geprägt.
Die Herangehensweise der Allende-Regierung bei der Entwicklung von Cybersyn zeigt, dass das nicht so sein muss. Die Erhöhung der Beschäftigung stand nicht nur im Zentrum von Allendes Wirtschaftsplan, sondern bildete auch die Basis seiner Gesamtstrategie zur Förderung der Interessen der chilenischen Bevölkerung. Seine Regierung unterstützte neue Formen der Mitbestimmung von Arbeiterinnen und Arbeitern in ihren Betrieben sowie die Einbeziehung ihres Wissens in die ökonomische Entscheidungsfindung.
Dieses politische Klima ermöglichte es Beer, Computertechnologie als eine Möglichkeit der Ermächtigung der arbeitenden Bevölkerung zu betrachten. Im Jahr 1972 verfasste er einen Bericht für die chilenische Regierung, in dem er vorschlug, anstelle von Managerinnen oder Regierungstechnokraten chilenischen Arbeiterinnen und Arbeitern die Kontrolle über das Projekt Cybersyn zu übertragen. Noch radikaler war seine Idee, sie bereits in die Entwicklung von Cybersyn miteinzubeziehen.
Er empfahl der Regierung, Arbeiterinnen – und nicht Ingenieure – mit der Ausarbeitung von Modellen für die staatlich kontrollierten Fabriken zu beauftragen, da sie am besten qualifiziert seien, die Arbeitsabläufe im Betrieb zu verstehen. So würden sie bei der Entwicklung des Systems helfen, das sie im Anschluss selbst leiten und gebrauchen würden. Ihnen zu erlauben, sowohl ihre Köpfe als auch ihre Hände zu benutzen, würde auch ihr Gefühl der Entfremdung von ihrer Arbeit reduzieren.
Beers Idee demokratischer Beteiligung hatte ihre Mängel: So berücksichtigte er zum Beispiel nicht, inwiefern das Einprogrammieren des Wissens von Arbeiterinnen und Arbeitern in die Software eines Computersystems letztlich zu ihrer Entmachtung führen könnte – insbesondere, wenn sich der politische Kontext verändern sollte.
Nichtsdestoweniger bewies Beer visionäre Vorstellungskraft, indem er sich überlegte, wie Computerisierung im Kontext der Fabrik auf ein anderes Ziel als Beschleunigung und Entqualifizierung hinwirken könnte. Letztere nämlich waren das Ergebnis kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung, wie sie unter anderem der Arbeitsökonom Harry Braverman in den USA beobachtet hat, wo sich die Regierung weder der aktiven Begrenzung von Arbeitslosigkeit noch der Anregung demokratischer Mitbestimmung verschrieben hatte. Braverman veröffentlichte seinen mittlerweile zum Klassiker gewordenen Text Die Arbeit im modernen Produktionsprozess im Jahr 1974, also etwa zu der Zeit, als Beer für die Allende-Regierung arbeitete. Darin zeigt er auf, in welcher Weise Technologien wie computergesteuerte Maschinen zur Automatisierung beitragen und damit zur Entqualifizierung von Arbeit führen – selbst in hochspezialisierten Bereichen wie dem Ingenieurwesen.
Denselben Prozess konnte er auch in Zusammenhang mit der Nutzung von Computern in Büros nachweisen. Computer schematisieren Büroarbeiten zunehmend und erlauben dem Management, die Arbeitsleistung der einzelnen Angestellten umfassender zu überwachen. Unter diesen Bedingungen kann die erhöhte Arbeitsgeschwindigkeit zu mehr Entlassungen führen.
Beer sah die Computerisierung nicht zuletzt deshalb in einem anderen Licht, weil der chilenische Staat sein sozialistisches Computersystem für andere als die von Braverman beschriebenen Zwecke entwickelte. Das verschaffte Beer die Freiheit, den Einsatz von Technologien in der Herstellungsindustrie neu zu konzeptualisieren und Computer als ein Mittel zur Ermächtigung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu betrachten.
Das Projekt Cybersyn zeigt, dass der Staat die Voraussetzungen für neue Denkweisen in der Technologieentwicklung schaffen kann. Der Staat kann von Entwicklerinnen und Entwicklern verlangen (und sie dazu inspirieren), Systeme zu entwerfen, die den Interessen der breiteren Bevölkerung dienen können – ganz gleich, ob sie sich nun mit den Ansprüchen nach Profit, Markterfolg, Effizienz, technischer Eleganz oder Coolness des Designs in Einklang bringen lassen. Die technologische Innovation wurde nicht erst im Start-up-Milieu des Silicon Valley geboren – und sie kann sich auch dadurch weiter entfalten, dass sie Betrachtungsweisen einbezieht, die außerhalb des Blickfelds des Marktes liegen.
