26. Januar 2023
Experten sprechen oft und gerne vom Ende der »unipolaren Welt«. Doch das US-amerikanische Wirtschaftsimperium wird bleiben.
US-Flaggen vor der New Yorker Börse.
IMAGO / agefotostockIst das US-Imperium bald am Ende? Das wird zumindest immer wieder verkündet – was angesichts des morbiden gesellschaftlichen und demokratischen Verfalls der USA kaum überraschend ist. Die USA sind zu einem Sumpf aus dysfunktionaler Regierungsführung, einheimischen Oligarchen, Zehntausenden von Opioid-Toten pro Jahr, sinnloser Waffengewalt und abgeschlagenen politischen Parteien mit geringer Legitimität verkommen. Die Stimmung im Land ist von der schwelenden Frustrationen der Bevölkerung und allgemeiner Hoffnungslosigkeit, Zynismus und Fatalismus geprägt.
Der gesellschaftliche Zerfall, der sich innerhalb der USA vollzieht, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine Minderung ihrer imperialen Kapazitäten. Vielmehr war der Verfall der zivilen Normen zu einem guten Teil das Ergebnis von Maßnahmen, die seit Ende der 1970er Jahre ergriffen wurden, um die Sorgen über die imperiale Schwäche der USA auszuräumen. Diese Beschlüsse, die darauf abzielten, die »Stärke« des Landes durch die Steigerung von Unternehmensgewinnen und dem Vertrauen in den US-Dollar zu bewahren, waren mit schmerzhaften Kollateralschäden verbunden. Dennoch liegt die Bedrohung der US-amerikanischen Vorherrschaft woanders. Voraussagungen über den Niedergang der USA beziehen sich auf deren materielle Basis. Es geht also um die binnenwirtschaftlichen und staatlichen Kapazitäten, um den globalen Kapitalismus zu lenken.
Diese Problemlage rein wirtschaftlich zu betrachten, bringt uns nicht weit. Wiederholte Krisen als Vorboten eines tieferen imperialen Zusammenbruchs zu deuten, ist ähnlich lückenreich. Denn die Frage ist nicht, ob es zu Störungen kommen wird – die Entstehung des globalen Kapitalismus ist ein komplexer und ungleichmäßiger historischer Prozess mit unvermeidlichen Tücken –, sondern vielmehr, ob der US-Staat in der Lage ist, Probleme einzudämmen und zu beheben, sobald diese entstehen.
Dies ist sowohl im Inland als auch im Ausland der Fall und wirft eine Reihe von Fragen auf. Ist das beständige Handelsdefizit der USA wirklich ein Zeichen von Schwäche? Und kann es eingedämmt werden? Ist China zwangsläufig der Totengräber des US-Imperiums? Oder steckt hinter dieser aufkeimenden Rivalität eine komplexeres Problem? Und worauf beruht letztlich die wirtschaftliche, politische und militärische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten?
»Die Handelsdefizite der USA sind also kein Indikator für wirtschaftliches Versagen, sondern für ihre Stärke.«
Zu diesen Fragen scheint es angebracht, auf Mark Twains Reaktion zu verweisen, nachdem dieser in einer Zeitung einen Nachruf auf sein eigenes Ableben las. Die Berichte über das Ende des US-Imperiums sind »stark übertrieben«. Das Imperium taumelt weiter.
Zunächst zur Frage der Handelsdefizite, die die USA seit 1976 jährlich verzeichnen. Diese überlappen sich mit dem Verlust bedeutender Teile der US-amerikanischen Produktionsbasis. Ist das kein Indiz für eine voranschreitende Schwächung des US-Imperiums? Nicht unbedingt. Eine einzelne Tatsache – wie etwa wiederholte Handelsdefizite – kann, je nach ökonomischer Position, unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Staaten ausüben.
Alle Staaten – mit Ausnahme des US-amerikanischen – werden nach jährlichen Handelsdefiziten für gewöhnlich unter Druck gesetzt, schmerzhafte Gegenmaßnahmen einzuleiten. Im Falle der USA fällt dieser Druck jedoch geringer aus. Der US-amerikanische Staat kann bequem und über weite Strecken mehr importieren als exportieren und die daraus entstehende Lücke mit Geldern finanzieren, die ausländische Investoren auf den US-amerikanischen Finanzmärkten anlegen. Die Handelsdefizite der USA sind also kein Indikator für wirtschaftliches Versagen, sondern für ihre Stärke. Mehrjährige Handelsdefizite unterstreichen den privilegierten Zugang der USA zu globaler Arbeitskraft und globalen Vermögen.
