01. Februar 2023
Syrizas Kapitulation vor der Troika belastet die griechische Linke noch immer. Für die bevorstehenden Parlamentswahlen im Frühling braucht die Linke eine echte Alternative zur Sparpolitik.
Der Parteivorsitzende von Syriza und Oppositionsführer Alexis Tsipras in Athen, 23. Juli 2020.
IMAGO / ANE EditionGriechenlands politische Entwicklung seit 2010 war besonders – und in vielerlei Hinsicht paradox. An den diversen Regierungen waren Parteien aus nahezu dem gesamten politischen Spektrum beteiligt, von der rechtsextremen Laos-Partei bis zur vermeintlich »radikal linken« Syriza. Trotz dieser Vielfalt haben diese Regierungen ein und dieselbe Politik umgesetzt, die durch drei mit den Kreditgebern des Landes vereinbarte Memoranda of Understanding (MoU) diktiert und von der berüchtigten Troika – bestehend aus der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank –konzipiert wurden.
Der einzige politische Bruch vollzog sich in der ersten Hälfte der 2010er Jahre. Beim Referendum im Juli 2015 stimmte die griechische Bevölkerung gegen die Austeritätspläne. Dieses »Nein« wurde von der damals amtierenden Syriza-Regierung allerdings in ein faktisches »Ja« umgewandelt. In der Folge setzte die Partei das neoliberale Regime fort, für dessen Abschaffung sie zuvor geworben hatte.
Mit dieser Kapitulation haben sich die düsteren Prognosen derjenigen bestätigt, die sich gegen die MoUs und den politischen Niedergang von Syriza gewehrt hatten.
Trotz der leichten Erholung in den vergangenen zwei Jahren liegt das griechische BIP immer noch mindestens 20 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Das ist ein Verlust, der auf viele Jahre hinaus nicht ausgeglichen werden wird. Die Staatsverschuldung ist hoch, im Jahr 2022 erreichte sie fast 180 Prozent des BIP, und ihr monetärer Wert bläht sich weiter auf. Die griechischen Löhne sind die viertniedrigsten in der EU. Armut ist in allen Gesellschaftsschichten verbreitet. Junge Menschen sehen sich Massenarbeitslosigkeit, prekären Arbeitsplätzen und infolgedessen möglicher Auswanderung gegenüber. Nach den kürzlich veröffentlichten Daten der Volkszählung 2021 ist die Bevölkerung des Landes innerhalb eines Jahrzehnts um 3,5 Prozent geschrumpft; ganze Regionen sind entvölkert (so sank die Bevölkerungszahl etwa in Westmakedonien um 10 Prozent oder in Peloponnes um 7 Prozent).
Mit den weitreichenden Privatisierungen des letzten Jahrzehnts und der Schaffung mehrerer angeblich »unabhängiger Behörden«, die die griechische Wirtschaft steuern sollen – in Wirklichkeit handelt es sich dabei um Institutionen, die direkt von der EU überwacht werden –, hat der griechische Staat wichtige Instrumente für seine Politikgestaltung aus der Hand gegeben. Mit dem dritten MoU, das die Syriza-Regierung unter Alexis Tsipras 2015 unterzeichnete, wird das Land bis 2060 an die Kette der Troika gelegt werden. Und selbst wenn die strenge Überwachung durch die MoUs irgendwann einmal ihr Ende erreicht, war und ist sie ein Beispiel für den postdemokratischen Charakter des fortgeschrittenen Neoliberalismus, in dem Begriffe wie Volks- oder nationale Souveränität schlichtweg keine Bedeutung mehr haben.
Die aktuelle Lage im politischen System Griechenlands ist die beste Garantie dafür, dass der Niedergang des Landes weitergehen wird: Die rechtskonservative Partei Nea Dimokratia unter der Führung von Kyriakos Mitsotakis ist seit 2019 an der Macht und verfolgt eine radikal neoliberale und autoritäre Agenda. Sie will die »Schocktherapie« des vergangenen Jahrzehnts fortführen und weiter festigen. Die wichtigste Oppositionspartei ist Syriza, die mit vagen Versprechen versucht, zurück an die Macht zu kommen. Sollte ihr das gelingen, würde sie die bestehende Politik im Wesentlichen jedoch beibehalten. Angesichts Syrizas Vorgeschichte als Regierungspartei ist etwas anderes kaum vorstellbar.
Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) ist immer noch eine bedeutende militante Kraft, liefert sich aber intern seit Jahren sektiererische Gefechte – trotz einiger zaghafter Öffnungsversuche in Richtung sozialer Kämpfe und Bewegungen. Die KKE steckt in einer Sackgasse. Sie legt eine seltsame Art politischer Passivität an den Tag und kämpft mit stagnierenden Wahlergebnissen, die durch radikale Rhetorik kaschiert werden sollen.
Die von Yanis Varoufakis gegründete Bewegung MeRA25 hat sich in den letzten Jahren ideologisch stark radikalisiert. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass diese Partei allein und auf eigene Faust die notwendigen politischen Antworten geben kann.
Die außerparlamentarische Linke ist stark geschwächt und scheint ihre chronische Zersplitterung nicht überwinden zu können. Bislang hat sie sich als unfähig erwiesen, einen Diskurs zu formulieren, der ein einigermaßen breites Publikum erreichen könnte.
Kurz gesagt: Die politischen Aussichten in Griechenland sind derzeit alles andere als rosig. Das Trauma der Niederlage von 2015 ist noch nicht verheilt. Es wird große Anstrengungen erfordern, es zu überwinden.
Es ist zwar ermutigend, dass sich in den vergangenen zwei Jahren eine Wiederbelebung des gesellschaftlichen Widerstands gezeigt hat. Es gab einige beachtliche Streikaktionen und Proteste gegen Autoritarismus und Polizeirepression. Allerdings sind diese Aktionen nach wie vor isoliert und defensiv. Außerdem hat die Geschichte gezeigt, dass soziale Bewegungen, obwohl sie für den sozialen Wandel unverzichtbar sind, normalerweise nicht in der Lage sind, einem Land eine umfassende alternative Perspektive zu bieten – vor allem nicht nach einer historischen Niederlage wie in Griechenland. Um den aktuellen Stillstand zu überwinden braucht es starke politische Initiativen.
Um glaubwürdig zu sein, muss eine linke Alternative das gesamte Spektrum der gesellschaftlichen Kräfte ansprechen, die sich dem Kurs, den die Eliten des Landes im letzten Jahrzehnt eingeschlagen haben, widersetzen. Die Linke muss eine Politik formulieren, die auf die brennenden Probleme der griechischen Gesellschaft eingeht. Der Karren steckt so tief im Dreck, dass nur breite gesellschaftliche und politische Bündnisse ihn herausziehen können.
Damit ein solcher politischer Ansatz Aussicht auf Erfolg hat, muss er die Kräfte der radikalen Linken bündeln. Nun ist »radikale Linke« ein Begriff, der nach der demütigenden Kapitulation von Syriza im Jahr 2015 zu Recht nicht mehr so attraktiv erscheint wie früher. Nichtsdestoweniger beschreibt der Begriff nach wie vor ein breites Spektrum an politisch Aktiven, die den Sturz des griechischen Kapitalismus nicht auf eine ferne Zukunft verschieben wollen, sondern ihn unter den heutigen Bedingungen anstreben. Das ist genau der Nährboden, auf dem die politischen Kräfte florierten, die in den 2010er Jahren die Dominanz der griechischen Bourgeoisie bedrohten und die Beteiligung des Landes an der Europäischen Währungsunion infrage stellten.
Natürlich muss die radikale Linke sowohl parlamentarische als auch außerparlamentarische Gruppierungen und Bewegungen umfassen. Es wäre kindisch, parlamentarische Repräsentation als Mangel an politischem Radikalismus zu betrachten, wie einige in Griechenland es offenbar tun.
Der erste Schritt besteht daher darin, diese radikalen Kräfte zusammenzuführen und ihnen eine strategische (und keine rein wahlpolitische) Perspektive zu eröffnen. Ein solcher Schritt könnte den sozialen Kämpfen schnell neuen Schwung verleihen und den Weg für einen breiteren politischen Wandel ebnen. Langfristig muss es darum gehen, die radikale Linke in die Lage zu versetzen, als Katalysator für diese breiteren Bündnisse zu fungieren, die Griechenland dringend braucht.
Damit das gelingen kann – vor allem im Hinblick auf den anstrengenden Wahlkampf, der in den kommenden Monaten in Griechenland stattfinden wird –, müssen die Probleme, Meinungsverschiedenheiten und zu klärenden Fragen diskutiert werden. Die Position und die Rolle von MeRA25 sind dabei extrem wichtig.
