15. Mai 2023
Wenn die Staatsgründung Israels für die deutsche Erinnerungskultur beschönigt wird, verhindert das nicht nur eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte, sondern erschwert auch die Chance auf eine bessere Zukunft für Israelis und Palästinenser.
Demonstration anlässlich der israelischen Staatsgründung, 14. Mai 2021, Freiburg.
IMAGO / Arnulf HettrichIn einer Videobotschaft an den Staat Israel anlässlich seines 75. Nationalfeiertags vermittelte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein irritierendes Geschichtsbild: Nach der »größten Tragödie der Weltgeschichte« konnte »ein Traum erfüllt werden« – die Entstehung des Staates Israel. Wenn eine deutsche Politikerin deutsche Verbrechen als bloße »Tragödie« bezeichnet – sei sie auch »die größte« – ist das im besten Fall unglücklich formuliert, stinkt aber nach Geschichtsrevisionismus.
Die Rede der ehemaligen CDU-Bundesministerin ist exemplarisch für einige weitere Verdrehungen der Geschichte, die teils weit über das rechtskonservative Lager hinaus Anklang finden.
In puncto Israel und Holocaust macht von der Leyen zumindest eins richtig, wenn sie sagt, dass der jüdische Staat nach dem Holocaust entstand – das ist bemerkenswert, da es in Deutschland häufig heißt, Israel sei nicht nach, sondern wegen des Holocaust gegründet worden: Der Staat Israel wird also als Konsequenz des deutschen Geschichtsverbrechens gedeutet.
Diese selbstbezogene deutsche Vereinnahmung des Zionismus ist zunächst einmal ein Affront gegenüber den Staatsgründern: Die Führung des im Entstehen begriffenen Staates kam lange vor Hitlers Machtübernahme ins damalige Palästina. Die antisemitische Autokratie, aus der etwa David Ben-Gurion geflohen war, war nicht das Dritte Reich, sondern das Russische Zarenreich. Als Hitler 1919 seine ersten Schritte in die Politik machte, war Ben-Gurion schon seit über einem Jahrzehnt gemeinsam mit Menschen wie Arthur Ruppin und Yosef Weitz in Palästina tätig, um dort einen jüdischen Nationalstaat zu gründen.
Der Versuch, einen jüdischen Nationalstaat im historischen Palästina zu etablieren, geht also nicht primär auf den Holocaust zurück. Die Unterstützung der Staatsgründung durch die internationale Gemeinschaft – oder genauer gesagt durch eine Mehrheit der Staaten der jungen, von Kolonialmächten dominierten Vereinten Nationen – steht hingegen zweifelsohne in Zusammenhang mit dem Holocaust. Zwar waren viele jüdische Europäerinnen und Europäer wegen des Nationalsozialismus nach Palästina geflohen und füllten im israelischen Unabhängigkeitskrieg die Reihen der jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer. Die Führung, die sie anleitete, existierte jedoch schon vorher.
Die Entstehung des jüdischen Nationalstaates war Ende 1947 mit dem UN-Teilungsplan zudem noch nicht abgeschlossen. Um den Traum eines jüdischen Staates zu verwirklichen, erachtete es jene Führung für nötig, einen Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung zu vertreiben. Die lang angedachte Vertreibung ging direkt nach dem UN-Beschluss rasch voran. Noch bevor der erste Soldat aus einem Anrainerstaat in das Land kam, hatten jüdische Milizen etwa 300.000 arabische Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben. Für eine ehrliche historische Aufarbeitung und ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern ist eine Anerkennung dieser historischen Realität unerlässlich – ein Umstand, den angesichts des Rechtsrucks der aktuellen israelischen Regierung auch immer mehr Israelis anerkennen.
