17. August 2022
Nach ihrem katastrophalen Umgang mit der Eurokrise hat die Europäische Zentralbank einen neuen Mechanismus etabliert, um die Märkte für Staatsanleihen zu stabilisieren. Arbeiterinnen sind den Auswirkungen ihrer Geldpolitik hingegen weiterhin schonungslos ausgeliefert.
Demonstration zum 1. Mai 2022 in Athen.
Die Europäische Zentralbank steckt in einem Dilemma. Nachdem die Inflation in der Eurozone im Juni mit 8,6 Prozent einen neuen Höchststand erreichte, wollen viele Mitglieder des EZB-Rats die Leitzinsen schnell und deutlich erhöhen. Doch eine zu starke und zu plötzliche Anhebung könnte hochverschuldete Euro-Länder in finanzielle Schwierigkeiten bringen und den Euro destabilisieren. Vor allem Italien, die drittgrößte Wirtschaft Europas, bereitet Anlass zu Sorge.
Die politischen Turbulenzen, in die das Land in jüngster Zeit gekommen ist und die zum Rücktritt von Premierminister Mario Draghi führten, haben Investoren vom Kauf italienischer Staatsanleihen abgeschreckt. Infolgedessen ist der Spread – also der Unterschied im Ertrag – zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen auf den höchsten Stand seit beginn der Coronakrise 2020 gestiegen. Obwohl sich der Markt für italienische Staatsanleihen seither etwas beruhigt hat, könnte eine noch restriktivere Geldpolitik diese Ertragsdifferenz erneut ansteigen lassen und zu einer spekulativen Kapitalflucht aus dem Markt für italienische Anleihen führen.
In dem Versuch, sich diesem Dilemma zu entziehen, kündigte die EZB vor einigen Wochen zwei Maßnahmen an: Man werde den Leitzins um 0,5 Prozent anheben, aber gleichzeitig einen neuen Mechanismus einführen, der die Auswirkungen auf die Märkte für Staatsanleihen begrenzen solle, das sogenannte Transmissionsschutz-Instrument (Englisch: Transmission Protection Instrument, TPI). Es erlaubt der Zentralbank, Staatsanleihen in unbegrenztem Umfang aufzukaufen, wenn sie zu der Einschätzung gelangt, dass ein Land »von einer Verschlechterung seiner Finanzierungskonditionen betroffen ist, die sich nicht auf Grundlage der länderspezifischen wirtschaftlichen Lage rechtfertigen lässt.«
Kurz gesagt erlaubt es der Mechanismus der EZB, jedem Land, dessen Staatsanleihen von einer Panik und »chaotischen« Verkäufen betroffen sind, durch einen Bailout auszuhelfen. Für Länder wie Italien könnte dies sehr wichtig werden, wenn dadurch verhindert werden kann, dass sie in eine Abwärtsspirale immer schlechterer Konditionen geraten. Richtig eingesetzt könnte dieses Instrument verhindern, dass eine erneute Staatsschuldenkrise wie in den 2010er Jahren in Europa wirtschaftliche Verwüstung anrichtet.
Finanzpolitische Hardliner aus dem Norden Europas reagierten erwartungsgemäß empört auf die Ankündigung der EZB. Ordoliberale aus Deutschland beschwerten sich darüber, die Maßnahme »schütze [verschuldete] Länder sowohl vor Marktkräften als auch vor politischen Verpflichtungen.« Und Markus Kerber – der kontroverse Ökonom, dessen jüngstes Buch die Antwort der europäischen Wirtschaftspolitik auf die Coronakrise als fiskalischen Selbstmord Deutschlands bezeichnet hatte – bereitet bereits Verfassungsklagen gegen das TPI vor und nennt das Instrument »unverfrorene Staatsfinanzierung« durch die Zentralbank. Die Kritik entzündet sich vor allem daran, dass die EZB de facto die südeuropäischen Staatshaushalte finanziere – durch neu geschaffenes Zentralbankgeld statt über den Umweg privater Kreditgeber.
