18. Mai 2024
Der Historiker Franco Ramella erforschte den Prozess, der aus italienischen Bauern Industriearbeiter machte. Sein Werk zeigt, wie die einfachen Leute die Entstehung des Kapitalismus erlebten – und wie sie sich von Anfang an gegen ihre Ausbeutung wehrten.
Ronzoni Pietros Gemälde »Filanda nel bergamasco« (Spinnerei bei Bergamo).
Das Aufkommen des Kapitalismus ist untrennbar mit dem Beginn des Kolonialismus, der Enteignung und der Sklaverei verbunden. Die Völker Asiens, Afrikas und der Amerikas zahlten den höchsten Preis für den wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Welt. Aber auch die Ausbeutung der europäischen Arbeiterklasse war ein entscheidender Teil des Industrialisierungsprozesses.
Aus der Sicht der europäischen Gesellschaft wird der Kapitalismus immer noch überwiegend als eine befreiende Kraft wahrgenommen, die den Grundstein für den privilegierten zeitgenössischen Lebensstil gelegt hat. Doch selbst in den Teilen der Welt, die primär von diesem System profitiert haben, waren die Schattenseiten des Kapitalismus unübersehbar. Vielleicht sind diese unbequemen Wahrheiten schwerer zu ignorieren, wenn wir näher vor die eigene Haustür schauen.
Die Arbeit des italienischen Historikers Franco Ramella leistete einen wichtigen Beitrag zu dieser Aufdeckung. Ramellas Buch Terra e telai: sistemi di parentela e manifattura nel Biellese dell’Ottocento (»Land und Webstühle: Verwandschaftssysteme und Herstellung im Biella des 19. Jahrhunderts«) wirft ein völlig neues Licht auf die italienische Landschaft dieser Zeit. Sein mikrohistorischer Ansatz zur Textilherstellung zeigt, wie der industrielle Kapitalismus ein eindeutig verschärftes Ausbeutungsregime und neue Formen der Prekarität etablierte, die sowohl das Leben der Bauern als auch der Fabrikarbeiter mit Elend belastete.
Ramellas Arbeit weist starke Parallelen zu den Büchern und Essays von E.P. Thompson über die frühe Geschichte des Kapitalismus in Großbritannien auf. Ähnlich wie Thompson verband Ramella in seinem beruflichen Werdegang die Bereiche der akademischen Forschung und des politischen Aktivismus. Land und Webstühle, das erstmals in den 1980er Jahren erschien, wurde kürzlich neu veröffentlicht und bietet uns die Gelegenheit, einen neuen Blick auf den bedeutenden Historiker zu werfen, der es verdient, auch außerhalb seines Heimatlandes bekannt zu werden.
Ramellas Arbeit als Wissenschaftler ist eng mit seinen Lebenserfahrungen und politischen Zugehörigkeiten verknüpft. Er wurde 1939 in Biella, einer Industriestadt in Norditalien, geboren. In den 1960er Jahren engagierte er sich, wie viele junge Menschen seiner Generation, in der Politik, zunächst in der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI) und ab 1964 in der Italienischen Sozialistischen Partei der Proletarischen Einheit (PSIUP), die mit der PSI brach, nachdem diese eine Regierungskoalition mit den Christdemokraten eingegangen war.
Während dieser Zeit arbeitete Ramella eng mit der Zeitung Quaderni Rossi (»Rote Hefte«) zusammen, die zwischen 1961 und 1966 erschien und zu deren Gründern Raniero Panzieri, Danilo Montaldi, Romano Alquati und Mario Tronti zählten. Diese Männer können zu Recht als die Säulen der Anfangsphase des Operaismus (»Arbeiterwissenschaft«), einer einflussreichen Strömung der italienischen radikalen Linken, betrachtet werden.
Der Personenkreis um die Quaderni Rossi vertrat die Auffassung, dass Fabrik, Gesellschaft und Staat eng miteinander verflochten waren. Die Industrie war im Grunde ein politisches Instrument, das zur Kontrolle der Arbeit und zur Standardisierung der Gesellschaft eingesetzt wurde. In diesem neuen Gefüge drehten sich die Klassenkonflikte nicht mehr um den Gegensatz zwischen Lohnarbeitern und Kapital. Da der Kapitalismus die Gesellschaft nun fester im Griff hatte, hatte sich der Kampf des Proletariats auf weitere Bereiche wie Kultur, Vorstellung, Sprache, Lebensweisen und Reproduktion ausgeweitet.
