03. Juni 2022
Mit dem Sondervermögen über 100 Milliarden Euro bildet sich eine ganz große Koalition fürs Aufrüsten. Genau das ist das Problem – nicht die Umgehung der Schuldenbremse.
Sind sich einig: Lindner, Habeck und Scholz im Bundestag, 23. März 2022.
Nur drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine kündigte Olaf Scholz unabgesprochen vor dem Deutschen Bundestag an, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufzurüsten. Er sprach von einer »Zeitenwende«, die alsbald zum geflügelten Wort für alles wurde, was sich seit dem Krieg ändern sollte.
Meine erste Reaktion auf diese ungeheuerliche Zahl war schlicht: Das Aufrüsten ist falsch. Es war offensichtlich, dass die Invasion instrumentalisiert wurde, um lang gehegte Pläne der Rüstungsindustrie aus den Schubladen zu holen – sogar ohne Absprache mit der eigenen Regierung. So musste der Krieg in der Ukraine kurzerhand als Legitimation für Ausgaben herhalten, die zuvor nur schwer zu rechtfertigen gewesen wären.
In den vergangenen Wochen und Monaten ist viel passiert. Anfänglich gab es zwar Demonstrationen für den Frieden und die Bevölkerung ist in der Frage der Waffenlieferungen nach wie vor gespalten. Doch die öffentliche Stimmung drohte schon früh ausgehend von Meinungsbeiträgen in den Medien in eine Art Kriegstaumel zu verfallen. Man konnte beobachten, wie Linksliberale bis Konservative die eigenen Glaubenssätze leichtfüßig über Bord warfen. Manch einer wollte am liebsten vom Schreibtisch aus zur Verteidigung der Ukraine ansetzen, vielleicht um die eigene Handlungsunfähigkeit mit Wortgewalt zu übertünchen. Widerrede war kaum zu vernehmen. Erst Jürgen Habermas mahnte die übergelaufenen ehemaligen Pazifisten, die nun begannen, die Zurückhaltung Deutschlands zu kritisieren, sich der realen Dilemmata einer Eskalationsspirale zu stellen. Dafür gab es wiederum einen ungewöhnlich starken Backlash, der den außenpolitischen Rechtsschwenk noch einmal verdeutlichte.
Bei der Aufrüstung wird großspurig die Verteidigung von Demokratie und Freiheit nach außen ins Feld geführt – Positionen, die in der Öffentlichkeit auf fruchtbaren Boden fallen und einer bellizistischen Zeitenwende den Weg ebnen. Olaf Scholz kann nun stolz verkünden, Deutschland habe dank des Sondervermögens bald die größte konventionelle NATO-Armee Europas. In den letzten drei Monaten wurde in jedes Mikro der Nation posaunt, wie dringend die Bundeswehr das Geld benötige. Sogar von fehlenden Unterhosen war da die Rede, um die Aufrüstung möglichst harmlos und die Soldaten als wirklich bedürftig darzustellen. Tatsächlich geht es um schweres Gerät für die Luftwaffe, Landtruppen und Marine. Scholz selbst sprach bei der Generaldebatte im Bundestag am Mittwochmorgen von der »größten Veränderung der Sicherheitsarchitektur« der Bundesrepublik. Damit die auch wirklich erfolgt, ist man auf die Unterstützung der Union angewiesen.
Denn für die Grundgesetzänderung, die nötig ist, um das Sondervermögen an der Schuldenbremse vorbei zu schleusen, braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Die CDU unter Friedrich Merz genoss es sichtlich, bei einem ihrer Lieblingsthemen mitzumischen und aus der Opposition heraus am längeren Hebel zu sitzen. Selbst das bescheidenste Feigenblatt der Grünen – zunächst Entwicklungshilfen und dann Cybersicherheit – musste fallen.
Mit nur wenigen Gegenstimmen aus der Ampelkoalition, darunter auch bekanntere Gesichter wie Frank Bsirske und Jessica Rosenthal, wird die Zeitenwende der deutschen Außenpolitik nicht nur rhetorisch, sondern ganz materiell eingeleitet. Die Grünen mögen zähneknirschend zustimmen, nichtsdestoweniger bildet sich hier auch eine Wende zu einer grünen Kriegshärte ab. Und auch die letzten verbliebenen Pazifisten der SPD, vorneweg Fraktionsvorsitzender Ralf Mützenich, beugen sich der Vorgabe des Kanzlers. Ganze Generationen von Sozialdemokraten, die sich in einer Linie mit Willy Brandt wähnten, werden von Olaf Scholz eines Besseren belehrt. Kein Krieg vorher – und davon gab es einige, auch auf europäischem Boden, selbst wenn manche Erzählungen anderes suggerieren – vermochte es, eine solche bellizistische Zeitenwende einzuleiten.
Aufgrund der Mehrfachkrisen der letzten Jahre und der geopolitischen Neusortierung der Weltmächte ist es nicht verwunderlich, dass wir eine Art militärischen Keynesianismus erleben, durch den der militärisch-industrielle Komplex massiv durch den Staat subventioniert wird. Starke Lobbygruppen und die aktuelle politische Konstellation machen es möglich, dass wir nun inmitten der Klimakatastrophe in die schädlichste und lebensfeindlichste aller Produktionen investieren. Alle Abgeordneten, die für das Sondervermögen stimmen, und alle ideologischen Kriegstreiber haben das mitzuverantworten.