Angesichts der Empörungswelle konservativer Finanzpolitiker könnte man sich, wenn die eigenen Sympathien eher der Gegenseite gelten, durch die Ankündigung der EZB zu Optimismus verleitet sehen. Und es ist richtig, festzuhalten, dass sich die robuste Stabilisierung der Märkte für Staatsanleihen, die die Zentralbank gegenwärtig unternimmt, deutlich von ihrer marktbasierten Strategie während der Krise von 2010 bis 2012 unterscheidet. Damals entschied sich die EZB, den südeuropäischen Staaten eine Lektion in fiskalischer Disziplin zu erteilen, statt entschlossen einzugreifen, um einen Teufelskreis der Destabilisierung auf den Märkten für Staatsanleihen zu verhindern.
Dies war ein entscheidender Faktor, der zur damaligen Krise beitrug, wenn nicht sogar ihr Hauptauslöser. Als sich die Situation 2020 erneut zuspitzte, kündigte die Zentralbank allerdings an, sie werde alles Notwendige tun, um Liquidität und »günstige Finanzierungskonditionen« für die Regierungen der Eurozone aufrechtzuerhalten. Ist das TPI also ein weiterer Beweis dafür, dass die EZB mit ihrer Vergangenheit gebrochen hat und dass ihr Direktorium nicht mehr gewillt ist, ganze Länder im Namen der »Marktdisziplin« ins Elend zu stürzen?
Nicht wirklich.
Zwar stimmt, dass der EZB-Rat in letzter Zeit zur der reichlich verspäteten Erkenntnis gelangt ist, dass es tatsächlich keine gute Sache ist, die Märkte für Staatsanleihen kollabieren zu lassen. Aber dies sollte man nicht als Anzeichen dafür missverstehen, dass die Zentralbank bereit ist, nationale Regierungen darin zu unterstützen, die wirtschaftlichen Bedingungen für robustes und gerechtes Wachstum zu schaffen. Stattdessen sollten wir das Bekenntnis zur Zielsetzung, »geordnete Verhältnisse« auf den Märkten aufrechtzuerhalten, als strategisches Zugeständnis verstehen, das der Zentralbank die notwendige politische Unterstützung für eine restriktivere Geldpolitik zusichern soll.
Das TPI soll vor allem die Besitzer von Staatsanleihen beruhigen, die sich um den spekulativen Kollaps ihrer Portfolios sorgen, sollten die Leitzinsen deutlich angehoben werden. Indem dieses Risiko ausgeräumt wird, erscheint eine Zinserhöhung erträglicher. Christine Lagarde gab dies auf einer Pressekonferenz vor einigen Wochen mehr oder weniger offen zu. Erst, nachdem sich der EZB-Rat einstimmig auf die Einführung des TPI geeinigt hatte, wurde es politisch möglich, den Zinssatz um 0,5 Prozent zu erhöhen, statt um 0,25 Prozent, wie einen Monat zuvor angekündigt worden war. Indem die Finanzmärkte von den heftigsten Effekten einer Zinserhöhung geschützt werden, schafft sich die EZB den Freiraum, um die Inflation mit den traditionellen Mitteln zu bekämpfen: Der Vernichtung von Arbeitsplätzen, bis sich die Preise, besonders der Preis der Arbeit, stabilisiert haben.