»Die Wissenschaftler lenkten ihre Untersuchungen weg von den großen Persönlichkeiten, die die Geschichte der Menschheit geschrieben haben. Ihr neues Ziel war es, die übersehene Welt der Ränder und der ›Vielen‹ zu erforschen.«
In einem 1964 in den Quaderni Rossi veröffentlichten Artikel beleuchteten Ramella und Clemente Ciocchetti diese neuen Konfliktformen in der Textilindustrie in Biella. Die beiden Autoren sammelten durch die Methode der kollaborativen Forschung (»conricerca«, zu Deutsch: Mituntersuchung) mündliche und schriftliche Zeugnisse von den Arbeiterinnen und Arbeitern.
Ihre Bemühungen zielten darauf ab, aufzuzeigen, wie die Automatisierung des Produktionsprozesses und die Unterordnung der Arbeitenden am Fließband das Arbeitsumfeld beeinflussten. In diesem veränderten Kontext entstand eine neue mikrophysikalische Landschaft des Widerstands. Die Arbeitenden brachten ihren Willen zu politischen und sozialen Veränderungen durch neue Kampfinstrumente zum Ausdruck: Sie verweigerten die Arbeit und griffen zu Sabotage und anderen Mitteln des individuellen und kollektiven Widerstands gegen die Fabrikdisziplin.
Die kapitalistische Entwicklung musste diesen proaktiven Formen des Widerstands wirksam entgegentreten. Da die Arbeitenden nicht länger als passive Opfer agierten, konnte sich das Kapital nicht auf seine eigene Unterwerfungslogik verlassen. Es musste Widerstand leisten, indem es neue Formen der Ausbeutung erfand. Um den Einfluss der lebenden Arbeiterschaft zu beschränken, führten die Fabriken härtere Arbeitsregimes ein.
Zu Beginn der 1970er war die Agenda des Operaismus nicht mehr umsetzbar. Als sich die PSIUP auflöste und die Arbeiterbewegung in die Krise geriet, verließ Ramella die Politik und zog von Biella nach Turin. In einem Interview mit Serena La Malfa erklärte der Historiker, dass er aus dem politischen Aktivismus ausgestiegen sei, weil er erkannt habe, dass der Kapitalismus gewonnen habe.
Die Akzeptanz der Niederlage verwandelte sich jedoch bald in einen Impuls, der einen Neuanfang befeuerte. 1974 erwarb er unter der Aufsicht von Giovanni Levi einen Abschluss an der Universität Turin. Ramellas Worten zufolge war die Begegnung und die anschließende Zusammenarbeit mit Levi »ein Wendepunkt seiner intellektuellen Biografie«. Seit Anfang der 1970er Jahren bewegt Ramella sich an der Schnittstelle zwischen zwei historiographischen Traditionen: Marxismus und Mikrogeschichte.
Ramella näherte sich der marxistischen Geschichtsschreibung durch E.P. Thompsons Werk zur englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts an. Von Thompson leitete Ramella den Gedanken ab, dass das Aufkommen des Kapitalismus das Ergebnis einer Konfliktkette zwischen zwei Hauptantriebskräften war: auf der einen Seite eine innovative Marktwirtschaft, die auf dem Geldnexus und dem Klassenkonflikt basierte und sich hauptsächlich um die Frage der Löhne drehte; auf der anderen Seite die herkömmliche »moralische Ökonomie« der plebejischen Klassen, deren Charakter aus traditionellen Wirtschaftsbräuchen und Gewohnheiten den Prinzipien des »freien Marktes« zuwiderlief und somit gegen sie arbeitete.
Die Mikrogeschichte, insbesondere wie sie in den Werken von Levi und Edoardo Grendi entwickelt wurde, war der zweite historiografische Ansatz, der Ramellas intellektuellen Werdegang prägte. Ähnlich wie Thompson, lenkten auch diese beiden Wissenschaftler ihre Untersuchungen weg von dem, was sie als »Machtzentrum« bezeichneten, und den großen Persönlichkeiten, die die Geschichte der Menschheit geschrieben haben. Ihr neues Ziel war es, die übersehene Welt der Ränder und der »Vielen« zu erforschen.
