12. Mai 2022
Die Zustimmung zu schweren Waffenlieferungen innerhalb der Bevölkerung sinkt. Dennoch hat der Bundestag mit breiter Mehrheit dafür gestimmt. Protest ist vorprogrammiert – die LINKE täte gut daran, ihn auch anzuleiten.
Großdemonstration gegen den Krieg in der Ukraine, Berlin. 13. März 2022.
Vor wenigen Tagen haben Union, FDP, Grüne und SPD die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine beschlossen. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Partei haben dem Druck aus den USA, den Medien, der Opposition und den anderen Regierungsparteien nachgegeben.
Dieser ganz großen parlamentarischen Einigkeit steht indes eine tief gespaltene Bevölkerung gegenüber. Laut Umfrage des ARD-Deutschlandtrends vom 29. April sind 45 Prozent der Menschen in Deutschland für die Lieferung schwerer Waffen, 45 Prozent dagegen und die übrigen 10 Prozent sind unentschlossen. Entsprechend gibt es auch in den Parteien, die für die Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung gestimmt haben, viel Opposition. Bei FDP und Grünen lehnen jeweils 25 Prozent der Mitglieder die Entscheidung ab und bei der CDU/CSU 42 Prozent. Bei der SPD sind mit 46 Prozent sogar mehr Mitglieder gegen die Waffenlieferung, da lediglich 45 Prozent dafür gestimmt haben.
Doch nicht nur die Führungen von beinahe allen im Parlament vertretenen Parteien fordern die Lieferung schwerer Waffen, auch in den Zeitungen, im Fernsehen und im Rundfunk wird diese Position fast unisono verbreitet, werden Gegner nicht gehört oder – so wie die 250.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des offenen Briefs an Bundeskanzler Olaf Scholz – pauschal diffamiert. Wenn dieser Beschluss trotz dieses Einflusses bei steigender Tendenz von der Hälfte der Bevölkerung nicht mitgetragen wird und sogar innerhalb der befürwortenden Parteien erheblichen Widerspruch auslöst – der im Falle der SPD sogar die Mehrheitsposition ist –, so haben wir es mit einem Elite-Masse-Bruch zu tun. Einen solchen gab es im Übrigen in Bezug auf den Ukrainekonflikt schon einmal, nämlich 2014.
Die deutsche Bevölkerung ist in dieser Frage mit guten Gründen gespalten. Denn die US-amerikanischen Waffen, die schon seit 2014 im Land sind, als auch die Waffen, die wiederum vor allem die USA seit dem 24. Februar 2022 geliefert haben, helfen der ukrainischen Bevölkerung gerade, sich gegen den russischen Angriff zu wehren. Hinzu kommt, dass die ukrainische Regierung diese Lieferungen auch explizit fordert. Und Deutschland hat geliefert: In den ersten acht Wochen seit Kriegsbeginn sind Waffen im Wert von mindestens 191,9 Millionen Euro an die Ukraine gegangen. Gleichzeitig bedeuten diese Waffen auch, dass es sehr realistisch ist, dass dieser Krieg in einer noch sehr viel grauenerregenderen Weise eskaliert.
Für die Ukraine würde das den Einsatz aller zur Verfügung stehenden Waffen bedeuten – inklusive thermobarer Waffen und taktischer Atomwaffen. Die Konsequenz dessen wäre eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und der Atommacht Russland, die unweigerlich in einen Dritten Weltkrieg münden würde. Es braucht nicht viel, um das Pulverfass zu entzünden. Da Russland die Eskalationsdominanz besitzt, würde schon die Bombardierung der Logistik für die Waffenlieferungen in einem NATO-Staat oder die Tötung von den bestätigten US-amerikanischen und britischen aktiven NATO-Ausbildern in der Ukraine durch russische Luftschläge oder Truppen ausreichen, damit die Welt in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine in eine unvorstellbare Endzeit-Katastrophe schlittert, die in der Ukraine und Mitteleuropa ihren Ground Zero hätte. Auch die Tatsache, dass sich US-amerikanische Geheimdienstlerinnen und Geheimdienstler damit brüsten, an der Versenkung des größten russischen Schlachtschiffs seit Ende des Zweiten Weltkriegs, der Moskwa, beteiligt gewesen zu sein, oder Geodaten für die Tötung von hochrangigen russischen Generälen bereitgestellt zu haben, birgt großes Eskalationspotenzial.
Die vier Maßnahmen der Bundesregierung – die Sanktionen, die die Zivilbevölkerung treffen, die Lieferung schwerer Waffen, die Aufstockung der Bundeswehrkontingente an der NATO-Ostflanke und die Hochrüstung im Innern – kommen einer »aktiven Kriegsbeteiligung« immer näher, wie auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in einem früheren Gutachten konstatiert. Sie verhindern zugleich, dass Deutschland zusammen mit dem UNO-Generalsekretär, der OSZE und anderen großen Wirtschaftsmächten (wie etwa den anderen BRICS-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika) glaubwürdig in einer Vermittlerrolle auftreten und sich für einen sofortigen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung einsetzen kann.