Die Zielvorgabe der »geordneten Marktverhältnisse«, um den Finanzsektor zu beruhigen und politische Unterstützung für restriktive Geldpolitik zu schaffen ist in Europa als Teil der Zentralbankpolitik relativ neu. Nicht so in den USA, wo sie bereits eine lange Geschichte hinter sich hat. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Zinsen auf US-Staatsanleihen durchweg politisch festgelegt worden. Die Federal Reserve kaufte und verkaufte Staatsanleihen und Schuldscheine zu Preisen, die durch das Finanzministerium vorgegeben wurden. Als der Krieg zu Ende war und die Preisbindung für viele Konsumgüter aufgehoben wurde, brach eine Inflation aus, welche einen Höchststand von fast 20 Prozent erreichte. Trotzdem war die Bankenlobby sehr skeptisch, was die (damals neue) Idee betraf, dass die Federal Reserve die Inflation durch eine Anhebung der Leitzinsen bekämpfen sollte.
1948 fasste Frank Rathje, Präsident des Branchenverbands American Bankers Association, die generelle Einstellung des Finanzsektors zusammen: US-Staatsanleihen unter Wert fallen zu lassen, würde einen »Sturm« unter Bankern hervorrufen. Ein Entzug der Unterstützung der Fed müsste mit »verlässlichen Garantien für betroffene Parteien verbunden werden, dass Staatsanleihen auch weiterhin zu einem Preis nahe ihres Nennwerts« verkäuflich sein würden.
Die Federal Reserve ließ sich schließlich darauf ein. Durch den Treasury–Federal Reserve Accord von 1951 wurde diese Form der Garantie geschaffen. Das Abkommen, das die Preisbindung für Staatsanleihen aufhob und der Federal Reserve die Autorität gab, die Leitzinsen ohne Zustimmung des Finanzministeriums anzupassen, gilt heute oft als Ursprung der Politik einer unabhängigen Zentralbank. Was dabei üblicherweise vergessen wird, ist, dass es sowohl vor als auch nach Abschluss des Abkommens einer massiven PR-Kampagne bedurfte, um den Finanzsektor davon zu überzeugen, dass das Abweichen von festen, stabilen Zinssätzen keinen gefährlich volatilen »freien Markt« für Staatsanleihen schaffen würde. Stattdessen würde die Fed für »geordnete Marktverhältnisse« sorgen und die Eigentümer von Staatsanleihen so vor exzessiver Volatilität und spekulativen Wertverlusten schützen. Der Vorsitzende der Fed, William McChesney Martin Jr, erklärte damals: »Wir planen nicht, die Preise für Staatsanleihen festzuzurren, aber wir wollen sie auch nicht gänzlich dem Markt überlassen, ohne auf geordnete Verhältnisse zu achten.«
Doch während die Märkte für Staatsanleihen von den Zinserhöhungen geschützt bleiben sollten, traf dies auf den Arbeitsmarkt nicht zu. Nach Abschluss des Vertrags galt die Aufmerksamkeit der Fed mehr der Disziplinierung einer aufmüpfigen Arbeiterbewegung statt der Erfüllung ihres Mandats, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Vor allem nachdem die United Auto Workers (UAW) eine Reihe historischer Tarifabschlüsse erzielten, inklusive Anpassungsklauseln, welche die Löhne sowohl an die Produktivitäts- als auch die Preisentwicklung knüpften, wurde die »Wahrung der Preisstabilität« zum Euphemismus dafür, die Macht der Gewerkschaften zu brechen.
Jahrzehnte später, als der Fed-Vorsitzende Paul Volcker das Zinsniveau auf Rekordhöhe anhob – und damit die höchste Arbeitslosigkeitsrate in der USA seit der Weltwirtschaftskrise und eine Kaskade von Finanzkrisen in Lateinamerika verursachte – gab er dennoch große Acht darauf, dass seine gnadenlose Geldpolitik den Markt für US-Staatsanleihen nicht destabilisieren würde. Unter Volcker vergab die New Yorker Fed großzügig kurzfristige Kredite an die Händler von Staatsanleihen. Und Volcker selbst sorgte ebenfalls dafür, dass die Märkte liquide blieben, indem er Wiederverkaufsvereinbarungen für Staatsanleihen von einer Regelung ausnahm, die solche Sicherheiten im Fall von Insolvenzen einfror. Diese Maßnahmen sorgten dafür, dass eine ähnliche Finanzkrise wie in Lateinamerika nicht auch in den USA ausbrechen konnte.