Aber gehen diese Defizite nicht mit einer Zerstörung der Produktion innerhalb der USA einher? Um diese Frage differenziert zu beantworten, muss man auch die kapitalistische Berechnung, die auf Dollarwerten und nicht auf Arbeitsplätzen basiert, in Betracht ziehen. Die Industrieproduktion in den USA ist in den letzten 25 Jahren um 64 Prozent gestiegen, selbst wenn man die Inflation berücksichtigt. Und die nominalen Gewinne der Nicht-Finanzunternehmen, die während der Finanzkrise 2008/9 eingebrochen waren, erholten sich und erreichten 2021 Profite von 1.666 Milliarden Dollar – 86 Prozent mehr als ihr Vorkrisen-Höchststand aus dem Jahr 2006. Selbst als zahlreiche Betriebe in den USA schlossen, entstanden Expansionen und neue Industrien in anderen inländischen Sektoren und Regionen.
»Die Ära der Finanzialisierung hat in Wirklichkeit zu einer Verfestigung des US-Imperiums geführt.«
Diese qualitative Umstrukturierung der US-Wirtschaft konzentrierte sich auf Güter und Dienstleistungen, die an der strategischen Spitze der globalen Wirtschaftspyramide standen: Hightech-Güter und -Plattformen (Apple, Google, Pharmaunternehmen), riesige Vertriebsnetze (Amazon, Wal-Mart) und Unternehmensdienstleistungen, die dem Kapital auf der ganzen Welt dienten (etwa der Maschinenbau, die Rechtsberatung, Buchhaltung und Werbung, das Consulting und natürlich die Finanzindustrie). Denjenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren, bot dies nur wenig oder gar keine Entschädigung – doch für die Reproduktion der US-amerikanischen Wirtschaftsmacht war diese wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung.
Im Laufe der Jahrzehnte hat jede neue Krise ihre eigene Reaktion hervorgerufen. In den frühen 1970er Jahren führten die großen US-Investitionen und enormen Militärausgaben im Ausland sowie die wachsenden Importdefizite dazu, dass weit mehr US-Dollar ins Ausland gingen als zurückkamen. Dies führte zu einer Dollarschwemme im Ausland, die den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems der Nachkriegszeit zur Folge hatte. Das Ergebnis dieser Krise war eine wachsende internationale Abhängigkeit vom US-Dollar.
Mitte der 1970er Jahre sahen sich die USA mit Stagflation – also einer Kombination aus hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit – konfrontiert. Nach einer jahrzehntelangen Periode gesellschaftlicher Ängste und gescheiterter Lösungsversuche stellte der US-amerikanische Staat seine Akkumulationsweise um: Das Finanzwesen wurde liberalisiert, die Globalisierung beschleunigt und die Arbeiterbewegung weitgehend zerschlagen. Diese Umstrukturierung stärkte den Dollar, stärkte die Profitrate und brachte die USA wieder auf Kurs.
Die große Finanzkrise von 2008/9 war die schwerste und bedrohlichste Krise seit der Großen Depression. Sie hatte ihren Ursprung in den USA selbst und schien den US-amerikanischen »Cowboy-Finanzkapitalismus« zu diskreditieren, das Ende des Neoliberalismus einzuläuten und sogar das Überleben des Kapitalismus zu bedrohen. Was das US- und globale Finanzsystem rettete, war das beispiellose Eingreifen des US-amerikanischen Staates, wobei die Federal Reserve im Wesentlichen als Zentralbank der Welt fungierte.
Das wachsende Gewicht des Finanzsektors in der US-Wirtschaft wurde weithin als Indikator für den industriellen Niedergang gedeutet. Das US-Finanzwesen war jedoch ein wesentlicher Bestandteil des wirtschaftlichen Vormarschs und nicht etwa eine Ablenkung davon: Um zu verstehen, warum die »Finanzialisierung« aufseiten der Industrie nicht nur auf Akzeptanz, sondern mitunter sogar aktive Unterstützung traf, ist es wichtig, diesen Aspekt zu begreifen.
