21. September 2021
Glaubt man Olaf Scholz, dann ist die globale Mindeststeuer ein historischer Durchbruch. Tatsächlich wird die ambitionslose Regelung Deutschland kaum mehr Steuern einbringen und könnte künftige Reformen blockieren.
Beim Treffen der G20 im Juli in Venedig gab sich Olaf Scholz triumphierend. Dabei ist die Reform alles andere als ein Erfolg.
Dank kreativer Steuertricks zahlen große Konzerne kaum Steuern. Das ist ein offenes Geheimnis. Die Politik hat dabei jahrelang nur zugesehen und einige kleine Staaten haben aus der Steuerflucht sogar ein Geschäftsmodell gemacht. Unter der Schirmherrschaft der OECD wurde im Jahr 2018 ein Projekt gestartet, um einen globalen Mindeststandard für eine gerechte Unternehmensbesteuerung einzuführen. Als die G20 dem Vorschlag im Juli zustimmten, gab sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz triumphierend und präsentierte die moderate Vereinbarung als »kolossalen Fortschritt«.
Die Misslage ist eklatant: Laut Netzwerk Steuergerechtigkeit entgehen Regierungen weltweit jährlich zwischen 500 und 650 Milliarden US-Dollar durch Gewinnkürzung und Gewinnverlagerung von multinationalen Konzernen. Unternehmen tun das, indem sie Gewinne, die sie eigentlich in einem Land wie Deutschland erzielt haben, in Steueroasen verbuchen. In der Regel erfolgt das durch die Zahlung von Patent-Lizenzen oder Zinsen an eine Schwestergesellschaft, die ihren Sitz in einer Steueroase hat. Dabei nimmt das deutsche Unternehmen zum Beispiel fiktive Kredite bei einer ausländischen Gesellschaft desselben Konzerns auf und überweist Zinsen an diese Gesellschaft. Oder es werden andere Gebühren an das verbundene Unternehmen in einer Steueroase gezahlt, wie sich am Beispiel von Google nachvollziehen lässt. Die Tochterfirma Google Germany GmbH bezahlt die irische Google Ireland Ltd. für Patente und andere meist fiktive Dienstleistungen. Obwohl die Gewinne in Deutschland erwirtschaftet wurden, zahlt Google dadurch den niedrigeren irischen Steuersatz von gerade einmal 12,5 Prozent – zum Vergleich, in Deutschland zahlen Unternehmen etwa 30 Prozent. Durch weitere Firmenkonstrukte gelangen wiederum Teile von Googles Gewinn von Irland auf die Bermudas, wo gar keine Unternehmenssteuer erhoben wird.
Für multinationale Internetkonzerne wurde es durch die Digitalisierung noch einfacher, Gewinne über Grenzen zu verschieben. Die Ungleichheit verschärft sich dadurch, was sich vor allen Dingen an der enormen Marktmacht von Techgiganten wie Amazon, Facebook und Google verdeutlicht.
Seit 2018 verhandeln 140 Staaten, um der Steuervermeidung von Konzernen einen Riegel vorzuschieben. Der Reformvorschlag basiert auf zwei Säulen: Zum einen sollen die Gewinne dort besteuert werden, wo die Umsätze gemacht werden (Säule 1) und zum anderen soll die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes den Steuerwettbewerb zwischen den Ländern unterbinden und Steueroasen austrocknen (Säule 2). Dass Regierungen weltweit einsahen, wie schädlich der steuerliche Unterbietungswettlauf tatsächlich ist und sie sich damit vom bislang herrschenden neoliberalen Dogma der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit verabschiedeten, ist durchaus ein kleiner Erfolg. Aber der »große Durchbruch«, von dem Olaf Scholz gerne spricht, ist die Reform keineswegs.
Das liegt zum einen daran, dass der vereinbarte Mindeststeuersatz mit 15 Prozent kaum höher ist als in Steueroasen wie Irland. Außerdem ist zu befürchten, dass Staaten mit Steuersätzen von über 15 Prozent ihre Steuersätze nach Umsetzung der Reform senken werden. Die Auflage, dass die Steuer in dem Land zu leisten ist, in dem eine Firma ihren Gewinn erzielt, gilt außerdem nur für die etwa hundert größten Unternehmen weltweit, und auch nur für einen kleinen Teil ihrer Gewinne – um genau zu sein 20 bis 30 Prozent der Gewinne über einer festgelegten Schwelle von 10 Prozent Rentabilität. Um ein Beispiel zu nennen: Apple hat im Jahr 2020 einen Gewinn in Höhe von 55 Milliarden Euro erzielt. Gemäß der Steuerreform wären aber nur etwa 6,5 Milliarden Euro von der Umverteilung der Besteuerungsrechte betroffen.