Je länger dieser Krieg anhält, umso unwahrscheinlicher wird ein baldiges Kriegsende, weil sich die Verhandlungspositionen verhärten und der Druck, der jeweils eigenen Bevölkerung einen »Sieg« als Entschädigung für das erduldete Leid zu präsentieren, immer größer wird. Umso dringlicher wird die diplomatische Einflussnahme von außen. Die USA und auch die ukrainische Staatsführung sind dazu aber offenbar nicht willens. Ganz im Gegenteil, die USA haben explizit erklärt, den Krieg im Grunde genommen bis zum letzten Ukrainer kämpfen zu wollen, um Russland, so das US-amerikanische strategische Ziel, »dauerhaft zu schwächen«. Auch die ukrainische Staatsführung hat mit den USA im Rücken ihre Kriegsziele neu definiert. So erklärte der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba am 10. Mai in der Financial Times, dass »die Vorstellung, was ein Sieg bedeutet, ein sich entwickelnder Begriff« sei. Heute bedeute dies, nicht nur den Zustand vom 23. Februar 2022 wiederherzustellen, sondern »die Russen [auch] aus dem Donbass und der Krim zu vertreiben«, also den Krieg – so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij am 11. Mai – erst dann zu »beenden, wenn wir alles zurückgewonnen haben, was uns gehört«.
Somit liegt die Verantwortung bei den europäischen Staaten, sich unabhängiger von den USA für einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung einzusetzen und Russland (aber auch die ukrainische Regierung) zurück an den Verhandlungstisch zu drängen.
Für die politische Linke wird angesichts dieser Entwicklung eine Tatsache strategisch alles entscheidend sein: Die Angst vor einer Eskalation des Kriegs in der Ukraine und vor einem Dritten Weltkrieg in Europa, die sich auch in der breiten Ablehnung schwerer Waffenlieferungen innerhalb der deutschen Bevölkerung ausdrückt, wird voraussichtlich schon bald einen Ausdruck auf der Straße finden. Für alle, die diese Sorge teilen und die realistische Gefahr unbedingt bannen wollen, ist das eine gute Nachricht. Doch wenn die organisierte Linke jetzt nicht proaktiv handelt, werden diese Proteste aller Wahrscheinlichkeit nach auf Initiative von Einzelpersonen spontan entstehen, so wie es 2014 beim »Friedenswinter« oder den »Mahnwachen für den Frieden« schon einmal geschehen ist.
Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke sind schließlich nicht die einzigen, die sich gegen die Lieferung schwerer Waffen aussprechen. Auch die AfD ist dagegen, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Die AfD lehnt die Lieferung schwerer Waffen zum einen aus deutsch-nationalistischen Gründen ab. Führt man sich Chrupallas und Höckes Positionierung vor Augen, wird deutliche, dass sie vor allen Dingen einen Krieg in Deutschland verhindern wollen und sie das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung nicht kümmert. Zum anderen hegt man in der AfD durchaus Sympathien für Putins Autoritarismus, Ethnopluralismus, Nationalismus, Antikommunismus und kulturellen Erzkonservatismus, der sich gegen sexuelle Minderheiten und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen richtet. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die AfD politische und finanzielle Verbindungen zur russischen Regierung und rechten Kräften unterhält. Und schließlich ist die Position der AfD sicherlich auch wahlstrategischem Kalkül geschuldet, um in ihren ostdeutschen Hochburgen die NATO-skeptische Wählerschaft nicht zu verprellen. Denn in Ostdeutschland ist laut RTL/NTV-Trendbarometer die Ablehnung von Waffenlieferungen mit 57 Prozent der Bevölkerung besonders stark ausgeprägt.
Wenn spontane Proteste von weltanschaulich ungefestigten Einzelpersonen initiiert werden – wie im Falle der Mahnwachen, die 2014 von Lars Mährholz angeleitet wurden–, dann muss man damit rechnen, dass die AfD versuchen wird, diese Proteste für sich zu vereinnahmen. In diesem Falle würde das eine Beteiligung der Linkspartei an diesen Protesten ausschließen. Aber selbst wenn die Partei diesmal versuchen würde, in dieser Bewegung hegemonial zu werden, könnte sie in einer solchen Situation, die als »Querfront« wahrgenommen und dargestellt werden würde, politisch und medial nur verlieren. Ja, sie müsste in einer solchen Konstellation verlieren, weil sie, verglichen mit den Rechtsextremen, die viel schwächere Kraft wäre.
Wenn es angesichts des offensichtlichen Elite-Masse-Bruchs in der Frage der zunehmenden deutschen Beteiligung am Krieg in der Ukraine und angesichts der grassierenden Angst vor einem Dritten Weltkrieg in Kürze zu solchen Protesten kommen wird und wenn die berechtigte linke Sorge vor einer »Querfront« bedeutet, dass sich die Linkspartei an solchen Protesten nicht beteiligt und damit zu rechnen ist, dass die AfD diese Proteste kapern wird, dann muss die LINKE diesen Protest jetzt organisieren – besser heute als morgen.
Es braucht von der LINKEN (mit-)organisierte und getragene Groß-Demonstration und flankierend lokale wöchentliche Kundgebungen, die von Orts- und Kreisverbänden angestoßen werden. Nur so können breite Bündnisse geschaffen werden, die das Thema der Zeit besetzen und zugleich organisatorisch und programmatisch eine scharfe Grenze nach rechts ziehen, nämlich an der Trennlinie zwischen demokratischem Konservatismus und Faschismus.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitinitiator von »Der Appell«, der sich gegen die Hochrüstungspolitik der Bundesregierung richtet.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.