26. Oktober 2021
Mit Marktanreizen werden wir die Klimakrise nicht aufhalten. Jean-Luc Mélenchon meint: Wir müssen endlich lernen, auf lange Sicht zu planen.
Mélenchon bei einem Pressetermin in Paris, 27. Oktober 2020.
Wer mit politischer Philosophie nichts anzufangen weiss, kann diesen Artikel getrost überspringen. Macht ja nichts. Für alle übrigen: Lasst uns direkt einsteigen.
Im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht derzeit der Klimawandel. Das Denken über den Klimawandel ist in vielen Fällen jedoch in einer Zeit verhaftet geblieben, in der die Natur und der menschliche Umgang mit ihr langen und regulären Zyklen folgte. Wir werden nicht einfach nur von einem Klimazustand in einen anderen übergehen. So wird sich das nicht abspielen. Alles wird sich ändern – sogar der Wandel selbst. Wir befinden uns in einer völlig neuen Situation der permanenten und »strukturellen« Unsicherheit, die unmittelbar mit unseren gegenwärtigen Umständen zusammenhängt.
Ich werde an dieser Stelle keine Meditation über die Eigenheiten unseres Zeitalters beginnen – das habe ich in meinem Buch L’ère du peuple bereits getan und dem habe ich nichts hinzufügen. Ich will an dieser Stelle lediglich die Grundidee aufgreifen: Zeit ist Ausdruck des gesellschaftlichen Umfelds, in dem sie vergeht. Es gibt dominierte und dominante Zeiten. Dieser Auffassung entsprechend ist ökologische Planung eine Wiedereroberung der langen Zeit, die wir der Diktatur des kurzzeitigen Denkens, welche unsere gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft beherrscht, wieder entreißen müssen. In meinem Buch habe ich vom »Kollektiveigentum an der langen Zeit« durch ökologische Planung gesprochen. Dies bildet einen Gegensatz zum Privateigentum an der Zeit, welches von den kurzzeitigen Rhythmen des Marktes und der »Just-in-time«-Marktwirtschaft durchdrungen ist. Im Weiteren soll es um die Herausforderungen gehen, mit welchen diese Denkweise in einer Ära der verschärften Unsicherheit konfrontiert ist.
Kollektiveigentum an der langen Zeit – und eine entsprechende Priorisierung des Rhythmus unserer Gesellschaft – erlaubt es uns, die Zyklen menschlicher Aktivität mit denen der Natur in Einklang zu bringen. Das ist das Hauptziel der »grünen Regel«, welche besagt: »Von der Natur dürfen wir nur nehmen, was auch wieder nachwachsen kann«. In diesem Sinn ist der Produktionskreislauf mit der spezifischen Temporalität der natürlichen Regeneration verwoben. All dies hängt von einer entscheidenden Bedingung ab: Der Vorhersagbarkeit – und damit auch von stabilen Zusammenhängen zwischen Ursache und Wirkung.
Im realen Leben erscheint es, als würde sich dieser Zusammenhang direkt und automatisch ergeben. Doch tatsächlich ist er einfach nur sehr wahrscheinlich. Ein Effekt, der sich in 90 Prozent der Fällen einstellt, erscheint uns als beinahe gesichert, doch er ist es nicht. Es besteht eine Unsicherheit, auch wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Diese ist eine unüberwindbare Eigenschaft des materiellen Universums. Der Klimawandel bricht scheinbar sichere Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkungen – wenn etwa die Jahreszeiten nicht mehr dieselben Wetterlagen hervorbringen. Ich spreche hier nicht ohne Grund von einem »Beispiel«.
Das meiste traditionelle Wissen, welches auf der Beobachtung von regulären Zusammenhängen basiert, wird daher auf den Kopf gestellt. So können regelmäßige Naturphänomene nicht mehr anhand der Position der Gestirne vorausgesagt werden. In Ägypten zeigte der Aufgang des Sterns Sirius an, dass die Nilflut bevorstand, von der wiederum alle möglichen Naturereignisse, wie Blütezeiten, aber ebenso auch politische und gesellschaftliche Ereignisse abhingen. Zum Beispiel wurden jährlich Steuern eingetrieben, nachdem die Felder nach der Flut neu vermessen worden waren. Der höhere Wasserstand erlaubte auch den Transport von Baumaterialien und damit die Arbeit an Gebäuden. Die Vorhersagbarkeit und Harmonie von natürlichen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Zeiträumen war sehr ausgeprägt. Vielleicht war das der Grund, warum die Perioden der ägyptischen Hochzivilisation so lange anhielten. Die Stabilität der wichtigsten Lebensgrundlagen glich einem unaufhaltsam tickenden Metronom.