Das Finanzwesen ermöglicht die beschleunigte Globalisierung, indem es eine Risikoversicherung für schwankende Wechselkurse bietet. Seine Fluidität beschleunigt die Umverteilung von Kapital in die vielversprechendsten Sektoren und Unternehmen. Dies führt zu einer Verstärkung von Rationalisierungsmaßnahmen, wenn innerhalb von Unternehmen Investitionsentscheidungen gefällt werden. Und trotz aller Instabilitäten, die das Finanzwesen mit sich bringt, stützt es die Wirtschaft auch auf makroökonomischer Ebene durch Verschuldung. Das Finanzwesen diszipliniert und bindet die Arbeiterklassen stärker in die Prioritäten der Kapitalakkumulation ein. Auch wenn traditionellere Indikatoren eventuell auf den Niedergang der USA hindeuteten, hat die Ära der Finanzialisierung in Wirklichkeit zu einer Verfestigung des US-Imperiums geführt.
Als der Kapitalismus noch in den Kinderschuhen steckte, wiesen Marx und Engels bekanntlich bereits auf den expansiven Drang der Bourgeoisie hin: »Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen«. So vorausahnend diese Aussage auch war, sie ließ einen ganz entscheidenden Faktor außer Acht: die Rolle der Staaten und der gesellschaftlichen Kräfte, die auf sie einwirken. Die analytische Einbeziehung von Staaten macht jegliches reibungslose Funktionieren des globalen Kapitalismus problematisch. Schließlich ermöglicht sie die Politisierung des Wettbewerbs um Märkte und Profite, in denen jeder Staat seine eigenen Kapitalisten bevorzugt. Wenn man daneben nun noch die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung hinzudenkt (einige Staaten werden stärker, andere schwächer), dann scheint die Aussicht auf eine zwischenimperiale Rivalität allgegenwärtig.
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war der internationale Kapitalismus in konkurrierende Imperien aufgeteilt, und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts plagten den Kapitalismus zwei Weltkriege und eine globale Depression von noch nie dagewesenem Ausmaß. Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende neigte, schien die Möglichkeit eines stabilen globalen Kapitalismus illusorisch. Damals zog der US-amerikanische Staat die Lehren aus dem zurückliegenden katastrophalen halben Jahrhundert und legte angesichts der einmaligen Gelegenheit, die sich ihm durch den Krieg bot, den Grundstein für eine neue Art des Imperialismus. Territoriale Imperien sollten abgeschafft und durch ein universelles Imperium formell souveräner Staaten ersetzt werden, die dem Kapital aus allen Ländern offenstehen sollten (ein »Emperialismus« statt eines »Imperialismus«, wenn man so will).
Rechtsstaatlichkeit und vor allem die Herrschaft der liberalisierten Märkte sollten die Verteilung von Arbeit, Ressourcen und Kapital regeln. Jeder Staat war dafür verantwortlich, die Bedingungen für die globale Akkumulation auf seinem eigenen Territorium zu schaffen, einschließlich der Gleichbehandlung von ausländischem und inländischem Kapital. Dem US-amerikanischen Staat mit seinen einzigartigen wirtschaftlichen, administrativen und militärischen Kapazitäten fiel die Aufgabe zu, bei der Schaffung dieser Totalität als stellvertretender Weltstaat zu fungieren. Militärische Interventionen sollten nicht spezifischen staatlichen Interessen dienen, sondern vielmehr dem System als Ganzes – mit einer Ausnahme. Die Führungsrolle des US-amerikanischen Staates war »unverzichtbar« und daher mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten.