Einer von den »Vielen« zu sein, bedeutete aus dieser Perspektive auch, zu den Benachteiligten und Ausgebeuteten zu gehören. Dies heißt jedoch nicht, dass die Identität »einfacher« Menschen, ihre Existenz als lebende und atmende Individuen, im Fluss der Weltgeschichte verloren gehen sollte. Ihr Leben kann und darf nicht auf ihre soziale Rolle reduziert werden, wie namenlose Gesichter in einer homogenisierten, gut organisierten Arbeitermasse.
Mikrohistoriker betrachten geschichtliche Entwicklungen nicht als einen einheitlichen, linearen Prozess, der in einer großen Welterzählung wiedergegeben werden kann. In solchen Erzählungen werden nur wenige Namen erwähnt, die meisten Menschen verschwinden in den Wellen der Zeit. Geschichte ist vielmehr ein komplexer Fluss, der aus zahlreichen verschiedenen Zentren besteht. Diese Zentren sind Menschen, und Menschen leben »Geschichte« nicht im mutmaßlichen Sinne, sondern in Erzählungen. Die Erzählungen der Menschen sind das, was zählt.
In dem 1984 erstmals erschienenen Werk Land und Webstühle verband Ramella Elemente aus diesen beiden historiografischen Traditionen und schuf so seine eigene, originelle Perspektive. Seiner Ansicht nach war die Entstehung der Arbeiterklasse kein geradliniger, linearer und unausweichlicher Prozess, der eine gesamte Klasse von Bauern in eine monolithische Klasse von Industriearbeitern verwandelte.
Im Gegenteil: Ramellas Geschichte besteht aus vielen verschiedenen Erzählungen, deren Protagonisten Männer, Frauen, Familien und Haushalte sind. In diesem Rahmen werden Bäuerinnen und Fabrikarbeiter als Menschen gesehen und nicht als soziale Kategorien oder bloße Zahnräder in der großen Geschichtsmaschinerie. Sie erscheinen als Menschen und Gruppen, die aktiv ihre eigenen Lebenswege beschritten, unabhängig davon, ob ihre Existenz als erinnerungswürdig erachtet wurde oder nicht.
Die Geschichte von Land und Webstühle begann an einem höchst ungewöhnlichen Ort: dem ruhigen Tal von Mosso in den Hügeln rund um Biella. Wie viele europäische Dörfer in der Zeit zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der industriellen Revolution waren die ländlichen Gemeinden von Mosso durch niedrige Agrareinkommen und einem großen Pool billiger Arbeitskräfte geprägt.
Infolgedessen hatten die Landwirte in Mosso den starken Anreiz, sich dem verarbeitenden Gewerbe zuzuwenden, um ihr Einkommen zu verbessern. Männer, Frauen und Kinder teilten ihre Zeit zwischen Landwirtschaft und Industrie auf. Innerhalb ihrer eigenen vier Wände stellten sie Produkte her, die später auf dem Markt verkauft werden sollten.
Bei dieser Tätigkeit konnten die Menschen entweder selbstständig oder von kleineren Unternehmern aus der Stadt abhängig sein. In beiden Fällen war ihr Zuhause ihre Werkstatt, und ihr Haushalt eine einzelne, unabhängige Produktionszelle. Die meisten dieser Produkte waren Textilien. Die Bäuerinnen und Bauern widmeten sich diesen Handwerksberufen nur in ruhigeren Phasen – nicht durchgängig, sondern mit Unterbrechungen und abhängig von der Jahreszeit.
»Immer wenn der Handel einbrach und die Fabrikproduktion zum Stillstand kam, wurden die bäuerlichen Fabrikarbeiter von ihren Arbeitgebern entlassen.«
Diese handgefertigten Erzeugnisse waren nicht nur für den lokalen Konsum bestimmt, sondern auch für nationale und internationale Märkte. Ohne den Impuls großer, wettbewerbsorientierter Märkte verharrten die bäuerlichen Manufakturen ruhig auf dem Land und versorgten den Haushalt und den lokalen Bedarf, insgesamt aber unberührt von den Zwängen des Handelskapitalismus. Das Bindeglied zwischen Bauernproduzenten und der Welt waren die Kaufleute, die die Marktstädte in den Regionen der Heimindustrie besuchten, um die hergestellten Waren zu kaufen.
Die Städte waren noch nicht die wichtigsten Zentren der industriellen Produktion. Vielmehr waren sie Orte, an denen die proto-industriellen Heimarbeitenden ihre Waren verkauften, Rohstoffe kauften und die Güter erwarben, die sie nicht selbst herstellen oder anbauen konnten, wie Lebensmittel und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse.
Auf dem Land bei Biella wurde die Nachfrage des Marktes so stark, dass die Produktion das verfügbare Arbeitskräfteangebot überstieg. Dies veranlasste die ursprüngliche Form der industriellen Organisation, ihre Produktionsmethoden zu verändern. Die ländliche Industrie verwandelte sich allmählich in eine fabrikbasierte Industrie.
Was sich im 19. Jahrhundert vollzog, war somit ein unruhiger und ungleichmäßiger Übergang von der heimischen Industrie – diskontinuierlich, multifokal und horizontal – zum integrierten, zentralisierten und hierarchischen Einflussbereich des Industriekapitalismus.
In dem Umfeld des ländlichen Gewerbes gelang es den bäuerlichen Herstellern, die Arbeitsrhythmen der Bauernhöfe, kleinen Werkstätten oder Handwerkszünfte, aus denen sie stammen, einigermaßen beizubehalten. Gleichzeitig konnten sie ein angemessenes Maß an geschlechtsspezifischer und altersbedingter Differenzierung aufrechterhalten, um die ordnungsgemäße Funktionsfähigkeit des traditionell ländlichen Hausgewerbes zu gewährleisten.
Mit dem Aufkommen der industriellen Fertigung änderte sich das Wesen der bäuerlichen Haushalte in mehrfacher Sicht. So lösten allmählich Lohnzahlungen das traditionelle Familieneinkommen ab, und die Weberinnen und Weber wurden immer unabhängiger von den Landerträgen und der Unterstützung durch andere Haushaltsmitglieder.
In diesem neuen Umfeld heirateten sowohl Männer als auch Frauen tendenziell später, meist erst Ende zwanzig. Allerdings stieg das Alter, in dem sie zum ersten Mal sexuelle Beziehungen hatten, nicht entsprechend an. Infolgedessen nahm die Zahl der außerehelich geborenen Kinder zu, und die Fälle, in denen Kinder ausgesetzt wurden, wurden immer häufiger.
Die Produktion wurde aus dem Familienhaus verlagert. Eine immer größere Zahl von Arbeitenden wurde in neuen, eigens dafür errichteten Einrichtungen untergebracht: den modernen Fabriken. Die Auswirkungen auf die Produktion waren enorm: Die menschliche Arbeit wurde schneller, da sie zunehmend dem Produktionsrhythmus unterworfen wurde, was sowohl das Wesen des traditionellen Herstellungsprozesses als auch der Arbeit selbst veränderte.
Das Leben der neuen Fabrikarbeiter hatte sich drastisch verändert, da sie durch die instabile Natur der Industrieprodukte und ihrer Marktpräsenz regelmäßig in Prekarität gedrängt wurden. Immer wenn der Handel einbrach und die Fabrikproduktion zum Stillstand kam, wurden die bäuerlichen Fabrikarbeiter von ihren Arbeitgebern entlassen. Ohne die Industrie kehrten die Bauern und ihre Familien zu ihrer traditionellen landwirtschaftlichen Tätigkeit zurück, von der sie ihr Grundeinkommen zum Überleben bezogen.
Leider funktionierte dieser Wechsel zwischen Industrie und Landwirtschaft nicht ausgesprochen gut. Die Herstellung fiel in die arbeitsintensiveren Phasen des landwirtschaftlichen Jahres, wenn die Bäuerinnen und Bauern mit der Ernte beschäftigt waren. Die Arbeitenden wurden daher im Sommer sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft übermäßig ausgebeutet, während sie den Rest des Jahres ohne Beschäftigung blieben (und kein Einkommen hatten).
Auch die Art der sozialen Konflikte veränderte sich. In der ländlichen Industrie wurden die Arbeiterklassen durch steigende Preise schneller zum Handeln angeregt – was Thompson als den »bread-nexus« bezeichnete, beschreibt die Korrelation zwischen dem Preis von Brot und Unruhen. Im Gegensatz dazu fand der ökonomische Klassenkampf im Italien des 19. Jahrhunderts, wie auch anderswo in der industrialisierten Welt, seinen charakteristischen Ausdruck in der Frage der Löhne.
»In diesem neuen Umfeld wurde das Gasthaus oder die Taverne (osteria oder bettola) zum wichtigsten Treffpunkt für die Gemeinschaft der Industriearbeiter.«
Mit der wachsenden Zahl von Lohnarbeitenden wurden sie immer abhängiger von ihren Löhnen und Arbeitgebern, während sie gleichzeitig ihre Autonomie als Landarbeiter verloren. Sven Beckert hat kürzlich daran erinnert, dass die allumfassende Kontrolle der Arbeitenden – ein Kernmerkmal des Kapitalismus – ihren ersten großen Erfolg in der Textilfabrik erlebte.
Der Übergang von der bäuerlichen Produktion zur industriellen Arbeit beendete schließlich das, was in der Wissenschaft als die »Plebejische Kultur« der proto-industriellen Familienwirtschaft bezeichnet wird. Alle Bräuche dieser überholten Form der Arbeitsorganisation starben aus, zusammen mit der damit verbundenen Denkweise und den dazugehörigen Rechten. Dazu gehörten das Recht auf selbstbestimmte Arbeitszeiten und die Teilnahme an »traditionellen Freizeitritualen«, sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer lokalen Dorfgemeinschaft und die Möglichkeit, althergebrachte Konsummuster zu genießen.
Das Leben der Fabrikarbeiter unterschied sich deutlich von dem der ländlichen Handwerker. Die Fabriken setzten ihr eigenes Arbeitsregime durch, und die neuen, hektischen Arbeitsrhythmen trieben viele Arbeitende dazu, sich gegen ihre Herren aufzulehnen.
Widerstand war das Wort, das die proletarische Bewegung vereinte. Jedoch führten ihre Zusammensetzung und die Vielfalt ihrer Ziele (und Feinde) zu einer Reihe verschiedner Sprachen, Haltungen und Gesten. Jede einzelne davon beabsichtigte, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
In seinem Werk betont Ramella die Bedeutung dieser gewohnheitsmäßig ausgearbeiteten Protestsprache. Mit der Entwicklung strengerer Unterdrückungsformen durch den Kapitalismus wendete der Widerstand eigene Instrumente an, um ihnen entgegenzuwirken.
Die Fabrikbesitzer versuchten, die langjährigen Beziehungen innerhalb der bäuerlichen Haushalte auszunutzen, um Zusammenschlüsse der Arbeitenden in den Fabriken zu verhindern. Sowohl der bäuerliche Haushalt als auch die moderne Fabrik stützten jedoch auf einem starren, hierarchischen System der Verwaltung: In beiden Strukturen bildeten die Arbeiter starke Solidaritätsbände. Dies machte sie zu Verbündeten im selben Kampf und ihre Kameradschaft ermöglichte es ihnen, teilweise die Kontrolle über die Produktionsrhythmen zu erlangen.
In der Praxis legten die Arbeitenden stillschweigend ein Standardproduktionsniveau fest: Diejenigen, die es schafften, ihre individuelle Stoffproduktion über dieses Niveau hinaus zu steigern, fanden sich in der Regel isoliert und wurden ausgebremst. Die Produktivsten wurden zu den Zielscheiben der Durchschnittsarbeiter, die sich weigerten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Bisweilen beschädigten sie sogar ihre Webstühle, um das Verhalten Einzelner zu unterbinden, das als schädlich für das kollektive Interesse der Gruppe befunden wurde.
Arbeitsniederlegungen waren ebenfalls entscheidende Momente: In ihnen musste jeder Arbeiter seine Solidarität für die gemeinsame Sache zeigen. Als Form des Widerstands richteten sich Streiks vor allem gegen den Fabrikbesitzer und seine Versuche, eine strengere Arbeitsdisziplin durchzusetzen. Jedoch konnten Streiks und Proteste auch andere Ziele treffen: So konnten Arbeitende, die sich nicht am Streik beteiligten, schwerwiegende Konsequenzen tragen.
Streikbrecher – Arbeitende, die sich weigerten, am Streik teilzunehmen – wurden von den Streikenden abwertend »Beduinen« genannt. Auf diese Weise wurden sie von jeder sozialen Beziehung zu ihren Arbeitskollegen und den Mitgliedern der gesamten Gemeinschaft mit ihrem komplexen Solidaritätsnetzwerk und gegenseitiger Unterstützung abgeschnitten. Für die »Beduinen« bedeutete dies konkret den Verlust des Zugangs zu Wasser, Krediten und anderen Ressourcen oder Hilfeleistungen. Diese Isolation zwang sie schließlich dazu, sowohl die Fabrik als auch das Dorf zu verlassen.
Die Fabrikbesitzer versuchten oft, die Streikenden durch externe Arbeitskräfte aus Regionen mit struktureller oder periodischer Arbeitslosigkeit wie der Lombardei oder der Toskana zu ersetzen. Es lag im besten Interesse der einheimischen Arbeitenden, diese zu vertreiben. Von der Fabrik bis zur Taverne umzingelten sie die Fremden und zwangen diese dazu, einen Teil ihres Lohns als Entschädigung – für das, was sie als Diebstahl empfanden – auszuhändigen.
Wenn diese sich wehrten, wurden sie entweder geschlagen oder gesteinigt. Jedes Mal, wenn die Fabrikbesitzer versuchten, die streikende ansässige Belegschaft zu ersetzen, verließen die Neuankömmlinge die Fabrik kurz nach ihrer Ankunft wieder, wobei die Einschüchterungsversuche der lokalen Arbeiter und ihrer Familien eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten.
Da der Prozess der Arbeitsspezialisierung die Bindungen zwischen Arbeitenden und der traditionellen bäuerlichen Gemeinschaft auflöste, mussten erstere neue Orte finden, an denen sie sich treffen und neue Bande der Solidarität bilden konnten. In diesem neuen Umfeld wurde das Gasthaus oder die Taverne (osteria oder bettola) zum wichtigsten Treffpunkt für die Gemeinschaft der Industriearbeiter. In den Tavernen diskutierten die Textilarbeiter die Probleme, die mit ihrer neuen sozialen Stellung einhergingen. So entstanden neue Formen der Solidarität.
Die Taverne fungierte auch als Ort für die ersten Treffen der neu gegründeten Gesellschaft von Crocemosso. Offiziell war die Crocemosso eine Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe: im Wesentlichen bestand ihr Zweck darin, Gelder zu sammeln, um die Arbeiter in Notlagen (Krankheit, Arbeitslosigkeit und so weiter) zu unterstützen.
In Wirklichkeit war sie jedoch viel mehr als das. In den Tavernen entschieden die Mitglieder dieser Vereinigung gemeinsam über die politische Ausrichtung und die allgemeinen Leitlinien der Arbeiterbewegung. Sie war in jeder Hinsicht ein Instrument des Widerstands.
»Die Arbeitenden sparten einen Teil ihres Lohns, um ihr karges Agrareinkommen aufzubessern, investierten aber auch einen weiteren Teil ihres Gehalts in die Finanzierung von Strategien gegen die industrielle Ausbeutung.«
Im Gegensatz dazu sahen die Vertreter des Staates und die Besitzer der Fabriken die Gasthäuser als Brutstätten von Ausschweifungen und moralischem Verfall. Ihrer Ansicht nach wollten die Arbeiter nur höhere Löhne, um ihr zusätzliches Einkommen für Alkohol auszugeben. Ähnlich wie zeitgenössische Politiker und Arbeitgeber, die behaupten, die Menschen würden lieber zu Hause faulenzen, als für einen Hungerlohn zu arbeiten, begründeten die Besitzer der Textilfabriken im späten 19. Jahrhundert ihre Profitgier, indem sie die Taverne und alle Anti-Ausbeutungsstrategien, die dort entwickelt wurden, verunglimpften.
Die Wahrheit war natürlich ganz anders. Die Arbeitenden sparten einen Teil ihres Lohns, um ihr karges Agrareinkommen aufzubessern, investierten aber auch einen weiteren Teil ihres Gehalts in die Finanzierung von Strategien gegen die industrielle Ausbeutung. Ein Staatsbeamter, der die Streiks der 1870er Jahre untersuchte, berichtete, dass die Arbeitenden das wenige Geld, das sie von ihrem Arbeitgeber erhielten, zur Unterstützung der Streikbewegung verwendeten. Ihre Motivation war eine recht einfache: »Es kann keine Ersparnis geben, wenn nicht der Kampf gegen den Chef (il padrone) das Ziel ist.«
Als Reaktion auf diesen Widerstand führten die Fabrikbesitzer den mechanischen Webstuhl ein und ersetzten ihre männlichen Arbeitskräfte durch Arbeiterinnen. Letztere waren deutlich billiger, und in der Theorie, einfacher unter Kontrolle zu halten. Im Gegensatz zu früheren Strategien, die noch eine gewisse Kontinuität zwischen der Funktionsfähigkeit des Haushalts und dem Fabriksystem bewahrten, störte diese neue Politik den traditionellen Haushalt. Sie führte dazu, dass die Kinder die Schule in jungen Jahren verließen und spät heirateten. Die Bevölkerung schrumpfte und arbeitslose männliche Arbeiter wanderten schließlich aus, um anderswo ihr Glück zu versuchen.
In Land und Webstühle zeigte Ramella einen engen Zusammenhang zwischen Veränderungen im Arbeitsregime, Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur und den Migrationszyklen auf. So überrascht es nicht, dass er sich in den Jahren nach seiner Veröffentlichung seines Meisterwerks immer mehr für die Lebensumstände und die Gefühlswelt der Menschen interessierte, die Italien während der Entstehung des Industriekapitalismus verließen.
In diesem Gebiet gab Ramella gemeinsam mit Samuel L. Baily 1988 eine Briefsammlung heraus, die von den Mitgliedern der Familie Sola verfasst wurden: One Family, Two Worlds: An Italian Family’s Correspondence across the Atlantic, 1901–1922. Die Korrespondenz der Familie Sola ist eine umfangreiche und detaillierte Dokumentensammlung, die uns einen einzigartigen Einblick in den subjektiven Prozess der Migration gewährt. Das Buch kann durchaus als Ergänzung zu Land und Webstühle betrachtet werden, da es die Lebenswege der Menschen beschreibt, die ihre Heimat für ein anderes Land verließen, anstatt derjenigen, die vom Land zu den Fabriken in die Städte zogen.
In seinen späteren Studien erforschte Ramella den Verlauf von Binnen- und internationalen Migrationen. Dabei untersuchte er die Unterstützungsnetzwerke, die die Integration von Neuankömmlingen in ihrer neuen Stadt oder ihrem neuen Land erleichterten, sowie die Art und Weise, wie Migrantinnen und Migranten die aufnehmende Gesellschaft prägten. Während des ersten Jahres der Corona-Pandemie untersuchte Ramella zudem unermüdlich den kausalen Zusammenhang zwischen menschlicher Mobilität und der Ausbreitung des Virus. Dies machte seinen eigenen Tod durch den Virus am 25. November 2020 noch tragischer.
Wie kommt es, dass Land und Webstühle fast vier Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung jetzt neu aufgelegt wurde? Seit 1984 haben Historikerinnen und Historiker unser Verständnis von Kapitalismus, oder vielmehr von Kapitalismen, enorm erweitert. Sie haben neue Definitionen des Kapitalismusbegriffs vorgeschlagen, mit unterschiedlichen Chronologien und multilinearen Verläufen, die zur Entstehung der modernen globalen Wirtschaft führten.
Sie haben auch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Themen wie Kolonialismus, Rasse und Gewalt gelenkt und gezeigt, in welchem Ausmaß die gewaltsame Durchsetzung des Kapitalismus von der Überschneidung verschiedener Unterdrückungsmechanismen wie Rasse, Geschlecht und Ethnizität abhängig war.
Im Vorwort zur Ausgabe von 2022 liefert Maurizio Gribaudi eine überzeugende Begründung für die Wiederentdeckung von Ramellas Werk. Trotz der verstrichenen Zeit sticht Land und Webstühle immer noch durch seine Fähigkeit hervor, genau zu beschreiben, wie der industrielle Kapitalismus das soziale Leben der einfachen Leute im Biella-Tal im 19. Jahrhundert veränderte.
Ramellas Erzählungen über die Agrargemeinschaft in Mosso zeigen, dass es keinen Grund gibt, warum ein historischer Forschungsansatz, der sich mit umfassenden sozialen Transformationen befasst, und einer, der sich auf das Leben und die Existenz der einfachen Leute konzentriert, nicht nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen können. Die Aufgabe eines Historikers besteht darin, die Verbindungen zwischen dieser beiden Ebenen historischer Erfahrungen zu erforschen. Franco Ramellas Lebenswerk ist ein Zeugnis für die Wirksamkeit dieser Herangehensweise.
Paolo Tedesco lehrt Geschichte an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der späten Antike und des frühen Mittelalters, die vergleichende Agrargeschichte und der historische Materialismus.