Ähnlich verhält es sich mit den Meeresströmungen, die seit Jahrtausenden unsere Wetterzyklen und damit unsere landwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praktiken bestimmen. Wenn die Polkappen abschmelzen und sich die Tropen weiter erwärmen, kann sich die Übereinstimmung zwischen astronomischer und klimatischer Jahreszeit auflösen – Regen- und Trockenzeiten werden weniger vorhersehbar und damit auch die richtigen Zeitfenster, um Ackerland zu pflügen oder bestimmte Früchte zu ernten. Darüber habe ich viel von den französischen und bolivianischen Forscherinnen und Forschern gelernt, die ich letzen April am Titicacasee besucht habe. Für mich war dies auch Anlass, zu einer persönlichen Überlegung zurückzukehren, mit der ich mich schon seit längerem beschäftige.
Mein erstes Buch (À la conquête du chaos), das 1991 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit nichtlinearen Phänomenen – also solchen, bei denen die Effekte den Ursachen nicht proportional entsprechen. Diese Art von Phänomen wird oft anhand des Beispiels illustriert, dass ein Schmetterling, der in Madrid mit den Flügeln schlägt, in Tokio einen Orkan auslösen könnte. Doch trotz ihrer genialen Einfachheit ist diese Definition recht ungelenk. Ich bevorzuge deshalb das Beispiel eines Fahrzeugs, das mit konstanter Geschwindigkeit auf einer geraden Straße fährt und dessen Fahrerin von einer Wespe gestochen wird. Ein einziger Faktor interveniert und das ganze System ändert seinen Kurs und zieht eine Reihe von unvorhersehbaren Effekten nach sich. Diese Art von Phänomenen ist nicht selten, sondern im Gegenteil sehr häufig. Bei dynamischen Systemen spricht man in solchen Fällen von einer Bifurkation. In einer solchen Situation herrscht große Unsicherheit hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung.
Eine weitere Konsequenz hieraus sollte ebenfalls beachtet werden: Wenn der Klimawandel traditionelles Wissen, was auf uralten Zusammenhängen beruht, in Frage stellt, so werden auch andere Formen des Wissens davon betroffen sein. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Zusammenhänge eines globalen Systems wie des Erdklimas basieren ebenfalls auf Dynamiken, die hochgradig nichtlinear werden und Bifurkationen aufweisen können. Das Klima ist ein metastabiles globales System – es befindet sich also in einem fragilen Gleichgewicht. Wenn es von seiner bisherigen Entwicklung abweicht, verändert sich sein Gesamtzustand, der wiederum durch seine weitere Entwicklung instabiler werden könnte, wodurch das System zunehmend von Unvorhersehbarkeit beherrscht wird. Die Zeitlichkeit des politischen Handelns und der Planung müssen sich daraufhin an diese neue Umstände anpassen. Sie werden von einer bestimmten, nicht unüberwindbaren Unsicherheit gesteuert. Dieser Unsicherheit können wir mit unseren Werkzeugen und unserem Verstand nicht beikommen. Darüber habe ich in Le Journal du Dimanche einen Artikel geschrieben, als ich in Bolivien war. Ich war etwas enttäuscht darüber, dass dieser Beitrag unter Ökologinnen und Ökologen kaum debattiert wurde.
Ich komme auf diesen Punkt zurück, da dieses neue Bewusstsein ein Umdenken von Regierungsarbeit zur Folge haben muss. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass ein integriertes globales System wie die Weltwirtschaft sein Verhalten wegen eines kleinen Zufalls – dem Auftreten eines neuartigen Virus (obwohl dazu gesagt sei, dass Zoonosen und damit neuartige Krankheitserreger durch unsere Wirtschaftsweise deutlich wahrscheinlicher geworden sind) – ändern kann. Die Konsequenzen aus dieser Bifurkation lassen sich noch nicht in Gänze abschätzen. Und wir wissen, dass das Weltsystem von derartigen Ereignissen in Zukunft sehr wahrscheinlich erneut beeinflusst werden wird. Für den Moment habe ich zumindest eine unvollständige Lektion gelernt.
