30. März 2023
Der Antifaschismus ist eine sterbende Tradition. Will er wieder politisch wirksam werden, muss er mehr leisten als nur Widerstand.
»Die Stärke des Antifaschismus ist nicht einfach als fertiges Produkt dem Sieg der Alliierten entsprungen.«
Illustrationen: Zane ZlemešaIm Vorfeld der Wahl im vergangenen September, die sie zur italienischen Premierministerin machen sollte, versuchte Giorgia Meloni herunterzuspielen, dass ihre Partei – die Fratelli d’Italia – auf das Regime Benito Mussolinis zurückgeht. Sie verurteilte die politische Tradition des Faschismus nie gänzlich, distanzierte sich aber von einigen von Mussolinis schlimmsten Verbrechen. In einer an die internationale Medienlandschaft gerichteten Videobotschaft betonte sie: »Die italienische Rechte hat seit nunmehr Jahrzehnten den Faschismus der Geschichte übergeben und ohne Doppeldeutigkeit den Entzug der Demokratie und die infamen antijüdischen Gesetze verurteilt.«
Viele italienische Linksliberale fanden diese Botschaft nicht sonderlich überzeugend. Unzählige Male hatten führende Mitglieder von Melonis post-faschistischer Partei Figuren aus der Zeit des Mussolini-Regimes Anerkennung gezollt. Auch hatten Aktivistinnen und Aktivisten der Partei Banner der Republik von Salò gehisst – einem NS-Marionettenstaat, der 1943–45 in Norditalien existierte. Melonis Partei würdigt weiterhin jene Salò-Veteranen, die 1946 den neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI), einen der direkten Vorgänger der Fratteli d’Italia, ins Leben riefen. Außerdem klang die Formulierung »den Faschismus der Geschichte übergeben nicht danach, ihn einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, zumal die Fratelli d’Italia den Faschismus der 1920er Jahre bis heute als Reaktion auf die kommunistische Bedrohung darstellen.
Melonis Kritikerinnen und Kritiker bestanden darauf, dass der Faschismus mehr sei als die Diktatur und der Antisemitismus des Mussolini-Regimes. Er bilde eine Weltanschauung, die nach Mussolinis Tod – etwa zu Zeiten der politischen Gewalt der 1970er Jahre – innerhalb der MSI weiterhin den Ton angab und auch seine heutige Nachfolgeorganisation beeinflusst. Der Gründer und Anführer des MSI, Giorgio Almirante, pochte noch bis in die 1980er Jahre darauf, dass eine »faschistische Bewegung« existiere, die das Regime überlebt habe und auch in der Gegenwart aktiv sei.
Doch auch die nicht aus der Mussolini-Ära stammenden Narrative, auf die sich die Fratelli d’Italia stützen, lassen an der Behauptung zweifeln, man habe die eigene Vergangenheit aufgearbeitet. So spricht die Partei in Anlehnung an den rechten Vordenker Renaud Camus von einem »großen Austausch«, bei dem die weiße Bevölkerung durch afrikanische und muslimische Bevölkerungsgruppen verdrängt würde – eine Verschwörung, hinter der die vereinten Kräfte von »Finanzspekulanten und Marxisten« stünden.
Entscheidend ist aber, dass nicht nur Melonis Partei nicht mehr über den Faschismus reden will, sondern offenbar auch ein großer Teil der Öffentlichkeit von dem Thema genug hat. Viele Wählerinnen und Wähler, die im letzten Herbst für andere Parteien stimmten, waren sicherlich antifaschistisch motiviert. Aber das reicht nicht, um eine Partei wie die Fratelli d’Italia zu delegitimieren – das zeigt das Wahlergebnis, bei dem die rechten Parteien zusammen 45 Prozent der Stimmen erhielten. Auch wenn sich die meisten Italienerinnen und Italiener vermutlich als antifaschistisch bezeichnen würden – was die Fratelli d‘Italia im Übrigen nicht tun –, war der unverkennbare Hauch des Faschismus, der die Partei mit ihrer Vergangenheit und ihrer Symbolik umweht, nicht genug, um eine breite Gegenmobilisierung auszulösen. Und so gewann sie die Wahl, wobei die Wahlbeteiligung gerade einmal 64 Prozent betrug – ein historischer Tiefststand in der Geschichte der Republik.
Auf der anderen Seite der Alpen wurde bei den Wahlen im Frühling letzten Jahres erneut über die Bildung einer »republikanischen Front« gegen Marine Le Pens rechtsextremen Rassemblement National diskutiert. Als sich ihr Vater Jean-Marie einst bei den Präsidentschaftswahlen 2002 für die Stichwahl qualifizierte, löste das unter den unterlegenen linken Parteien nicht nur Selbstgeißelung aus, sondern führte auch zu einer Massenmobilisierung hinter dem Slogan »Wählt den Betrüger, nicht den Faschisten«. Damit war gemeint, für Chirac und nicht für Le Pen zu votieren. Damals schlug Chirac seinen Kontrahenten mit 82 zu 18 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent. Als Le Pens Tochter Marine 2022 zum zweiten Mal in Folge in die Stichwahl kam, löste das keinen derartigen Schock mehr aus – Macron schlug seine rechtsextreme Gegnerin mit 59 zu 41 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent.
Die Banalisierung dieser Parteien hängt vor allem damit zusammen, dass rechtsextreme Positionen zu Immigration und Identität weiter verbreitet und normalisiert wurden. Das zeigt sich auch daran, dass selbst traditionelle konservative Parteien oder Macron in den letzten Jahren eine brutale »Kampf der Kulturen«-Rhetorik aufgegriffen haben. Gleichzeitig versuchte sich der Rassemblement National – ehemals Front National – von seiner eigenen Vergangenheit zu distanzieren und schloss seinen unverhohlen faschistischen Gründer aus der Partei aus. Auch stellte sich Marine Le Pen im Wahlkampf 2022 offensiv gegen ihren rechtsextremen Kontrahenten Éric Zemmour, weil dieser ein Wahlkampfteam »voller Nazis« habe.
Dass sich Le Pen so positioniert, zeigt sehr deutlich, dass die Begriffe »Faschist« und »Nazi« im kollektiven Bewusstsein der französischen Bevölkerung noch immer etwas signalisieren. In Italien ist es eine weit verbreitete journalistische Gewohnheit, im Wahlkampf belagerte Bollwerke der Linken als »Stalingrads« zu betiteln. Doch angesichts der jüngsten Wahlergebnisse in beiden Ländern stellt sich die Frage, inwieweit die Angst vor dem Faschismus noch imstande ist, Menschen in der Breite zu mobilisieren.
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David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).