Überlieferte Vorurteile lassen sich nicht über Nacht abbauen. Wir müssen wachsam sein, um zu verhindern, dass sie in die Entwicklung und Gestaltung neuer Systeme einfließen. Anderenfalls können auch Technologien, die einen Ausbau demokratischer Partizipation und eine verbesserte Mensch-Maschine-Interaktion bezwecken, zu Ausschlüssen und Marginalisierung führen. Auch hier liefert Cybersyn wichtige Einsichten.
Das Projekt Cybersyn ist vor allem für seine futuristisch anmutende Kommandozentrale bekannt, die die demokratische Entscheidungsfindung erleichtern sollte: ein sechseckiger Raum mit sieben kreisförmig angeordneten Stühlen. Das Designteam bestand auf einer ungeraden Anzahl von Stühlen, um den Fall eines Unentschiedens bei der Abstimmung zu verhindern. Auch lehnten sie es ab, einen Tisch aufzustellen, der ihrer Meinung nach eher das Rascheln mit Papieren befördert als eine lebhafte Diskussion.
An den Wänden des Raumes hingen eine Reihe von Bildschirmen, auf denen Daten über die Lage der Wirtschaft sowie Warnsignale angezeigt wurden, die auf Bereiche hinwiesen, denen sich die Regierung dringend zuwenden sollte. Die Wanddisplays setzten Farbe, Licht und Grafikdesign so ein, dass die Versammelten die Komplexität von Chiles industriellem Sektor schnell begreifen konnten. Die ersten Entwürfe für den Raum sahen sogar Platz für eine Minibar vor.
Das Design der Stühle im Raum war in ähnlicher Weise sorgfältig durchdacht. Beispielsweise würden die Versammelten die Informationsanzeigen mithilfe von Tasten für »große Hände« navigieren, die an der Armlehnen der Stühle angebracht waren. Diese großen geometrischen Tasten ersetzten die traditionelle Tastatur und spiegelten das Klassenbewusstsein des Designteams wider. Sie argumentierten, dass die chilenischen Arbeiter damals keine Erfahrung im Umgang mit Tastaturen hätten und die geometrischen Knöpfe eine benutzerfreundliche Alternative böten, die ihre Partizipation befördern würde.
Hochrangige Regierungsbeamte waren nach Ansicht des Teams die anderen wahrscheinlichen Nutzer der Kommandozentrale. Diese hatten ebenfalls nur begrenzt Erfahrung mit der Tastatur, wenn auch aus einem anderen Grund: Sie hatten Sekretärinnen. Wie Beer anmerkte, würde die Verwendung einer Tastatur diesen Beamten suggerieren, dass sie »ein Mädchen zwischen sich und die Maschinerie« einzuschalten hätten, wo es doch »unerlässlich ist, dass die Versammelten direkt mit der Maschine und miteinander interagieren«.
Auf diese Weise ermöglichten es die großen Tasten, Frauen aus dem Raum der Entscheidungsfindung auszuschließen. Auch förderten sie maskuline Ausdrucksweisen. Wie Beer schrieb, konnte auch auf die Knöpfe »eingehämmert« werden, wenn man einen Standpunkt mit besonderem Nachdruck vorbringen wollte.
Solche Designentscheidungen waren nicht neutral. Sie spiegelten wider, welche Personengruppen nach Annahme des Designteams im revolutionären Chile die Macht innehaben würden: Männliche Fabrikarbeiter und Regierungsbürokraten würden die Entscheidungsgewalt haben – Büroangestellte und Frauen hingegen nicht.
Diese Designentscheidungen offenbaren eine Unzulänglichkeit der revolutionären Vorstellungskraft im Chile der 1970er Jahre. Sie veranschaulichen auch, wie uns Annahmen über Geschlecht und Klasse anhaften können, selbst wenn wir eine Zukunft entwerfen, die egalitärer und gerechter sein soll.