Die tiefe Verflechtung von Handel, Finanzen und Produktionsketten wirkte ernsthaften Ausbrüchen zwischenimperialer Rivalität entgegen. Doch wie ist vor diesem Hintergrund der russische Einmarsch in die Ukraine oder die potenzielle Herausforderung der US-Hegemonie durch China zu verstehen? Hier treffen wir auf einige wirklich interessante und komplexe Unterscheidungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre war Russland offen für die Integration in den globalen Kapitalismus (sowie auch einem Eintritt in die NATO). Die USA lehnten dies ab, obwohl sie später Chinas Integration begrüßten. Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Eine These besagt, dass die Integration Russlands faktisch eine Integration in Westeuropa bedeuten würde. Zwar hätte einem solchen europäisch-russischen Block die institutionelle Kohärenz gefehlt, um die Hegemonie der USA herauszufordern (Europa selbst verfügt selbst nur über eine begrenzte Kohärenz). Dennoch hätte dieser Block ein Hindernis für die absolute Kontrolle der USA darstellen können, weshalb dieses Szenario, so die Annahme, für die USA inakzeptabel war.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist aus humanitären wie auch aus ganz prinzipiellen Gründen falsch. Gleichzeitig war der Kriegsausbruch ein Moment, in dem die dominierende imperiale Macht der USA sichtbar wurde. Sie waren in der Lage, die europäischen Staats- und Regierungschefs gegen die Invasion zu vereinen (selbst im Falle Deutschlands, wo der Bruch mit Russland schwere wirtschaftliche Folgen nach sich zog) und drastische wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen sowie eine fast beispiellose Mobilisierung von militärischer Ausrüstung und Kriegsfinanzierung für die Ukraine zu gewähren.
Für den führenden Welthegemon birgt der Krieg jedoch auch Komplikationen. Angesichts der steigenden Inflation wird die Verlängerung des Krieges die wirtschaftlichen Probleme innerhalb der USA verschlimmern. Hinzu kommt, dass die Maßnahmen, die zum Ausgleich der Inflation und der Kriegskosten ergriffen werden, die Problemlage weiter verschärfen werden. Die Tatsache, dass Joe Biden ohne großen Aufwand Dutzende von Milliarden Dollar für die militärische Unterstützung der Ukraine mobilisieren konnte – wobei noch weit mehr für den Wiederaufbau zur Verfügung stehen wird –, verdeutlicht einmal mehr, wie zaghaft die Reaktion der Demokraten auf die umfassenden ökologischen und sozialen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, tatsächlich ist.
Obwohl der Einmarsch Russlands die Frage nach einer multipolaren Welt aufgeworfen hat, ist es in Wirklichkeit China – mit einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen, einem rasant wachsenden Bruttoinlandsprodukt, immensen Produktionskapazitäten und hohen Exportzahlen, einer beeindruckenden Entwicklung der technologischen Kapazitäten und zunehmender militärischer Macht –, das die einzig mögliche Alternative zur Vorherrschaft der USA darstellt.
Seit mindestens einem Jahrzehnt warnt China davor, seine Abhängigkeit vom Dollar zu verringern. In den Jahren nach der Finanzkrise 2008/09 hat China jedoch doppelt so viele US-Staatsanleihen gekauft und liegt damit nun Kopf an Kopf mit Japan als größtem Abnehmer dieser Papiere. Wie im Falle Japans dienen Chinas Dollar-Bestände einerseits dazu, die eigene Währung niedriger zu halten und die eigenen Exporte dadurch wettbewerbsfähiger zu machen. Andererseits sind sie eine Art Vorsichtsmaßnahme, um protektionistische Reaktionen der USA im Zaum zu halten.
»China ist nicht in der Lage, die Rolle des US-Dollars und damit die imperiale Führungsrolle der USA ernsthaft herauszufordern.«
China war auch nicht in der Lage, die Zusammensetzung der Devisenreserven der Zentralbanken zu verändern. Nahezu 60 Prozent dieser Bestände entfallen auf den US-Dollar, der Euro steht mit etwas mehr als 20 Prozent an zweiter Stelle, gefolgt vom Pfund und dem Yen mit jeweils etwa 6 Prozent. Der Renminbi folgt mit 3 Prozent.
Was die Verwendung des Dollars bei internationalen Transaktionen (offizielle Währungsreserven, Devisentransaktionen, Schuldtitel in Fremdwährungen, grenzüberschreitende Einlagen und Kredite) betrifft, so zeigt ein von der Federal Reserve erstellter Index sowohl die eindeutige Dominanz des US-Dollars als auch die Stabilität dieser Dominanz. Obwohl der Renminbi prozentual deutlich zugelegt hat, bleibt er marginal – er liegt nicht nur weit unter dem Euro, sondern sogar unter dem Pfund und dem Yen.