Als David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die israelische Staatsgründung ausrief, erklärten die umliegenden arabischen Länder dem neuen Staat den Krieg. Und mit dem Krieg eskalierte auch die Vertreibung. Am Ende waren etwa die Hälfte der arabisch-palästinensischen Ortschaften zerstört. Ihre hinterlassenen Häuser und Ländereien wurden jüdischen Einwanderinnen und Einwanderern zugewiesen. An anderen Stellen wurden entvölkerte Dörfer der Erde gleichgemacht, um die Rückkehr zu verunmöglichen. Die historische Forschung belegt, dass insgesamt etwa 750.000 arabische Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben wurden. Diese ethnische Säuberung Palästinas wird von der palästinensischen Gemeinschaft »Nakba« genannt, was auf arabisch »Katastrophe« bedeutet.
Das Massaker in Deir Yassin im heutigen Jerusalem steht beispielhaft für das Ausmaß der Gewalt. Dort wurden am 9. April 1948 mindestens 107 Menschen getötet. Daraufhin verließen zahlreiche palästinensische Familien das Land. Zionistische Milizen warnten davor, dass weiteren arabischen Ortschaften das gleiche Schicksal blüht, sofern die Bewohnerinnen und Bewohner diese nicht verlassen.
Aus einer deutschen Perspektive, die den Holocaust in den Mittelpunkt stellt, wird oftmals angenommen, dass die jüdisch-europäischen Kämpferinnen und Kämpfer durch Trauma und Angst motiviert waren, und für sich nur eine sichere Heimat schaffen wollten. Und für viele unter ihnen trifft das durchaus zu – und sicher nicht nur für diejenigen, die persönlich die Gewaltherrschaft Deutschlands erlebt haben.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser schon zuvor von der Führung der jüdischen Gesellschaft in Palästina als notwendig angesehen wurde. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte sich unter jüdischen Nationalisten die Ansicht durchgesetzt, dass es nicht nur »einen Staat für die Juden« braucht, sondern einen »jüdischen Staat«, und dass der Ort dafür das mehrheitlich nichtjüdische Palästina sein sollte. Dies alles war einst umstritten, stand aber schon vor der NS-Zeit fest. Damit war der Drang zur gewaltsamen Mehrheitsbildung bereits vorprogrammiert.
Das jüdische Staatsprojekt ist also nicht durch den eliminatorischen Antisemitismus in Europa entstanden – doch der Holocaust und die Nichtaufnahme jüdischer Flüchtlinge in vielen Ländern ließen den europäischen Jüdinnen und Juden keinen anderen Zufluchtsort als Israel.
Im Frühling 2013, kurz vor dem israelischen Nationalfeiertag, saß ich mit meinen Eltern in einem Restaurant in Tel Aviv. Eine hitzige Auseinandersetzung entwickelte sich zwischen mir und meinem Vater, dessen jüdisch-deutsche Mutter durch schieres Glück dem KZ Bergen-Belsen entkam und ab 1944 in Palästina einen sicheren Hafen für sich fand.
An den Fakten über die Nakba zweifelten wir beide schon damals nicht und wir waren uns darin einig, dass »unser« Staat die Palästinenserinnen und Palästinenser misshandelt: ein Verbrechen, dem wir uns beide aktiv widersetzten. Doch für meinen Vater war der Staat Israel und seine Gründung – gerade vor dem Hintergrund der vorangegangenen Leidensgeschichte – trotzdem etwas, das man feiern sollte.
Ich meinte hingegen – und inzwischen sieht es auch mein Vater so –, dass es gegenüber unseren palästinensischen Freunden und Genossinnen blanker Hohn ist, diese Staatsgründung zu feiern, während der Staat sich aktiv weigert, die Nakba und seine Verantwortung dafür anzuerkennen. Unserem Anspruch gegenseitiger Anerkennung der beiden Gesellschaften und unserer Hoffnung auf eine gemeinsame, friedliche Zukunft wird das nicht gerecht.
Denn eine rein historische Angelegenheit ist die Nakba nicht – Palästinenserinnen und Palästinenser sprechen oft von einer »andauernden Nakba«. Die »Errungenschaft« der damaligen Gewalt – die jüdische Vorherrschaft – kann bis heute nur mit weiterer Gewalt und Unterdrückung aufrechterhalten werden. Dazu gehört, dass der israelische Staat mit allen Mitteln jegliche Rückkehr der Vertriebenen und ihrer Nachkommen verhindert und die verbleibende arabische Gesellschaft im Land systematisch benachteiligt, während die »Judaisierung« mancher Landstriche öffentlich gefördert wird.
