13. Juni 2022
Deutschland rühmt sich als »Exportweltmeister« – ein zweifelhafter Titel. Denn die Exportüberschüsse sind vor allem ein Symptom einer stagnierenden Wirtschaft.
Exportüberschüsse in Rekordhöhe werden zu einem beträchtlichen Anteil durch Lohneinbußen erkauft.
Selbst die Corona-Krise scheint den Erfolgen der deutschen Exportwirtschaft keinen Abbruch zu tun. Die Daten für 2021 weisen erneut hohe Exportüberschüsse aus. Die Position Deutschlands als »(Vize-)Exportweltmeister« wird wie auch in den Vorjahren als Zeichen der herausragenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft interpretiert. Als etwa der damalige US-Präsident Donald Trump die deutschen Exportüberschüsse als »unfair« attackierte, entgegneten Politikerinnen und Politiker von links wie rechts, dass diese lediglich das Ergebnis freier Marktkräfte seien. Die USA müssten schlichtweg »bessere Autos bauen«.
Das Sinnbild der »Exportweltmeisterschaft« erweckt den Eindruck, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporte käme allen zugute. Doch im Hinblick auf Einkommen und wirtschaftliche Entwicklung rufen sie in Deutschland und den europäischen Nachbarländern problematische Begleiterscheinungen hervor.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wuchs die Einkommensungleichheit bei stagnierenden Löhnen in Deutschland so rapide wie in kaum einem anderen westeuropäischen Land. Beigetragen haben dazu unter anderem der politisch forcierte Ausbau des Niedriglohnsektors im Zuge der Hartz-Reformen der frühen 2000er Jahre, die politische Inkaufnahme einer schwindenden Gültigkeit von Tarifverträgen und der Anstieg prekärer Formen selbständiger und scheinselbständiger Beschäftigung. In Folge haben die unteren 30 Prozent der Beschäftigten zwischen 1999 und 2016 reale Einkommensverluste verzeichnet. Die sinkende Kaufkraft verstärkt sich zusätzlich durch vielerorts stark steigende Mieten und Wohnungspreise, die nur unvollständig in den Statistiken zu Lebenshaltungskosten erfasst werden. Der Titel des »Exportweltmeisters« ist also nicht nur ein Verdienst der deutschen »Ingenieurskunst«, sondern wird zu einem beträchtlichen Teil durch Lohneinbußen der Beschäftigten erkauft.
Den deutschen Exporterfolgen steht zudem ein äußerst schwaches Wirtschaftswachstum gegenüber. Zwischen 1996 und 2018 wuchs die deutsche Wirtschaft im Schnitt jährlich um 1,4 Prozent.
Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern rangiert Deutschland am unteren Ende, gefolgt lediglich von Italien, Griechenland und Portugal. Mehr als 60 Prozent dieses Wirtschaftswachstums lassen sich auf den Anstieg der Exporte zurückführen. Der Beitrag der inländischen Nachfrage zum Wachstum war nur in Italien noch niedriger. Die Folgen der Politik der Schwarzen Null, die zumindest in Vor-Corona-Zeiten tonangebend war und die dazu führte, dass Staatsausgaben als Treiber inländischer Nachfrage nur eine geringe Rolle spielten, verschärfen diesen Trend zusätzlich. Das verdeutlicht, dass die deutschen Exportüberschüsse mit einer verminderten Kaufkraft in der Bevölkerung einhergehen, was sich wiederum negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung jenseits von exportorientierten Unternehmen auswirkt.
Mehrere deutsche Bundesregierungen ergänzten die Lohnzurückhaltung und Sparpolitik durch einen harten Kurs gegenüber den EU-Ländern, die während der Eurokrise in wirtschaftliche Turbulenzen geraten waren. Viele dieser Länder wollten oder konnten die Lohnentwicklung nicht so stark bremsen wie die deutschen Tarifparteien und Bundesregierungen. Über die Zeit verschafften sich deutsche Unternehmen so einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, der insbesondere zulasten der südeuropäischen Länder ging. Ohne die Möglichkeit ihre Währung abzuwerten, wurden ihnen von Deutschland und anderen exportstarken Mitgliedsstaaten Hilfsprogramme auferlegt – mit dem Ziel, Staatsausgaben und Lohnkosten zu senken.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Sparpolitik waren katastrophal, die wirtschaftlichen Ergebnisse bestenfalls zweifelhaft. Zwar steigerten die Reformen die Nettoexporte dieser Länder, dafür wurde jedoch ein anhaltend schwaches Wirtschaftswachstum in Kauf genommen, da Lohnwachstum als Treiber der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nachhaltig geschwächt war, was zunehmend auch die Europäische Zentralbank anerkannte.