Die Lobbyisten der City of London haben außerdem dafür gesorgt, dass der Finanzsektor und die Rohstoffindustrie, zu dem die weltweit größten und mächtigsten Firmen gehören, von der ohnehin schon begrenzten Umverteilung der Besteuerungsrechte komplett ausgenommen sind. Das Versagen reicht noch tiefer: Der Riese Amazon, der für seine aggressive Steuergestaltung berüchtigt ist und auf den die Maßnahmen der Reform abzielen sollten, ist von der Umverteilung der Besteuerungsrechte ebenfalls ausgenommen, weil die Gewinnmarge des Konzerns unter der zu hoch angesetzten Grenze von 10 Prozent liegt.
Laut Schätzungen profitiert Deutschland von den Reformvorschlägen kaum: Die oben erwähnten knapp hundert größten Unternehmen, die von der begrenzten Umverteilung der Besteuerungsrechte (Säule 1) betroffen sind, würden im Jahr etwa 450 Millionen Euro zusätzliche Steuern in Deutschland zahlen. Das ist weniger als die Hälfte des jährlichen Steueraufkommens aus der Kaffeesteuer, die sich auf etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr beläuft – so viel zum »großen Durchbruch«. Die Mindeststeuer (Säule 2) könnte hauptsächlich nur auf deutsche Unternehmen erhoben werden, und schätzungsweise nur eine zusätzliche Milliarde Steuereinnahmen erbringen. Das bedeutet, dass Deutschland insgesamt etwa 1,5 Milliarden an zusätzlichen Steuern einnehmen würde, aber nur ein kleiner Teil dessen von multinationalen Konzernen stammt, die ihre Gewinne, die sie in Deutschland erwirtschaften, in anderen Ländern verbuchen.
Das ursprünglich gesetzte Ziel, die Gewinne am Ort der wirtschaftlichen Aktivität gerecht zu versteuern, wird durch die OECD-Reform nicht erreicht: Statt in einer Steueroase wird die Mindeststeuer nun im Land des Firmensitzes des Mutterkonzerns bezahlt – in vielen Fällen also in den Vereinigten Staaten. Das ist ein guter Deal für die Vereinigten Staaten. Die Reform ist aber nicht nur eine verpasste Chance für Deutschland, sondern auch für viele Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen die Social-Media-Plattformen der großen Tech-Unternehmen auch genutzt werden und in denen ein hoher Anteil der wirtschaftlichen Aktivität stattfindet.
Olaf Scholz wollte augenscheinlich einen schnellen internationalen Kompromiss, um mit der Reform in den Wahlkampf ziehen zu können. Seine Ambitionslosigkeit zeigte sich etwa, als das US-Finanzministerium eine globale Mindeststeuer von 21 Prozent ins Gespräch brachte. Anstatt diesen Vorschlag offensiv zu unterstützen, fiel seine Reaktion halbherzig aus. Er habe »persönlich ... nichts gegen den US-Vorschlag einzuwenden«, wenn alle Länder – also auch Steueroasen wie Luxemburg oder Irland, die mit am Verhandlungstisch saßen – dem Satz zustimmen würden.
Mit der Einführung einer globalen Mindeststeuer von 15 Prozent wird der Steuerwettbewerb höchstens leicht eingeschränkt. Kritikerinnen und Kritiker befürchten zudem, dass einige Staaten andere Wege finden werden, um weiterhin Konzerne anzuziehen, etwa durch Subventionen oder niedrigere Sozialabgaben.
Zusammen genommen ist die Steuerreform enttäuschend. Sie ist bestenfalls eine schlappe Reparatur an einem weiterhin grundlegend ungerechten Steuersystem. Das Gelegenheitsfenster für die Reformierung dieses Systems und umfassende Neuregelungen könnte nun für die kommenden Jahrezehnte verschlossen sein – denn schließlich können Politiker wie Olaf Scholz jetzt selbstzufrieden behaupten, sie wären das Problem längst angegangen.
Schlimmer noch: Durch die internationale Vereinbarung dieser laxen Mindeststeuer wird den einzelnen Staaten vertraglich ausdrücklich die Möglichkeit genommen, eigenständig Maßnahmen wie etwa eine Digitalsteuer einzuführen. So überrascht es nicht, dass Facebook den Vorschlag beklatscht hat. Wir brauchen europäische und nationale Maßnahmen, um hier erwirtschaftete und zu gering besteuerte Gewinne durch Steuern abzuschöpfen und so einen besseren internationalen Kompromiss zu ermöglichen. Der jetzige Vorschlag könnte zwar auch einen Anlass bieten, um weitere Maßnahmen für eine faire Umverteilung der Besteuerungsrechte vorzunehmen und den Mindeststeuersatz anzuheben – wenn der dazu nötige politische Druck ausgeübt wird. Wahrscheinlicher ist aber leider, dass die ambitionslose globale Mindeststeuer weitere Maßnahmen paralysiert.
Sara Feiner Solís ist Ökonomin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag zu Finanz- und Wirtschaftsthemen.
Sara Feiner Solís ist Ökonomin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag zu Finanz- und Wirtschaftsthemen.