07. September 2022
Monsunregen und schmelzende Gletscher haben Millionen Pakistanerinnen und Pakistaner aus ihren Häusern vertrieben. Diese Katastrophe beweist: Diejenigen, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen, trifft es am härtesten.
Mindestens 35 Millionen Menschen sind von den Folgen der Flut betroffen, Rajanpur, Pakistan, 28. August 2022.
IMAGO / XinhuaNachdem Pakistan 2010 zuletzt von einer schweren Flutkatastrophe heimgesucht wurde, hat das Land nun erneut mit Verwüstungen in unvorstellbarem Ausmaß zu kämpfen. Monsunregen und schmelzende Gletscher haben mindestens 35 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, die Zahl der Todesopfer ist auf über tausend gestiegen. Schätzungen zufolge belaufen sich die Schäden infolge der weitreichenden Zerstörungen auf mindestens 10 Milliarden Dollar. Darüber hinaus wurden massenhaft landwirtschaftliche Flächen verwüstet und Viehbestände von den Fluten mitgerissen, weshalb in den kommenden Monaten eine immense Nahrungsmittelknappheit droht.
In den lokalen und auch internationalen Medien wurde auffällig wenig über die Rekordfluten berichtet, die im vergangenen Juli in der Provinz Belutschistan einsetzten. Stattdessen beherrschte der Machtkampf zwischen der Partei des gestürzten Ex-Regierungschefs Imran Khan und der Koalitionsregierung der Demokratischen Bewegung Pakistan (Pakistan Democratic Moevement, PDM) die öffentliche Debatte, einschließlich der entscheidenden Nachwahlen in der Provinz Punjab. Im August begannen beide Seiten, politisch motivierte Klagen gegen ihre Gegner einzureichen. Die Verhaftung von Shahbaz Gill, dem Stabschef von Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) hat die politische Polarisierung zusätzlich befeuert. Es ist zu erwarten, dass es in den kommenden Wochen zu einer weiteren Eskalation kommen wird.
Während politische Kommentatorinnen und Kommentatoren im Ausland und in der Hauptstadt Islamabad detailliert über den Politikbetrieb im Zentrum des Landes berichteten, kursierten in den Sozialen Medien die ersten leisen Hilferufe von Betroffenen der extremen Regenfälle aus den Randgebieten Pakistans. Wenig später wurden Regionen im Sindh und südlichen Punjab von den Fluten überschwemmt. Am 23. August waren die Überflutungen zum ersten Mal die Hauptmeldung in einem pakistanischen Sender. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits über 20 Millionen Menschen betroffen. Es handelt sich um die heftigste Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte des Landes.
Die Zögerlichkeit, mit der die Medien reagierten, erklärt sich in Teilen daraus, dass das Narrativ der »Naturkatastrophe« keine eindeutige Kategorisierung in Helden und Übeltäter zulässt. Die Tragödie ruft zwar weltweit Mitleid hervor, doch es lässt sich daraus keine politische Kontroverse spinnen. Tatsächlich ist das Desaster, das sich aktuell in Pakistan entfaltet, aber zutiefst politisch. Und daher ist es unbedingt notwendig, die Akteure zu benennen, die für das vermeidbare Leiden von Millionen von Menschen die Verantwortung tragen.
Die beispiellosen Monsun-Regenfälle (die auf eine Hitzewelle folgten, die ebenfalls alle Rekorde brach) sind vorhersehbare Katastrophen des Klimawandels, der wiederum das Ergebnis des fossilen Kapitalismus ist. Es ist weithin bekannt, dass Kolonialismus und Imperialismus die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Länder ausgebremst haben. Dadurch konnte der Globale Norden von der Ausbeutung ärmerer Länder profitieren. Laut dem Wirtschaftshistoriker Utsa Patnaik lässt sich der Schaden, den die Briten allein der indischen Wirtschaft zugefügt haben, auf 45 Billionen Dollar beziffern. In der kolonialen Metropole wurden damit vereinzelte Inseln des Wohlstands geschaffen, während Millionen von Menschen in den Kolonien Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger ausgeliefert wurden.
Dieses Ausbeutungsverhältnis tritt noch einmal deutlicher zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es die Treibhausgasemissionen des Globalen Nordens sind, die derzeit einen Klimakollaps auslösen. Dieser betrifft Länder, die nicht nur besonders anfällig für Folgen des Klimawandels sind, sondern denen dazu auch noch die Mittel fehlen, um Klimaschutz und eine klimaresistente Infrastruktur finanzieren zu können. Der Globale Norden hatte seinen Anteil am Budget ungefährlicher Emissionen schon im Jahr 1939 überschritten – fast acht Jahrzehnte vor den gegenwärtigen Überschwemmungen.