Neue Technologien sind in Hinblick auf Verbrauch und Entsorgung elektronischer Geräte mit erheblichen Umweltschäden verbunden. Der weltweite Absatz elektronischer Geräte hat sich zwischen 1997 und 2009 verdoppelt. Nach Angaben der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde haben die Menschen in den Vereinigten Staaten im Jahr 2009 29,4 Millionen Computer und 129 Millionen mobile Geräte entsorgt. Im Jahr 2012 erzeugten die USA mit 9,4 Millionen Tonnen die weltweit größte Menge an Elektroschrott. Ein Großteil dieses Abfalls wird an Orten wie China, Indien und Pakistan verarbeitet, wo die Rückgewinnung von Wertstoffen wie etwa Gold die Arbeiterinnen und Arbeiter Blei und anderen giftigen Metallen aussetzen kann.
Der heutige Markt für elektronische Geräte basiert auf geplanter Obsoleszenz: Die Produkte veralten frühzeitig und geraten schnell aus der Mode. Die Verlängerung der Lebensspanne unserer elektronischen Geräte kann dabei helfen, das Elektroschrott-Problem anzugehen. Das Projekt Cybersyn hat gezeigt, dass es möglich ist, ein hochmodernes System mithilfe von Technologien zu schaffen, die nicht dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Es verdeutlicht, dass die Zukunft aus der technologischen Vergangenheit gewonnen werden kann.
Als das Projekt Cybersyn während der 1970er Jahre entwickelt wurde, gab es in ganz Chile nur etwa fünfzig Computer – und die meisten waren veraltet. Auch konnte Chile nicht bei IBM um Hilfe bitten. Nach der Wahl von Allende reduzierte IBM seine wirtschaftlichen Aktivitäten in Chile, weil das Unternehmen befürchtete, die chilenische Regierung würde seine Standorte verstaatlichen. Die Nixon-Regierung hatte außerdem eine »unsichtbare Blockade« eingerichtet, um die chilenische Wirtschaft zu destabilisieren und zu verhindern, dass Lateinamerika zu einem »roten Sandwich« würde – mit Kuba auf der einen und Chile auf der anderen Seite. Das beeinträchtigte Chiles Möglichkeiten, US-amerikanische Technologie zu importieren, noch weiter.
In der Folge kamen Beer und sein chilenisches Team auf eine geniale Idee, wie sie das Datenverarbeitungsnetzwerk, das die Fabriken des Landes mit der Kommandozentrale verbinden sollte, trotzdem realisieren konnten. Sie verbanden den einen veralteten Computer, der ihnen für das Projekt zur Verfügung stand, mit einer anderen Technologie, die ebenfalls alles andere als auf dem neuesten Stand der Technik war: nämlich dem Telexgerät – oder, besser gesagt, vielen Hunderten von ihnen. Und es funktionierte.
Im Jahr 1972 stürzte ein landesweiter Streik, der sich auf 40.000 LKW-Fahrer ausweitete, das Land in einen Ausnahmezustand und unterbrach die Verteilung von Lebensmitteln, Treibstoff und Rohstoffen für die Produktion. Die Regierung nutzte Cybersyns Telexnetzwerk, um freie Zufahrtswege zu ermitteln, die Verteilung von Schlüsselressourcen zu koordinieren und so die Produktion in den Fabriken aufrechtzuerhalten.
Das Cybersyn-Netzwerk verbesserte die Kommunikation in der Regierung und erhöhte die Geschwindigkeit und Frequenz, mit der die Regierung Nachrichten quer übers Land versenden und empfangen konnte, erheblich. Ihm fehlte die technologische Raffinesse von ARPANET, dem militärischen Kommunikationssystem der USA, das der Vorläufer des Internets und ein Zeitgenosse des chilenischen Telexsystems gewesen ist. Doch das chilenische Netzwerk verbrauchte weniger technische Ressourcen zu geringeren Kosten und erwies sich dennoch als ausgesprochen funktional. Es erfand alte Technologien neu und kombinierte sie mit anderen Formen organisatorischer und sozialer Innovation.
Neue Technologie ist nicht so immateriell, wie viele glauben. Wir sprechen oft davon, dass unsere Daten »in der Cloud« gespeichert werden – ein Begriff, der einen Mangel an Gegenständlichkeit unterstellt. Doch Datenfarmen benötigen erhebliche Mengen natürlicher Ressourcen. Ein 15-Megawatt-Rechenzentrum kann bis zu einer Million Liter Wasser am Tag verbrauchen. Das Utah Data Center der NSA benötigt sogar 3,8 Millionen Liter Wasser sowie 65 Megawatt Strom am Tag. Eine fortschrittliche Transformation neuer Technologien würde auf größere Selektivität bei der Datensammlung bestehen und kritisch hinterfragen, ob wir riesige Datenmengen speichern sollten, einfach nur, weil wir es können.
