15.04.2022
Was hat uns ein chilenisches Computerprojekt aus der Zeit Salvador Allendes heute noch zu sagen?
Illustration: Steffen Ullmann.
Von Eden Medina
Übersetzung von Thomas Zimmermann
Auch wenn wir oft zu hören bekommen, dass die Vergangenheit Lehren für die Gegenwart bereithält, so wenden wir uns auf der Suche nach Inspiration doch nur selten älteren Technologien zu. Noch seltener ziehen wir in Betracht, dass uns die historischen Erfahrungen weniger industrialisierter Nationen etwas über die technologischen Herausforderungen der Gegenwart zu sagen haben könnten – geschweige denn, dass ein Jahrzehnte altes sozialistisches Projekt uns bei der Einordnung der Technologien des heutigen Silicon-Valley-Kapitalismus helfen könnte.
Und doch liefert uns ein in den 1970er Jahren im sozialistischen Chile entwickeltes Computersystem – das Projekt Cybersyn – einige Denkanstöße für unseren heutigen Umgang mit Technologien und Datenströmen.
Cybersyn war ein mutiges technologisches Projekt im Rahmen eines ebenso mutigen politischen Projekts. Es entstand zu einer Zeit, in der sich Chile auf seinem friedlichen Weg zum Sozialismus befand: Salvador Allende hatte die chilenische Präsidentschaftswahl 1970 mit dem Versprechen gewonnen, eine von Grund auf andere Gesellschaft aufzubauen. Sein politisches Programm würde aus Chile einen demokratisch-sozialistischen Staat machen, der die Verfassung achtet und individuelle Freiheiten gewährleistet.
Allende verfolgte unter anderem das Ziel, dem Staat die Kontrolle über Chiles wichtigste Industrien zu übertragen. Obwohl die Erfahrung der Regierung auf dem Gebiet der Wirtschaftslenkung sehr begrenzt war, hatte sie bis Ende 1971 die Kontrolle über mehr als 150 Unternehmen übernommen – darunter zwölf der zwanzig größten chilenischen Firmen.
Die Frage, wie diese frisch vergemeinschafteten Unternehmen zu leiten seien, veranlasste den jungen chilenischen Ingenieur Fernando Flores dazu, einen britischen Kybernetiker namens Stafford Beer um Rat zu ersuchen. Flores arbeitete für die Regierungsbehörde, die mit der Verstaatlichung beauftragt war; Beer war ein international renommierter Unternehmensberater und für seine Arbeit auf dem Gebiet der Managementkybernetik bekannt, die er als die »Kybernetik effektiver Organisation« definierte.
Gemeinsam stellten sie ein britisch-chilenisches Team zusammen, das ein neuartiges technologisches System entwickeln sollte, um die Regierung zu einer effektiveren Koordinierung der staatlichen Wirtschaft zu befähigen.
Das System würde der Regierung täglich Zugang zu den Produktionsdaten der Fabriken gewähren und ihr eine Reihe computerisierter Tools zur Verfügung stellen, auf deren Grundlage sie ökonomische Prognosen vornehmen könnte. Vorgesehen war außerdem eine futuristische Kommandozentrale, in der die Entscheidungsfindung der Regierung durch gemeinsame Beratung und bessere Aufbereitung von Daten befördert werden sollte. Beer ersann Möglichkeiten, die Autonomie der Betriebe auch bei zunehmendem staatlichen Einfluss zu wahren und zugleich die Mitbestimmung von Arbeiterinnen und Arbeitern in der Wirtschaft auszubauen.
Die Mitglieder der chilenischen Regierung gingen davon aus, dass dieses System den Erfolg von Allendes Wirtschaftsprogramm und damit die sozialistische Revolution in Chile vorantreiben würde. Beer nannte es Cybersyn – in Anspielung einerseits auf die Kybernetik, also die wissenschaftlichen Prinzipien, die seine Entwicklung anleiteten, und andererseits auf die Idee der Synergie, wonach die Gesamtheit eines Systems mehr ist als die Summe seiner technologischen Bestandteile.
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