Dieses System des Unrechts macht nicht einmal vor den Palästinenserinnen und Palästinensern halt, die eine israelische Staatsbürgerschaft haben. Sie leben bis heute größtenteils in separaten Städten und lernen in einem separaten Schulsystem. Ihre Schulen genau wie ihre Gemeinden werden konsequent unterfinanziert und sind unterversorgt. Und während der Staat hunderte neue Ortschaften für jüdische Israelis gegründet hat, wurden so gut wie keine für palästinensische Israelis gegründet, während die bestehenden arabischen Orte eingedämmt werden und sich nicht für neue Generationen ausweiten dürfen. Laut Adalah, einer Organisation, die sich für die Rechte der arabischen Minderheit in Israel einsetzt, wird diese Art von Diskriminierung im israelischen Recht durch über sechzig Gesetze verankert.
Weder Frieden noch soziale Gerechtigkeit können erreicht werden, solange das historische und andauernde Unrecht nicht anerkannt wird. Immer mehr Israelis verstehen das, gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Krise. Der israelische Rechtsextremismus, der in den völkerrechtswidrigen Siedlungen aufkeimte, ist nun in den Rängen der Regierung vertreten und droht, die absolute Ungleichheit der Besatzung zu verallgemeinern.
Die Anerkennung und Reparation des andauernden Unrechts stellen daher ein genuines Interesse der jüdisch-israelischen Gesellschaft dar – selbst wenn die dominanten, nationalistischen Strömungen der israelischen Politik sich noch weigern, das zu akzeptieren.
Vor diesem Hintergrund ist der deutsche Umgang mit dem historischen Unrecht der Nakba oftmals empörend. Die Berliner Polizei verbietet immer mehr palästinensische Demonstrationen, im letzten Jahr etwa auch Kundgebungen im Gedenken an die Nakba. Von vielen Linken wird das schweigsam hingenommen, von manchen sogar lauthals begrüßt – auch aus dem Umfeld der Linkspartei, in deren Reihen die Leugnung der Nakba bis heute nicht nur geduldet, sondern teils aktiv betrieben wird.
Wenn Deutsche über den Staat Israel reden, erweckt es mitunter den Eindruck, seine Entstehung und seine lobenswerten Aspekte würden eine Art »Happy End« für die Katastrophe des Holocaust darstellen. Im Ernstfall bietet die Verklärung Israels einen Vorwand dafür, keine schmerzhaftere Aufarbeitung der deutschen Geschichte betreiben zu müssen oder beispielsweise Erbschaften aus NS-Reichtümern anzutasten. Bei solcher Verklärung verkommt andererseits der Staat Israel selbst samt seiner Geschichte sowie seiner Gegenwart zu einem bloßen Symbol.
Doch das, was die von ihrer eigenen Geschichte belasteten Deutschen gerne »wiedergutmachen« möchten, kann und wird nie wieder gut werden. Diese Fantasie wird besonders dann gefährlich, wenn sie die bittere Realität von Israel-Palästina vor Ort ausblendet. Solange das historische Unrecht der Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht anerkannt und seine Kontinuität verleugnet wird, wird sich diese Realität nicht zum Positiven wenden.
Für ein wahres Geschichtsbewusstsein, für die universelle, international wirksame Achtung der Würde des Menschen und für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen vor Ort ist das öffentliche Gedenken der Nakba unerlässlich. Dem Verbot dieser Erinnerung sollte mit zahlenstarker Teilnahme an Veranstaltungen zum Nakba-Tag begegnet werden.
Michael Sappir ist Publizist, Mitbegründer des Jüdisch-israelischen Dissens (JID) Leipzig und Co-Host des Podcasts Parallelwelt Palästina.