Pakistan hat nicht einmal seinen eigenen Anteil an sicheren Emissionen aufgebraucht (seit 1959 hat das Land 0,4 Prozent zu den weltweiten Treibhausemissionen beigetragen), während die Länder des Globalen Nordens ihren Anteil um 90 Prozent überschritten haben. Es ist außerdem bekannt, dass einhundert Unternehmen 71 Prozent der Emissionen verursachen und dass die zwanzig umweltschädlichsten Konzerne für den Ausstoß eines Drittels aller Treibhausgase verantwortlich sind. Die Geister der Vergangenheit holen uns ein – und sie suchen diejenigen zuerst heim, die sie nicht gerufen haben.
Die zeitliche und räumliche Verzögerung zwischen Ursachen und Auswirkungen der Klimakrise macht es Liberalen leicht, eine Katastrophe, wie sie sich gerade in Pakistan abspielt, als »humanitäre« Tragödie darzustellen und deren politische Wurzeln auszublenden. Der marxistische Literaturtheoretiker Fredric Jameson wies darauf hin, dass diese Amnesie in der Logik des Kapitalismus bereits angelegt ist, da die akkumulierte Ausbeutung der Vergangenheit ein Mittel zur Kontrolle der Gegenwart darstellt. Da diese Vergangenheit in den auf dem Markt gehandelten Waren nicht sichtbar ist, wirkt es so, als vollziehe sich dieser Austausch auf Augenhöhe. Der Kapitalismus erscheint also natürlich, setzt tatsächlich aber eine Geschichte der Gewalt und Ausbeutung voraus – eine Geschichte, die das Kapital in seiner eigenen Entwicklung verleugnet und verdrängt.
Zur zynischen Ausnutzung der zeitlichen und räumlichen Verzögerung zwischen dem Ausstoß von Treibhausgasen und seinen tödlichen Folgen gehört auch, dass die Verursacher von Umweltverschmutzung, die in erster Linie für das Leid von Millionen Menschen und die drohende planetare Katastrophe verantwortlich sind, in der öffentlichen Debatte nicht benannt werden. Das führt im Ergebnis dazu, dass dieses Leid entpolitisiert wird und es immer schwieriger wird, die Länder und Unternehmen des Globalen Nordens zur Rechenschaft zu ziehen. Dadurch wird wiederum der falsche Eindruck erweckt, dass uns diese Krise als menschliche Gemeinschaft gleich stark bedroht und wir »alle im selben Boot« sitzen.
Pakistan steckte schon inmitten einer schweren wirtschaftlichen Notlage, bevor das Land überflutet wurde. Als die PDM die Regierung von Imran Khan im April dieses Jahres absetzte, hatte Pakistan mit einer Schuldenkrise zu kämpfen – die Auslandsschulden betrugen schätzungsweise 28 Milliarden Dollar. Die neue Regierung bat den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe, woraufhin der IWF forderte, die Subventionen für Öl einzustellen und die Stromtarife zu erhöhen. Als die PDM-Regierung vor diesen Auflagen kapitulierte, kletterte die Inflation auf bis zu 27 Prozent. Das traf die Ärmsten und die Mittelschicht am härtesten. Die Bevorteilung der Elite, deren Umfang in einem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) auf 17,4 Milliarden Dollar geschätzt wurde, blieben hingegen unangetastet: Ein weiteres groteskes Beispiel für Austerität für die Armen und Sozialismus für die Reichen.
Als die Regierung Anfang August eine weitere massive Erhöhung der Stromtarife ankündigte, folgten im ganzen Land spontane Proteste. Die Koalition sah sich aufgrund des öffentlichen Drucks dazu gezwungen, die Preiserhöhung teilweise wieder zurückzunehmen. Die insgesamt desolaten Lebensbedingungen belasten die Bürgerinnen und Bürger jedoch weiterhin: 40 Prozent der Todesfälle in Pakistan sind auf Krankheiten zurückzuführen, die durch Wasser übertragen werden, etwa 40 Prozent aller Kinder sind unterernährt und 20 Millionen von ihnen haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Die pakistanische Bevölkerung blickt einer düsteren Zukunft entgegen; gleichzeitig fordert der IWF, dass das Land die »Umstrukturierung« seiner Wirtschaft weiterhin nach Maßgabe der Kräfte des freien Marktes vollzieht.