Das Projekt Cybersyn demonstriert auch, dass mit weniger mehr erreicht werden kann. Das chilenische Projekt versuchte nicht, die sowjetische Form der Wirtschaftskybernetik zu kopieren, die eine Fülle von Fabrikdaten sammelte und sie zur Weiterverarbeitung an eine zentralisierte Hierarchie von Rechenzentren weiterleitete. Es erfüllte die gleiche Aufgabe, indem es jeden Tag nur die zehn bis zwölf wichtigsten Produktionsindizes pro Fabrik übermittelte, die bei der Datenmodellierung in den Fabriken vorab identifiziert wurden.
Datenschutz ist der Schlüssel, um den Missbrauch zentralisierter Kontrolle zu verhindern. Jüngere technologische Innovationen wie Smartphones, der verstärkte Einsatz datengestützter Analyseverfahren und der Anstoß zur Gestaltung von Smart Cities sowie eines »Internets der Dinge« erleichtern die Datenerfassung. Sie ermöglichen es, große Mengen menschlicher und nichtmenschlicher Aktivitäten aufzuzeichnen.
In den 1970er Jahren charakterisierten kritische Stimmen das Projekt Cybersyn oft als eine Form autoritärer, zentralisierter Kontrolle, weil es Daten über die Aktivitäten der Fabriken sammelte und diese an die chilenische Regierung weiterleitete. Der New Scientist zum Beispiel brachte einen Leitartikel, der verkündete: »Wenn Cybersyn erfolgreich ist, wird Beer eine der mächtigsten Waffen der Geschichte geschaffen haben.«
Aber diese Interpretationen verschleierten, wie das System in Wirklichkeit funktionierte. Solche Fehldeutungen waren oftmals ideologisch gefärbt – in Chile selbst waren sie mit einer allgemeineren Kritik vonseiten der rechten politischen Opposition verbunden, die behauptete, die Allende-Regierung würde die chilenischen Bürgerrechte zunichte machen.
In Wirklichkeit stellte das Projekt Cybersyn keine missbräuchliche Form zentralisierter Kontrolle dar – denn es verfügte über Mechanismen zum Schutz und zur Erhaltung der Autonomie der einzelnen Fabriken. Diese Schutzmechanismen waren in sein System einprogrammiert. So konnte die Regierung zum Beispiel erst dann in die Aktivitäten der Fabriken eingreifen, wenn die Software eine Produktionsanomalie entdeckte und die Fabrik diese Anomalie nicht selbst innerhalb einer bestimmten Zeitspanne beheben konnte.
Außerdem beschränkten menschliche und technologische Grenzen den staatlichen Zugriff noch weiter. Etwa konnten die Beschäftigten in den Fabriken nicht jeden Tag Tausende von Produktionsindizes überwachen, sondern nur zehn bis zwölf der wichtigsten. Durch die Begrenzung der Anzahl der Indikatoren konnte die Software die dringendsten Notfälle, die staatliches Eingreifen erforderten, leichter erkennen. Allerdings war das System bei der Entscheidung darüber, welche Daten die Regierung tatsächlich benötigte, wiederum auf menschliche Sachverständige angewiesen.
Solche Beschränkungen machten einen Großteil der Aktivitäten in der Fabrik für die chilenische Regierung unsichtbar, erhielten so ihre Autonomie und bewahrten die chilenischen Arbeiterinnen und Arbeiter vor einer Orwellschen Überwachung. Sie erzeugten einen Datenschutz-Schirm, der es den Beschäftigten erlaubt hätte, sich an der Unternehmensführung zu beteiligen, ohne dass ihnen dabei die externe staatliche Bürokratie kontrollierend im Nacken säße.
Da Beer die Fabrikmodelle, die die Grundlage der Cybersyn-Software bildeten, von den Arbeiterinnen und Arbeitern selbst entwickeln ließ, konnten die Beschäftigten außerdem leichter verstehen, wie diese Form datengesteuerter Regulation funktionierte. Theoretisch war es ihnen so möglich, in die Black Box des Computersystems zu blicken und die Funktionsweise der darin stattfindenden analytischen Verarbeitung nachzuvollziehen.
Aber nur theoretisch – denn die Allende-Regierung wurde durch einen Militärputsch aufgelöst, der den Tod des Präsidenten zur Folge hatte und die chilenische Demokratie für die nächsten siebzehn Jahre aussetzte. Die Militärdiktatur, deren Wirtschaftspolitik oft als »neoliberale Schocktherapie« bezeichnet wird, beendete die Arbeit am Projekt Cybersyn noch vor seiner Fertigstellung. Für Wirtschaftsliberale ergab es keinen Sinn, ein Computersystem zu haben, das den Staat bei der Regulation der industriellen Produktion unterstützten sollte.