Das zeigt, dass eine restriktive Geldpolitik unterschiedliche gesellschaftliche Klassen ungleich trifft. Während die Finanzmärkte geschützt bleiben, muss der Arbeitsmarkt die Kosten der Anpassung tragen, inklusive der Verdrängung, des Chaos und der Verzweiflung, die damit einhergehen, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren. Das ist nicht nur grausam, sondern auch unnötig. In den USA hat die Behauptung, die Inflation werde durch exzessive Nachfrage befeuert, wenigstens einen wahren Kern – der Mainstream empfiehlt in solchen Fällen die Anhebung des Zinsniveaus und damit der Arbeitslosigkeit (womit er unrecht hat, aber das steht auf einem anderen Blatt).
Doch in Europa behaupten noch nicht einmal die meisten Mainstream-Ökonominnen, dass ein überhitzter Arbeitsmarkt und eine zu hohe Nachfrage für die Inflationsdynamik verantwortlich sind. Angebotsseitige Schocks, vor allem bei der Energieversorgung, sind ganz klar ihr Haupttreiber. Dieses Problem wird eine restriktivere Geldpolitik nicht lösen. Warum sollten Öl und Gas billiger werden, wenn die Kosten für Kredite und damit für Investitionen steigen?
Statt die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben, sollte die EZB die Inflation bei den Energiepreisen lieber direkt angehen, indem sie die Regierungen der Euroländer dabei unterstützt, die Dekarbonisierung zu beschleunigen, was die Abhängigkeit von russischem Öl verringern würde. Falls sie sich um chaotische Zustände an den Finanzmärkten sorgt, sollte sie die ausufernde Spekulation mit Rohstoffen eindämmen, die in den vergangenen Monaten zu überhöhten Weizenpreisen führte.
Wenn die EZB um die Tragfähigkeit der Staatsschulden südeuropäischer Länder besorgt ist, sollte sie aufhören, der diskreditierten Idee Raum zu bieten, sie müssten nur ihre Lohnkosten drücken, um international wieder konkurrenzfähig zu werden und auf Wachstumskurs zu kommen. Italien, wo die Ungleichheit wächst, die Löhne seit dreißig Jahren stagnieren und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf heute niedriger ist als vor zwei Jahrzehnten, kann als paradigmatisches Beispiel dafür herhalten, dass solche neoliberalen Reformen nicht das Wachstum erzeugen, das sie eigentlich legitimieren soll.
Zu den Bedingungen für Staaten, in den Genuss des TPI zu kommen, gehört, dass sie nach Einschätzung der EZB eine »vernünftige und nachhaltige fiskalische und makroökonomische Politik« verfolgen, was in der Vergangenheit vor allem eines bedeutete: Austerität. Was wäre, wenn stattdessen ein stärkerer Schutz für Beschäftigte, eine Verringerung der Ungleichheit durch progressive Besteuerung und generell eine Politik des lohngetriebenen Wachstums zu Bedingungen für die Teilnahme am TPI würden?
Natürlich wird der Rat der EZB diesen Weg niemals von sich aus einschlagen. Wenn es für einen kurzen Moment so schien, als ob die Christine Lagardes und Jerome Powells dieser Welt strategische Verbündete im Kampf für eine Wirtschaftspolitik, welche die Macht der Beschäftigten stärkt, sein könnten, so ist dieser Moment nun verstrichen. Wir müssen diesen Kampf selbst führen.
Aaron Wistar ist Redakteur bei Harvard University Press. Er promovierte in Bewusstseinsgeschichte an der University of California, Santa Cruz.
Aaron Wistar ist Redakteur bei Harvard University Press. Er promovierte in Bewusstseinsgeschichte an der University of California, Santa Cruz.