Diejenigen, die einerseits den kurzsichtigen Realismus des »kleineren Übels« bei Wahlentscheidungen und andererseits die Bequemlichkeit des Sektierertums ablehnen, sollten sich den Kurs ansehen, den MeRA25 in den letzten Monaten verfolgt hat, und die Debatte, die durch die jüngsten Äußerungen von Varoufakis angestoßen wurde.
MeRA25 hatte es 2019 nur knapp geschafft, ins Parlament einzuziehen. Seitdem hat sich die Partei jedoch allmählich in eine radikalere Richtung entwickelt und wichtige Aspekte ihrer politischen Ausrichtung präzisiert. Ihr Chef räumt nun ein, dass die EU nicht reformiert werden kann und es daher notwendig sei, mit ihrem institutionellen Rahmen, einschließlich der Wirtschafts- und Währungsunion, zu brechen. Varoufakis unterstützt den Austritt Griechenlands aus der NATO und lehnt jede Beteiligung am Ukrainekrieg ab. Außerdem hat er die Befreiung von kapitalistischen Verhältnissen und allen Formen der Unterdrückung als strategisches Ziel ausgerufen.
MeRA25 kombiniert diese Positionen mit der Agenda wichtiger globaler Bewegungen der letzten Jahre: Feminismus, LGBTQ+, Umweltschutz, Antirassismus und Antifaschismus sowie die Verteidigung von demokratischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten.
Diese Kombination hat eine gewisse Kohärenz erreicht, die zu einer allmählichen Umgestaltung des Gesamtprofils und sogar der internen Struktur von MeRA25 geführt hat. Das bringt sie näher an die radikale Linke. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es tatsächlich eine »Transformation und Radikalisierung« von MeRA25 gegeben hat, wie es ihr Chef ausdrückte.
Es bleiben aber dennoch offene Fragen, die zu klären sind. Dabei geht es nicht so sehr um die Ursprünge von MeRA25, also darum, ob die Bewegung dem historischen Kern der Linken entsprungen ist, wie Varoufakis zu glauben scheint. Das Hauptproblem scheint vielmehr das von MeRA25 vertretene Politikkonzept mit seiner spezifischen Organisationsstruktur und der daraus resultierenden politischen Praxis zu sein.
Um es kurz zu machen: Dieses Konzept reduziert Politik auf Kommunikation, die sich vor allem auf die Aktivitäten des Parteivorsitzenden konzentriert und durch die Kraft der Parlamentsfraktion ergänzt wird.
Was MeRA25 von der radikalen Linken unterscheidet, ist das Fehlen einer organisierten sozialen Präsenz und einer systematischen politischen Intervention in Bereichen, die für die arbeitenden Menschen und unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. MeRAs Aktivitäten sind nicht strategisch auf gewerkschaftliche Aktionen, Massenmobilisierungen, Auseinandersetzungen an Universitäten und in Kommunen ausgerichtet – also die Orte, an denen sich sozialer Widerstand formiert und soziale Kämpfe ausgetragen werden.
Diese relative Distanz hemmte bisher die notwendige Annäherung von MeRA25 an die radikale Linke. Daraus ergibt sich jedoch auch eine Chance: Wenn der politische Wille zur Einigung und Geschlossenheit vorhanden ist, könnte diese Kombination die Grundlage für einen neuen, dynamischen politischen Pol bilden, der in den sozialen Kämpfen an der Basis verankert ist. Ein solcher Pol könnte die gesamte politische Struktur Griechenlands umwälzen.
Eine solche Vereinigung der radikalen Linken erfordert eine programmatische Grundlage, ein »gemeinsames Programm des Umbruchs«, wie Varoufakis es ausdrückte. Seltsamerweise verweigert Varoufakis jedoch jegliche positive Bezugnahme auf das von Jean-Luc Mélenchon geführte Linksbündnis in Frankreich (die Nouvelle Union Populaire Social et Écologique, kurz NUPES). Varoufakis wertet die französische Entwicklung als einen geschickten taktischen Schachzug, mit dem Emmanuel Macron die parlamentarische Mehrheit entrissen werden sollte. Tatsächlich sind die Dinge aber viel komplexer.