All dies schmälert die Bedeutung von Chinas Einfluss auf die Entwicklung des globalen Kapitalismus und der globalen Geopolitik jedoch nicht. Der Punkt ist vielmehr, dass China nicht in der Lage ist, die Rolle des US-Dollars und damit die imperiale Führungsrolle der USA ernsthaft herauszufordern. Dies ist nicht lediglich eine Frage der »Zeit«, die benötigt wird, um einen derartigen Status zu erreichen. Es ist vielmehr auch eine strukturelle Frage. Um sich als führende Weltwährung zu etablieren, müssen die Finanzmärkte eines Staates nicht nur tief, liquide und hochentwickelt sein, sondern auch ausreichend liberalisiert, um die Angst vor willkürlichen staatlichen Eingriffen und Angriffen auf private Eigentumsrechte zu lindern. Es ist nicht zu erwarten, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) dies in Betracht ziehen wird, da die Aufrechterhaltung der zentralen Kontrolle über das Finanzwesen eine Grundlage ihrer Kontrolle über die Wirtschaft und die daraus resultierende Legitimation darstellt.
Noch fundmentaler ist, dass diejenigen, deren Analyse vom Mantra der zwischenimperialen Rivalität geleitet wird, fälschlicherweise annehmen, dass Chinas strategische Interessen und Ambitionen darin bestehen, die USA zu ersetzen. Doch Chinas primäre Herausforderung und Sorge ist die primitive Akkumulation und wirtschaftliche Modernisierung, die für die Legitimation des Regimes entscheidend ist. Das von China gewählte Mittel ist eine historisch beispiellose Integration in den globalen Kapitalismus, der von den USA gesteuert wird. Chinas strategisches Ziel ist es nicht, die Rolle der USA einzunehmen und die materiellen Lasten des Imperiums auf sich zu nehmen. In diesem Sinne hat China die imperiale Autorität der USA nicht infrage gestellt, sondern sie aufgefordert, als »verantwortungsvolle« imperiale Macht zu agieren, anstatt – indirekt ein Verweis auf Trump – sich willkürlich über Regeln hinwegzusetzen.
Auch hier geht es nicht nur um die Widersprüche des US-Imperiums, sondern auch um die Chinas. Die jüngsten Erfolge Chinas können nicht einfach in die Zukunft hineinprojiziert werden. Sein Wachstum war bemerkenswert, aber es wird in Zukunft durch ökologische Grenzen eingeschränkt werden. In den Debatten um eine nach außen oder eine nach innen gerichtete Entwicklung sind Spaltungslinien zwischen Regionen und Klassen offensichtlich geworden und Chinas Expansion ins Ausland wird nicht immer dankbar aufgenommen.
Am wichtigsten sind jedoch die Trends in der Klassenbildung, die der offizielle ideologische Fokus auf die Produktionsbasis als wesentliche Voraussetzung für den sozialistischen Übergang verdeckt. Einerseits hat Chinas Entwicklungsmodell eine mächtige kapitalistische Klasse mit internationalen Verbindungen und einer gewissen Autonomie gegenüber der Kommunistischen Partei Chinas und dem Staat hervorgebracht (die ständigen Drohungen, die Oligarchen einzudämmen, ihren Reichtum umzuverteilen und ihrer Korruption ein Ende zu setzen, bleiben weitestgehend performativ). Auf der anderen Seite hat die extreme Abhängigkeit vom globalen Wettbewerb dazu geführt, Arbeitsbedingungen und sozialpolitische Prioritäten zu untergraben. Diese Widersprüche werden die chinesische Entwicklung in den kommenden Jahren wahrscheinlich vor größere Herausforderungen stellen.
Was lässt sich also über die hegemoniale Rolle der USA in der globalen Wirtschaft sagen? Ihre Zukunft ist ungewiss, aber ihr Hinscheiden wurde von vielen Seiten stark übertrieben.