Wenn Linke dieses Sondervermögen nun kritisieren, müssen sie sich klar positionieren, um der Verschleierungstaktik der Regierung nicht auf den Leim zu gehen. Dazu gehört erstens, sich von einem klaren antimilitaristischen Standpunkt aus gegen dieses Zentrum zu stellen. Keine der Waffen, Tornados oder Kriegsschiffe werden in Zukunft für Frieden sorgen, sondern auf Jahre in Kriegen eingesetzt werden, die wir jetzt noch nicht einmal erahnen können. Neben dieser einmaligen Bereitstellung des Sondervermögens werden die jährlichen Ausgaben, die nun auf über 70 Milliarden Euro im regulären Bundeshaushalt steigen dürften, die Ausweitung der militärischen Anschaffungen regulär fortschreiben.
Die Geschichte der internationalen Linken gegen den Krieg reicht weit zurück. Es gibt keinen Grund, diesen Pfad zu verlassen. Wer jetzt nur noch über einzelne Summen streitet, gibt geschichtsvergessen anti-militaristische Grundsätze auf. Mit demselben Pathos, mit dem die übergroße Koalition dazu aufruft, für den Schutz der Freiheit und der Demokratie militärisch hochzurüsten, gilt es, sich in die lange Linie der Proteste gegen Kriegskredite zu stellen, die sozialistische Abgeordnete immer wieder dazu bewegten, sich gegen große Mehrheiten wie heute zu stellen.
Mit dem Sondervermögen zeigt die Ampelregierung was prinzipiell möglich ist, und dass sie schlichtweg nicht willens ist, ähnliche Summen für einen ernsthaften Transformationsfonds aufzuwenden. Das Grundgesetz ändern wir nicht alle Tage. Es ist deshalb richtig, wenn die Juso-Bundesvorsitzende Jessica Rosenthal in einem Gastbeitrag im Spiegel argumentiert, man sollte nicht daran »herumdoktern«.
In ihrer Ablehnung des Sondervermögens verwechselt Rosenthal allerdings Ursache und Wirkung. Ihre Positionierung erweckt den Eindruck, die Grundgesetzänderung an sich wäre das Problem. Ihr Gastbeitrag ist insofern symptomatisch für einen Teil der gesellschaftlichen Linken, die die Koordinaten aus den Augen verloren hat: Nicht der Militarismus an sich sei das Problem, sondern dass die Zeitenwende nicht auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen vollzogen werde. Wenn es ein Sondervermögen für die Bundeswehr gebe, dann müsse jetzt auch ein weiteres für erneuerbare Energien bereitgestellt werden. Implizit legitimiert man damit die (klimaschädliche) Militarisierung und rückt vom antimilitaristischen Konsens der Jusos ab.
Auch die LINKE macht einen Fehler, wenn sie in ihrer grundsätzlich richtigen Polemik gegen das Sondervermögen nun ihrerseits ein Sondervermögen gegen Kinderarmut fordert. Normativ ist dagegen natürlich nichts einzuwenden. Der Punkt ist nur, dass man der ideologischen Stärke der Metapher der Zeitenwende dadurch nichts entgegensetzt, weil Scholz natürlich auf ein vorhandenes Gefühl der Bedrohung durch den russischen Krieg reagiert. Wenn man sich nun auf die 100 Milliarden als Summe einschießt, die in gewisser Weise natürlich auch einen symbolischen Wert haben und fast schon willkürlich sind, kritisiert man das Sondervermögen, aber nicht seinen Zweck. Die Abschaffung der Armut bedarf einer regulären und konsequent anderen Haushaltspolitik. Wer das erreichen will, ist nicht gut beraten, der Bundesregierung aufs Gleis des Sondervermögens zu folgen.
Sinnvoller wäre es, die Schuldenbremse als solches abzuschaffen – eine Forderung, die Rosenthal wiederum konsequenter formuliert als es die LINKE tut. Jahrelang zementierte die Schuldenbremse den neoliberalen Status des Sparens – vor allem durch Deutschland, den Hegemon der EU. Wer da noch über eine führende Rolle Deutschlands phantasiert – wie es etwa Rosenthal in ihrem Beitrag tut, aber auch Habeck, der immer wieder von einer dienenden Führungsrolle spricht – verkennt, dass diese längst Realität geworden ist. Vor allem in ökonomischer Hinsicht.
Die von Deutschland maßgeblich geprägten europäischen Fiskalregeln waren und sind ein Instrument der ökonomischen Knechtung Südeuropas. Nun will man sich auch zu militärischer Dominanz aufschwingen. Die Schuldenbremse ist aber nicht nur deshalb falsch, weil sie militärische und andere Investitionen behindert. Sie hat auch in Deutschland dazu geführt, dass die arbeitende Bevölkerung durch die Sparpolitik bis aufs Letzte ausgepresst wurde. Bei diesem Instrument ging es immer darum, Umverteilung zu verhindern. Wir brauchen also nicht weitere Sondervermögen, sondern eine konsequent andere Investitions- und Umverteilungspolitik.
Der Widerstand der Wenigen in der Ampelregierung ist ein trauriges Zeugnis darüber, dass wir von der Ampelregierung nichts zu erwarten haben – auch wenn man noch so oft zum Umdenken appelliert. Den einzigen Ausweg bietet eine Machtverschiebung, die die Interessen der Menschen ins Zentrum rückt und eine demokratische Verständigung über eine neue Sicherheitspolitik überhaupt ermöglicht. Tragisch ist, dass die Linke nicht von einem klaren antimilitaristischen und sozialen Kurs profitieren kann. Das liegt auch daran, dass sie selbst nicht immer genau argumentiert. So geht diese »Zeitenwende« schrecklich geräuschlos an einem Freitagnachmittag über die Bühne.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.