Schon vor den Überflutungen war klar, dass sich die pakistanische Wirtschaft die vom IWF eingeforderten exorbitanten Abgaben nicht mehr leisten kann – vor allem, wenn die Privilegien der Elite nicht angetastet werden sollen. Angesichts der Rekordflut, die Schäden in Höhe von über 10 Milliarden Dollar verursacht hat, ist augenscheinlich, dass Pakistan Unterstützung in bisher nicht gekanntem Ausmaß benötigen wird. Doch vielleicht ist nun auch der ideale Zeitpunkt gekommen, an dem eine Debatte über die Entschädigung für historisches Unrecht geführt werden kann. Dazu zählt auch die Frage eines Schuldenerlasses, die einen Aspekt der weltweiten Bemühungen um Klimagerechtigkeit bilden sollte.
Es ist erfreulich, dass diese Forderung inzwischen auch im Mainstream Aufwind erfährt. Zahlreiche Organisationen, darunter auch das Komitee für die Abschaffung illegitimer Schulden (CADMT), argumentieren schon lange, dass Kredite, die in Folge von kolonialer Ausbeutung und Militärdiktaturen aufgenommen wurden, als »verabscheuungswürdig« erklärt und gestrichen werden sollten. Mittlerweile fordern immer mehr Aktivisten, Akademikerinnen und vom Klimawandel besonders betroffene Gemeinschaften einen Schuldenerlass als Teil von Reparationszahlungen an Länder des Globalen Südens. Auch der Weltklimarat hat die Rolle des Kolonialismus bei der Eskalation der globalen Erwärmung anerkannt, was der Forderung nach Reparationszahlungen zusätzliche Schlagkraft verleiht.
Auch pakistanische Aktivistinnen und Aktivisten verlangen, dass die Gläubiger im Globalen Norden die Schulden des Landes erlassen, Investitionen und Technologietransfers für eine klimaresistente Infrastruktur bereitstellen und ihre fossilen Konzerne für die von ihnen verursachte Umweltverschmutzung zur Verantwortung ziehen. Diese Maßnahmen sollen die 100 Milliarden Dollar ergänzen, die armen Ländern im Pariser Klimaabkommen zugesichert wurden – eine Zusage, der bis heute nicht nachgekommen wurde. Man darf dieses Anliegen nicht mit nationalistischen Forderungen gleichsetzen, in denen Süden und Norden als verdinglichte Kategorien begriffen werden. Denn wie ich bereits dargelegt habe, hat die herrschende Elite in Pakistan (und im gesamten Globalen Süden) im Umgang mit Wirtschafts- und Klimafragen eine klägliche Bilanz vorzuweisen.
Diese Forderungen sollen vielmehr den Ausgangspunkt für eine Politik bilden, die Fragen von historisch gewachsener Ungerechtigkeit, Imperialismus und Kapitalismus ernst nimmt und den Weg in eine neue Ordnung ebnet. Dieses politische Programm kann zwischen Sozialisten im Globalen Norden, die gegen Militarismus, Nationalismus und fossile Konzerne kämpfen, und Sozialistinnen im Globalen Süden, die dem ausbeuterischen Geflecht aus lokalen Eliten, fremden Ländern und internationalen Finanzinstitutionen entgegentreten, ein verbindendes Element bilden. Es ist ein Aufruf für ein gemeinsames internationales Projekt, das einen ambitionierten Zukunftsentwurf anvisiert, anstatt den Möglichkeitsraum auf philanthropische Bemühungen zu verengen.
Unternehmerische Gier und Finanzspekulation haben sich als lebensfeindlich erwiesen. Pakistan ist in einer doppelten Krise von Verschuldung und Klimakatastrophe gefangen und liefert damit eine Blaupause für die dystopische Zukunft, auf die wir zusteuern. Doch hier bietet sich auch die Chance, den Lauf der Geschichte zu verändern. Kein armes Land ist dazu in der Lage, nach dem Ausmaß der Zerstörung, das wir in Pakistan gesehen haben, einen Wiederaufbau zu stemmen. Entweder werden solche Katastrophen härtere Grenzen sowie eine Zunahme von Gewalt und Zensur nach sich ziehen, da die Gemeinschaften, die von der Klimakrise am schwersten getroffen werden, der Gier und Rücksichtslosigkeit der Konzerne geopfert werden. Stattdessen könnten wir aber auch die Art von globaler Solidarität erleben, in der wir unserer menschlichen Verbundenheit dadurch Ausdruck verleihen, dass wir Ressourcen umverteilen und für historisches Unrecht Wiedergutmachungen leisten. Wir stehen an einem Scheideweg: Internationalismus oder Apartheid. Es ist an der Zeit, sich zu entscheiden.
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit der Puffin Foundation.