Dennoch ist Beers Konzept noch heute von Bedeutung, denn es vergegenwärtigt uns den Stellenwert der Transparenz – und mehr noch: der demokratischen Kontrolle – computergesteuerter Systeme. Wenn der Code als Gesetz zu verstehen ist, wie es der Rechtswissenschaftler Lawrence Lessing vorgeschlagen hat, dann sollte die Codierung neuer Technologien, die unser Leben prägen, nicht ausschließlich in den Händen von Programmiererinnen und Ingenieuren liegen.
Wir müssen über systemischen Wandel nachdenken anstatt über kurzfristige technologische Lösungen. Die Diskussionen über Smart Cities beispielsweise konzentrieren sich in der Regel auf die Verbesserung der Netzwerkinfrastrukturen und die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien wie integrierten Sensoren, Handy-Apps und Online-Diensten. Oftmals liegt diesem Ansatz die Annahme zugrunde, dass solche Interventionen automatisch die Lebensqualität in den Städten verbessern, indem sie der Bevölkerung den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen erleichtern und den Stadtverwaltungen Daten zur Verbesserung der Instandhaltung der Stadt zur Verfügung stellen.
Diesem technologischen Determinismus fehlt jedoch ein umfassendes Verständnis davon, wie sich solche Technologien auch negativ auf zentrale Aspekte des Stadtlebens auswirken könnten. Der Soziologe Robert Hollands argumentiert zum Beispiel, dass technologiezentrierte Smart-City-Initiativen einen Zustrom technologisch gut ausgebildeter Arbeitskräfte zur Folge haben und die Verdrängung anderer Arbeiterinnen und Arbeiter verschärfen könnten. Außerdem könnten sie die öffentlichen Mittel der Stadt von anderen wesentlichen Bereichen des städtischen Lebens abziehen und einen einseitigen Ausbau der Computerinfrastruktur befördern.
Hollands zufolge sollten progressive Smart Cities als erstes versuchen, die menschlichen Interaktionen in städtischen Umgebungen zu verstehen, dann analysieren, wie sie systematisch Machtasymmetrien erzeugen, und schließlich Technologien so in die städtische Umgebung integrieren, dass sie dazu beitragen, diese Asymmetrien auszugleichen.
Beer teilte diese Perspektive. Während seiner Arbeit am Projekt Cybersyn drückte er wiederholt seine Frustration darüber aus, dass es als ein Paket technologischer Lösungen erachtet wurde – eine Kommandozentrale, ein Netzwerk von Telexgeräten, ein Wirtschaftssimulator, Software zur Verfolgung von Produktionsdaten. Denn eigentlich ging es ihm vielmehr darum, die Verwaltung der chilenischen Wirtschaft umzustrukturieren.
Beer wollte verstehen, wie das System der chilenischen Wirtschaftslenkung funktionierte und wie staatliche Institutionen verändert werden könnten, um die Koordinierungsprozesse zu verbessern. Er betrachtete die Technologie also als eine Möglichkeit, die innere Organisation der chilenischen Regierung zu verändern.
Wäre er heute am Leben, würde Beer zweifellos beklagen, dass Digitalisierungsinitiativen von Regierungen – etwa Formulare online zu stellen oder bestehende Prozesse zu computerisieren – die Chance verpassen, die Organisationen selbst effektiver zu gestalten.
Wir müssen diesem unpolitischen »Innovationsdeterminismus« widerstehen, der die Entwicklung der nächsten App, des nächsten Online-Dienstes oder des nächsten vernetzten Geräts als den bestmöglichen Weg ansieht, die Gesellschaft voranzubringen. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie wir die Strukturen unserer Organisationen, politischen Prozesse und Gesellschaften zum Besseren verändern können und wie neue Technologien zu solchen Bemühungen beitragen könnten.
Die Herausforderungen, mit denen sich das Projekt Cybersyn konfrontiert sah, waren keine Eigenarten jener Zeit – wir werden uns ähnlichen Herausforderungen stellen müssen. Auch wenn das Projekt bei weitem nicht perfekt war, sollten seine Lehren nicht von jenen ignoriert werden, die eine Zukunft wollen, in der Technologie demokratisch und gemeinwohlorientiert eingesetzt wird.
Eden Medina ist Professorin für Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft am Massachusetts Institute of Technology und Autorin des Buches »Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s«.