Die Spaltungen und Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten sind nicht der Ort, an dem wir erwarten sollten, dass sich neue politische Räume für die Linke auftun. Sollte es jedenfalls doch zu einem Ausbruch intensiver zwischenimperialer Rivalitäten kommen, würde ohne eine starke Linke im Inland wahrscheinlich Chaos bevorstehen und die Bedrohungen von Nationalismus und Atomkrieg würden sich verstärken. Sozialistinnen und Sozialisten sollten es daher vermeiden, in sich anbahnenden Konflikten zwischen den globalen Supermächten Partei zu ergreifen – auch wenn damit die Vorherrschaft einer bestimmten Supermacht untergraben werden soll.
Solange sich die US-amerikanische Arbeiterklasse mit ihrem Schicksal abfindet und dem Staat in Bezug auf Militärausgaben, Freihandel und Kapitalverkehr keine oder nur niedrige Hindernisse auferlegt sowie die Prioritäten der Unternehmen nicht infrage stellt, wird der US-amerikanische Staat genug Zeit und politischen Spielraum haben, um seine Probleme zu bewältigen. Es ist kein Mantra, sondern eine Tatsache: Ohne eine erstarkende Arbeiterbewegung in den USA wird die globale Macht des US-amerikanischen Staates und der Kapitalistenklasse nicht eingedämmt werden.
Es sind Staaten – nicht imperiale Macht oder internationale Institutionen – die für die Akzeptanz der Globalisierung innerhalb der Bevölkerung verantwortlich sind. Wir müssen klar machen, dass die Erwartung eines besseren Lebens durch Wettbewerbserfolg selbstzerstörerisch ist, da sie erfordert, Unternehmensziele vor sozialpolitischen Zielen zu priorisieren.
Enttäuschungen über die Globalisierung reichen allein nicht aus. Um die Umstände, mit denen wir konfrontiert sind, auch zu verändern, müssen wir uns fragen, wie wir uns vom globalen Kapitalismus und seiner Kontrolle abkoppeln und gleichzeitig innerhalb des Kapitalismus leben können. Dazu müssen wir den Fokus auf wirtschaftliche Entwicklung im Inland legen, Räume innerhalb des Kapitalismus erschaffen, die sich der kapitalistischen Logik widersetzen und nicht marginal sind (etwa im Bereich der Umweltpolitik und öffentlicher Dienstleistungen), das Finanzwesen demokratisieren und den gesellschaftlichen Mehrwert umverteilen sowie öffentliches Eigentum und demokratische Planung ausweiten.
Während der Krise der 1970er Jahre kamen die kapitalistischen Eliten und der kapitalistische Staat zu der Einsicht, dass es nicht ausreicht, sich irgendwie durchzuschlagen – und dieser Lösungsansatz prägt unsere Gegenwart auch heute noch. Die kapitalistischen Eliten und der Staat trafen ihre Entscheidung: Der Kapitalismus musste vertieft werden. Die Gewerkschaftsbewegung hat sich mit dieser Realität, die die Gewerkschaften in eine Krise gestürzt hat, nie auseinandergesetzt. Das Kapital bietet schon lange keinen Kompromiss in der Mitte mehr an, und die kapitalistischen Strukturen, die im Überlebenskampf des Wettbewerbs eingespannt sind, können ihn nicht bieten. Unsere einzige echte Option besteht darin, die gesellschaftlichen Kräfte aufzubauen, die einen radikalen Wandel herbeiführen können.
Es ist verlockend, die kapitalistische Internationalisierung zu bekämpfen, indem man zum proletarischen Internationalismus aufruft. Akte der internationalen Solidarität sind natürlich möglich und ein internationalistische Haltung ist von größter Bedeutung. Aber wir können auf der internationalen Bühne nicht wirksam agieren, ohne zuhause stark zu sein. Wenn wir im Inland keine echte Klassen-Solidarität aufbauen können, ist es eine Illusion zu glauben, wir könnten diesen Schritt überspringen und sie über Grenzen hinweg etablieren. Wie es das Kommunistische Manifest so treffend formulierte: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.«
Sam Gindin war von 1974 bis 2000 Forschungsdirektor der Canadian Auto Workers. Er ist Co-Autor (zusammen mit Leo Panitch) von »The Making of Global Capitalism« (Verso) und Co-Autor (zusammen mit Leo Panitch und Steve Maher) von »The Socialist Challenge Today«.