Warum aber sehen wir kein öffentliches Aufbegehren gegen diese Politik der Lohnzurückhaltung, die für viele Menschen deutliche Einkommensverluste und Existenzsorgen bedeutet? Die Ergebnisse meiner gemeinsamen Forschungsarbeit mit Lucio Baccaro zeigen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter weniger unzufrieden mit ihren Löhnen sind, wenn sie entweder selbst in Berufen arbeiten, die stark vom internationalen Handel abhängen, oder in Ländern leben, in denen der Exportsektor überdurchschnittlich zum wirtschaftlichen Wachstum beiträgt. Diese Befunde zeigen sich unabhängig vom tatsächlichen Lohnniveau und anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Das könnte unter anderem daran liegen, dass diese Menschen glauben, höhere Löhne würden die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in den Exportsektoren schwächen. Dafür scheinen sie bereit zu sein, ein geringeres Einkommen in Kauf zu nehmen.
Bemerkenswert ist, dass auch Menschen in Berufen, die nicht vom internationalen Handel abhängig und vorrangig im Dienstleistungssektor beschäftigt sind, ähnliche Auffassungen vertreten. Warum sehen wir bei diesen Arbeiterinnen und Arbeitern keinen stärkeren Widerstand gegen oftmals geringe Löhne und prekäre Arbeitsbedingungen? Zur Beantwortung dieser Frage ist die Thematisierung und Problematisierung von Exportüberschüssen im nationalen Diskurs von entscheidender Bedeutung.
Politische und wirtschaftliche Eliten beeinflussen mit ihren Interpretationen die öffentliche Wahrnehmung wirtschaftlicher Zusammenhänge. Unternehmen und Unternehmensverbände haben auf den Medienmärkten, die von einer zunehmenden Eigentümerkonzentration gezeichnet sind, einen strukturellen Vorteil. Oftmals wird ihnen ein gewisser Expertenstatus zugeschrieben während alternative Perspektiven unterrepräsentiert bleiben. So können wirtschaftliche Akteure ihre Interpretationsmuster erfolgreich als allgemeingültig darstellen. In der medialen Interpretation deutscher Exportüberschüsse wird entsprechend nur selten darauf hingewiesen, dass die meisten Menschen von stagnierenden Löhnen, die zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit des Exportsektors erzielt wurden, nicht profitieren.
Die Interpretation deutscher Exportüberschüsse als Zeichen einer herausragenden Wettbewerbsfähigkeit ist jedoch keinesfalls alternativlos, wie ein Blick in andere Länder oder die Geschichte zeigt. Wie die Historikerin Wencke Meteling darlegt, folgte die mediale Berichterstattung in Deutschland bis in die 1980er Jahre hinein noch eher keynesianischen Interpretationsmustern, wonach die inländische Kaufkraft einen zentralen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leistet. Unter der Federführung von unternehmensnahen Interessengruppen etablierte sich dann in den 1990er Jahren eine Interpretation, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit als entscheidenden Faktor für das Wirtschaftswachstum hervorhob. Diese Perspektive festigte sich zunehmend auch in der Argumentation der politischen Parteien, nicht zuletzt der SPD. Da die Handlungsoptionen durch selbstauferlegte Einschränkungen wie beispielsweise den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt oder die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse begrenzt wurden, schien die Stärkung des Exportsektors auf Kosten der inländischen Nachfrage eine attraktive Option zur Steigerung des Wachstums zu bieten.
Entgegen dem feierlichen Tonfall in der medialen Berichterstattung bedeutet der Titel des Exportweltmeisters für einen beträchtlichen Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland in allererster Linie prekäre Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Interessen der deutschen Exportindustrie decken sich eben nicht notwendigerweise mit den Interessen der Bevölkerung. Anstatt den Export-Rekord weiter zu forcieren, sollte wirtschaftliches Wachstum sich wieder stärker für die Lohneinkommen, insbesondere in den unteren Einkommensgruppen, auszahlen.
Dr. Erik Neimanns ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er forscht zur Rolle öffentlicher Meinung und politischer Parteien in politischen Auseinandersetzungen zu Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik.
Dr. Erik Neimanns ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er forscht zur Rolle öffentlicher Meinung und politischer Parteien in politischen Auseinandersetzungen zu Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik.