09. Mai 2023
Mehr Lager an den Außengrenzen, mehr Abschiebungen, mehr Abschreckung: Was CSU-Hardliner Horst Seehofer nicht geschafft hat, könnte jetzt mit Hilfe der Ampel Realität werden.
Für ihren harten Kurs in der Asylpolitik wurde SPD-Innenministerin Nancy Faeser prompt von ihrem Vorgänger Horst Seehofer gelobt.
IMAGO / Metodi PopowAnfang Juni kommen die europäischen Innen- und Justizministerinnen und -minister bei einem Ratstreffen zusammen, um die Reform der EU-Asylpolitik voranzubringen. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat im September 2020 mit dem »New Pact on Migration and Asylum« ein mehrere hundert Seiten umfassendes Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt. Aber das Projekt stockt aufgrund des Streits unter den Mitgliedstaaten.
Kurz bevor der Pakt der Öffentlichkeit präsentiert wurde, brannte das Lager Moria auf der Insel Lesbos ab. Dort gab es seit 2016 einen EU-Hotspot, in dem Schutzsuchende unter unwürdigen Bedingungen festgesetzt wurden. Die EU-Kommissarin Ylva Johansson versprach angesichts der dramatischen Bilder, dass es zukünftig keine »Morias« mehr geben würde.
Doch der neue Pakt dürfte das Elend an den EU-Außengrenzen normalisieren. Und die Ampel-Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP will diesem Vorhaben beim Ratstreffen im Juni zustimmen.
Seit mehr als dreißig Jahren ist die europäische Asyl- und Migrationspolitik vom Prinzip der Externalisierung geprägt: Die EU-Mitgliedstaaten erkennen das Grundrecht auf Asyl zwar formal an, aber verfolgen in der Praxis eine Strategie, bei der der Grenzschutz und die Flüchtlingsaufnahme an Drittstaaten ausgelagert wird. So sollen möglichst wenige Asylsuchende in die EU gelangen. Manche Regierungen, wie die völkische Fidesz in Ungarn, wollen Fluchtmigration unter allen Umständen verhindern. Die in der Praxis unkontrollierbare Grenzagentur Frontex erstellt seit Mitte der 2000er Jahre Risikoanalysen, unterstützt die EU-Mitgliedstaaten bei Abkommen mit Drittstaaten, führt Operationen an den Grenzen durch, organisiert Abschiebungen und ist in rechtswidrige Pushbacks verwickelt. Daneben haben einzelne EU-Mitgliedstaaten immer wieder versucht, bilaterale Abkommen mit Drittstaaten zu verhandeln. Ein Beispiel dafür war der sogenannte Freundschaftsvertrag zwischen Italien und Libyen, der 2008 von Silvio Berlusconi und Muammar al-Gaddafi abgeschlossen wurde.
Derartige Migrationsabkommen, die mit gravierenden Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention einhergingen, haben in der Praxis nie funktioniert und waren nicht von langer Dauer. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Erstens verhandeln die EU-Staaten in der Regel mit autoritären, politisch instabilen Regimen. Infolge des sogenannten Arabischen Frühlings brachen etwa genau die Regierungen zusammen, mit denen Europa in Sachen Grenzschutz Abkommen vereinbart hatte. Die Torwächter der EU standen zeitweilig nicht mehr bereit, um Schutzsuchende an der Flucht nach Europa zu hindern.
»Im Ergebnis wird diese Reform darauf hinauslaufen, dass viele Geflüchtete in Europa nie ein richtiges Asylverfahren durchlaufen werden.«
Die Migrationsabkommen verursachen zudem mittelbar neue Fluchtgründe. In West- und Zentralafrika führen afrikanische Staaten etwa im Gegenzug für finanzielle Zuwendungen Europas harsche Migrationskontrollen durch. Dies beschränkt beispielsweise die Freizügigkeit in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) und verschärft ökonomische Notlagen. Und indem ein Autokrat wie Recep Tayyip Erdoğan durch den EU-Türkei-Deal Druckmittel gegen die EU in der Hand hat, fällt die Kritik der europäischen Staaten am autoritären Umbau in der Türkei, an der Unterdrückung der Opposition sowie dem militärischen Vorgehen gegen die Kurdinnen und Kurden vergleichsweise harmlos aus.
Das Prinzip der Auslagerung ist also offensichtlich gescheitert. Dieser Erkenntnis zum Trotz greifen die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten auf die altbekannten Konzepte zurück, um das Grenzregime aufrechtzuerhalten. Das Ziel der Reform ist es weiterhin, die Flüchtlingsaufnahme in andere Staaten auszulagern. Im Wissen um die Umsetzungsprobleme dieser Externalisierung, will die EU das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) massiv verschärfen, um die Rechte derer, die noch ankommen, umfassend zu beschneiden. Dadurch sollen Schutzsuchende vor einer Flucht nach Europa abgeschreckt werden.
Der EU-Türkei-Deal und die Hotspots auf den griechischen Inseln waren der Versuch, eine solche Entrechtung unter dem aktuellen europäischen Asylrecht voranzutreiben. Die dort erprobten Instrumente dienen als Blaupause für den aktuellen Asyl- und Migrationspakt, den die Europäische Kommission vor den Europawahlen 2024 finalisieren will.
Zum Kern des Paktes gehören Grenzverfahren. An den EU-Außengrenzen werden alle ankommenden Geflüchtete in Lagern interniert und einem umfassenden Screening unterzogen. Dabei wird geprüft, ob sie überhaupt ein reguläres Asylverfahren erhalten sollen. Anleitend für dieses Vorgehen ist der deutsche Asylkompromiss der Kohl-Regierung von 1993, der das Asylrecht massiv einschränkte. In abgeänderter Form wird er an den deutschen Flughäfen angewandt, wo Anträge von ankommenden Schutzsuchenden im Transit geprüft werden – das Ergebnis sind oft eklatante Fehlentscheidungen. Ex-Innenminister Horst Seehofer hatte dieses Konzept der Grenzverfahren in den EU-Verhandlungen vorangetrieben. Was dabei herauskommt, wenn man Geflüchtete an den Außengrenzen festsetzt, lässt sich seit Jahren auf den griechischen Inseln beobachten, wo ein menschenunwürdiger Ausnahmezustand zur Normalität geworden ist.
Aktuell ist in der Presse immer wieder von »Asylverfahren an der Grenze« zu lesen. Diese Formulierung legt nahe, dass bei diesen Grenzverfahren Fluchtgründe evaluiert werden würden – das ist jedoch nicht der Fall. Ob jemand vor dem Islamischen Staat oder den Taliban geflohen ist, interessiert die Grenzbeamtinnen und -beamte erst einmal überhaupt nicht. Denn alle Personen, die aus einem sicheren Drittstaat in die EU geflohen sind – und die Kommission will die Kriterien dafür, wann ein Staat als »sicher« gilt, stark herabsenken –, werden pauschal in das Grenzverfahren geschleust. Das gilt auch für diejenigen, die aus einem Herkunftsland kommen, bei dem die EU-weite Anerkennungsrate von Asylanträgen bei unter 20 Prozent liegt. Dazu zählten im Jahr 2021 laut der EU-Asylagentur unter anderem Russland, Pakistan, Nigeria oder Bangladesch.
»Flüchtlingsfeindliche Regierungen könnten Mittel für Abschiebungen bereitstellen, um die Vorgaben des Solidaritätsmechanismus zu erfüllen.«
Gegen die Aufnahme in das Grenzverfahren kann keine Klage eingereicht werden, nur gegen die finale Entscheidung über die Zulässigkeit des Asylantrags – und auch das nur in einem Verfahren, in dem die Rechtsmittel der Klägerinnen und Kläger stark eingeschränkt sind.
Im Ergebnis wird diese Reform darauf hinauslaufen, dass viele Geflüchtete in Europa nie ein richtiges Asylverfahren durchlaufen werden, um ihre Fluchtgründe darzulegen. Damit unterlaufen derartige Grenzverfahren nicht nur das Recht auf Asyl nach Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta, sondern stellen grundsätzlich die Rechtsstaatlichkeit der EU zur Disposition.
Angesichts dieser gravierenden Verschärfungen verweisen Unterstützerinnen und Unterstützer des Paktes auf den neuen »Solidaritätsmechanismus«. Geflüchtete, die in kein Grenzverfahren gekommen sind und Asyl erhalten sollen, können in der EU umverteilt werden. So möchte die EU-Kommission unter den Mitgliedstaaten für Solidarität sorgen und hofft darauf, dass die Staaten an den Außengrenzen dem Pakt zustimmen. Der Konstruktionsfehler des Mechanismus liegt jedoch darin, dass er auf Freiwilligkeit basiert. Die Staaten an den Außengrenzen haben also keine Garantie dafür, dass andere Staaten Schutzsuchende aufnehmen werden.
Zudem können EU-Staaten ihre »Solidarität« laut dem Kommissionsvorschlag auch durch verpflichtende Geldzahlungen ausdrücken, die dem Aufbau von Kapazitäten des Asylsystems – einschließlich Rückführungen – zufließen sollen. Flüchtlingsfeindliche Regierungen könnten Mittel für Abschiebungen bereitstellen oder Equipment für den Grenzschutz organisieren, um die Vorgaben des »Solidaritätsmechanismus« zu erfüllen. Der Pakt liefert damit Anreize für eine verstärkte Grenzabschottung.
Als die selbsternannte Fortschrittskoalition aus SPD, FDP und Grünen 2021 ihren Koalitionsvertrag unterschrieben hat, wurde im Kapitel über Flucht und Migration folgendes festgehalten: »Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten. […] Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden. Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden«. Gemessen an diesem Maßstab dürfte die Ampel-Regierung dem europäischen Asylkompromiss nicht zustimmen.
Tatsächlich haben alle Ministerien, auch die der Grünen, den Vorschlag des SPD-geführten Bundesinnenministeriums unter Nancy Faeser mitgetragen, die sich den Plänen der EU-Kommission anschließen will. Innenministerin Faeser bezeichnete dies als »historisches Momentum« und wurde prompt von ihrem Vorgänger Horst Seehofer beglückwünscht.
»Bundeskanzler Scholz hat ein Papier vorgelegt, in dem sich der Bund dafür einsetzt, mehr sichere Herkunftsstaaten, mehr Abschiebehaft und mehr Befugnisse für die Polizei zu schaffen.«
Die deutsche Bundesregierung wird Anfang Juni beim EU-Rat eine restriktive Position vertreten und trifft am Verhandlungstisch auf Regierungen, die unter keinen Umständen Wege für Flüchtlinge in die EU schaffen wollen. Damit hat die Ampel-Koalition zugleich ihren Koalitionsvertrag gebrochen und sich von einer menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik verabschiedet.
Als sei das nicht genug, legen die Hardliner innerhalb der Regierung noch einen drauf: Bundeskanzler Scholz hat für den Flüchtlingsgipfel mit den Kommunen am 10. Mai ein Papier vorgelegt, in dem sich der Bund dafür einsetzt, mehr sichere Herkunftsstaaten, mehr Abschiebehaft und mehr Befugnisse für die Polizei zu schaffen, um Unterkünfte von Geflüchteten zu durchsuchen. Einige der Punkte lesen sich wie ein Vorgriff auf den EU-Asylkompromiss – der Bund will die Abschieberegeln verschärfen. In Bezug auf die Situation an den EU-Außengrenzen brachte FDP-Parteichef Lindner den Bau neuer Grenzzäune ins Gespräch. Und in einem Interview mit dem Deutschlandfunk antwortete Wirtschaftsminister Habeck auf die Frage, ob die Grünen bei Asylverfahren außerhalb von EU-Grenzen und bei neuen Grenzzäunen wirklich mitgehen würden: »Ich möchte ein bisschen abschichten, aber die Antwort ist ja«. Eine menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik wird also gegen und nicht mit der Ampelregierung erkämpft werden müssen.
Maximilian Pichl ist Rechts- und Politikwissenschaftler. Er vertritt die Professur für Politische Theorie an der Universität Kassel und hat zur Europäischen Flüchtlingspolitik geforscht.