Die erste Runde der jüngsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich hat gezeigt, dass Mélenchons Partei La France Insoumise innerhalb der gesamten Linken mit großem Vorsprung die führende Kraft ist. Die anderen linken Parteien hatten keine andere Wahl, als sich an einem gemeinsamen Projekt auf Basis von Mélenchons Programm zu beteiligen.
Nach kräftezehrenden Verhandlungen einigte man sich auf einen umfassenden Vorschlag, der darauf abzielt, den gesamten neoliberalen Rahmen, der durch die Präsidentschaften von François Hollande und Emmanuel Macron geschaffen wurde, zu sprengen. Im Vorschlag wird auch ausdrücklich darauf hingewiesen, wenn nötig, Ungehorsam gegenüber der EU zu zeigen.
Natürlich gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten sowie insbesondere Kritik von Seiten der Sozialdemokraten und der Grünen. Am Ende setzte sich jedoch der starke Wunsch nach Einigkeit in durch. In Frankreich herrscht ein weit verbreitetes Gefühl, dass die neoliberale Steuerung und Führung der Gesellschaft unwiderruflich gescheitert und ein Eingreifen der Linken notwendig ist.
NUPES hat zwar keine gemeinsame Fraktion gebildet, wie von Mélenchon vorgeschlagen, aber das Bündnis hat ein parteiübergreifendes Gremium, das wöchentlich tagt und zu allen wichtigen Themen (außer der Außenpolitik) gemeinsame Vorschläge erarbeitet. Es ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten der europäischen Linken der letzten Jahre.
Das französische Beispiel zeigt, dass ein linker Einigungsvorschlag, der darauf abzielt, eine Mehrheit der Gesellschaft für sich zu gewinnen, dann glaubwürdig werden kann, wenn er sich auf die Führung seines radikalen Flügels stützt, ein adäquat ausgearbeitetes Programm hat und durch die Erfahrung gemeinsamer Aktionen in sozialen Bewegungen und in »intermediären« Institutionen wie der Kommunalverwaltung gestützt wird. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird tatsächlich sowohl »von oben« als auch »von unten« gehandelt und somit die notwendige Durchschlagskraft innerhalb der Gesellschaft aufgebaut.
Von diesem Punkt ist die griechische radikale Linke noch weit entfernt. Das unmittelbare Ziel ist begrenzter: Es geht um das Bündeln von Kräften, die ein engeres Spektrum abdecken und daher ein geringeres Stimmengewicht als in Frankreich haben, aber dennoch einen hegemonialen radikalen Pol bilden wollen. Dieser Schritt ist wichtig, um zu verhindern, dass die linke Wählerschaft einmal mehr vor dem Dilemma des »kleineren Übels« steht. Die Wahl des kleineren Übels ist, wie die jüngste Vergangenheit gezeigt hat, der sicherste Weg zu noch größeren Übeln.
Die programmatischen Positionen der potenziellen Kräfte in der griechischen Linken sind allerdings deutlich näher beieinander als in der französischen Linken. Eine rasche Einigung auf einen programmatischen Rahmen ist somit durchaus realisierbar, insbesondere in Bezug auf ein Wahlprogramm. Die 7+1 Punkte von MeRA25 sind ein guter Anfang. Eine strategische Annäherung an ein Übergangsprogramm, das eine antikapitalistische Richtung für Griechenland verfolgt, wäre der nächste Schritt.
Die Unterschiede in der politischen Praxis und das Fehlen eines gemeinsamen Wirkens in sozialen Kämpfen stellen die beteiligten Organisationen vor echte Herausforderungen – diese sind aber nicht unüberwindbar. In Griechenland sieht die Zukunft für die arbeitende Bevölkerung und die jüngeren Generationen düster aus. Das Mindeste, was die Linke tun kann, ist es, die Voraussetzungen für einen Neuanfang zu schaffen – aufbauend auf den Erfahrungen der Vergangenheit, aber mit Blick in die Zukunft.
Costas Lapavitsas ist Ökonom und ehemaliges Mitglied des griechischen Parlaments. Er arbeitet als Professor am SOAS College der University of London und veröffentlichte 2018 das Buch “The Left Case against the EU”.
Stathis Kouvelakis lehrt Politische Theorie am King’s College in London. Er war früher Mitglied des Zentralkomittees von Syriza.