Ein Plan verlangt nach materiellen Prozessen wie Bauen, Produzieren und Konsumieren. Doch damit allein ist es noch nicht getan. Bei seiner Verwirklichung wird jeder Plan von den direkten oder indirekten Auswirkungen des unvorhersehbaren Klimawandels beeinflusst werden. Es ist deshalb dringend notwendig, dass wir in dieser Frage einen Paradigmenwechsel vollziehen und verstehen, dass die Verwaltung von Dingen ohne die Einbindung von Menschen bei der Planung nutzlos ist – das gilt nicht unbedingt für jedes Detail, aber für den Plan als Ganzes. Die lange Ära der Technokratie und Bürokratie hat uns daran gewöhnt, Politik auf Grafiken und Metriken zu reduzieren, als ob alles Wichtige jederzeit quantifizierbar wäre.
Quantitative Größen sind die Sache von Technokraten. Aber Produktion, Transport und Verteilung sind für Unwägbarkeiten besonders anfällig. Unser Hauptaugenmerk sollte nicht der Verwaltung von Dingen, sondern der Führung von Menschen gelten, da dies am realistischsten und auch am vorteilhaftesten ist. In anderen Worten: Eine mobilisierte Gesellschaft ist die nachhaltigste und effektivste Antwort auf eine zunehmend unsichere Welt. Damit eine tiefgreifende Mobilisierung auf eine wissensbasierte und spontan solidarische Art und Weise geschehen kann, müssen die richtigen Voraussetzen geschaffen werden.
Und genau das ist für mich entscheidend – zuallererst muss das Ausmaß der Ungleichheit reduziert werden. Denn es untergräbt das Vertrauen und den gegenseitigen Respekt in der Gesellschaft und verleitet einige dazu, ein Gesellschaftskonzept, in dem »jeder für sich selbst sorgt«, für praktikabel zu halten. »Jeder für sich selbst« würde bedeuten, dass jeder seine eigenen Tanks, Generatoren, und Vorräte anlegt. Doch all diese Dinge hängen von Produktions- und Logistikketten ab – jenen Netzwerken, die durch den Klimawandel als erstes beeinträchtigt werden. Diese Option, alles auf das Individuum auszulagern, ist also besonders risikoreich und größtenteils illusorisch. Gleichzeitig zählen die Befürworterinnen und Befürworter dieser Position zu denjenigen Teilen der Gesellschaft, die am ehesten dazu bereit wären, Gewalt anzuwenden, um gegen die Beschränkungen, welche kollektives Handeln mit sich bringen, aufzubegehren. Kurz gesagt: Menschen mit dieser Geisteshaltung sollten als Teil des Problems, nicht Teil der Lösung angesehen werden.
Andererseits sollte das technische Qualifikationsniveau in der Gesamtbevölkerung erhöht werden. Dadurch wird es möglich, den enormen Personalbedarf zu decken, der angesichts des gigantischen Umbaus benötigt wird. Dies trifft auf jedes soziale Umfeld zu und verlangt nach einer großen Umstrukturierung des Ausbildungswesens, im Zuge derer das Handwerk endlich als praktische Wissenschaft anerkannt werden sollte. Dies erscheint mir ebenfalls notwendig zu sein, um die Möglichkeiten für die spontane Selbstorganisation der Menschen zu verbessern.
Zuletzt bräuchten wir mächtige Instrumente der menschlichen Solidarität, um massenhaft über bedingungslose gegenseitige Hilfe aufzuklären. Dafür braucht es viele junge Menschen, die in Ökologie- und Zivilschutzbrigaden dienen. Aber auch die Sphäre der kulturellen und künstlerischen Produktion und des Sports sollten einbezogen werden, denn sie sind essenzielle Träger der menschlichen Solidarität. Die Harmonie zwischen den Menschen, wie auch zwischen Mensch und Natur, wird so durch die ökologische Krise und ihre Herausforderungen konkretisiert. All dies setzt die weitere Humanisierung des Menschen voraus.
Jean-Luc Mélenchon ist Gründer der Partei La France Insoumise und kandidiert für das Amt der französischen Präsidentschaft.