30. November 2022
Aus falsch verstandener Solidarität mit der Ukraine will der Bundestag heute eine Resolution verabschieden, die die sowjetische Hungersnot als Genozid einstuft. Dieser Vorstoß ist missbrauchsanfällig und wissenschaftsfeindlich.
Gedenktag für die Opfer des Holodomor in Kiew, 26. November 2022.
IMAGO / NurPhotoGeht es nach der ganz großen Koalition aus Ampel-Regierung plus CDU/CSU-Opposition, so soll der Bundestag heute Abend eine Resolution beschließen, die die große sowjetische Hungersnot von 1932/33 als Völkermord einstuft. Seit 1991 haben mehrere ukrainische Regierungen versucht, die Auswirkungen dieser Katastrophe auf ihren Teil der UdSSR als solchen einzustufen. Sie sprechen vom »Holodomor«. Die scheinbare etymologische Nähe zum Holocaust ist unbeabsichtigt, aber sicherlich nicht unwillkommen.
Unter Osteuropa-Historikerinnen und -Historikern ist allerdings stark umstritten, ob die gesamtsowjetische Hungerkatastrophe von 1932/33 als ethnisch motivierter und gezielt herbeigeführter Völkermord gegen die politisch unliebsame ukrainische Bevölkerung erachtet werden kann. So starben etwa in Kasachstan in Relation zur Bevölkerung sogar sehr viel mehr Menschen. Dem ukrainischen Nationalismus dient die Erinnerung an das schreckliche Leid und seine spezifische Deutung der nationalen Identitätsstiftung. Der russische Angriffskrieg dürfte den Nationalmythos einer Jahrhunderte lang von Russland in ihrer Unabhängigkeit unterdrückten Nation besiegeln: Man versteht sich als eine Gemeinschaft der Opfer. Die gemeinsame sowjetische Geschichte – etwa die Gründung des Zarismus in der Ukraine, die Oktoberrevolution oder der Bürgerkrieg – weicht einer geschichtspolitischen Erzählung, die die Rehabilitierung des Nazikollaborateurs und Holocaust-Mittäters Stepan Bandera zur Folge hat. Auch deshalb ist in Israel die Auffassung verbreitet, der Holodomor sei ein Mittel, sich selbst als reine Opfernation zu definieren und dadurch quasi indirekt von der Beteiligung ukrainischer und (baltischer) Nationalisten am Holocaust abzulenken.
Trotz der langjährigen Spannungen zwischen den USA, der EU und Russland über die Frage der Ukraine, ihrer Bündnisneutralität, einer möglichen NATO-Mitgliedschaft oder einer engeren Bindung an die EU gelang die Anerkennung als Genozid bis heute nicht. Die geschichtswissenschaftlichen Zweifel wogen zu schwer. Im Kontext des russischen Kriegs in der Ukraine scheinen diese nun ausgeräumt zu werden.
Brisant wird das Ganze, weil die Ampel-Koalition Ende Oktober in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein vom FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann vorangetriebenes Gesetz beschloss, wonach die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von Völkermorden zukünftig – genau wie im Fall von Holocaustleugnung – strafrechtlich verfolgt werden wird. In manchen Ohren mag das erst einmal gut klingen. Die Verharmlosung von systematischem Mord sieht niemand gern. Auf Twitter spottete der Schriftsteller und Intellektuelle Raul Zelik: »I love it. ›Entdeckung‹ Amerikas, britische Kolonisierung Irlands, Einhegung der europäischen Allmende, europäische Kolonialherrschaft, deutsche Massaker an den Herero … Die ganze deutsche Mehrheitsgesellschaft trifft sich demnächst im Knast.«
In einem beschleunigten Verfahren von bloß zwei Tagen wurde das Gesetz ganz ohne gesellschaftliche Debatte oder anschließende Berichterstattung durchgewunken – Wolfgang Streeck sprach in der New Left Review von einem veritablen Gesetzes-»Putsch«. Tatsächlich wird auch in Zukunft niemand, der leugnet, dass »das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend« in die Welt kam, irgendetwas zu befürchten haben. Das Gesetz dient kurzfristigen politischen Zwecken. Es steht im Zusammenhang damit, dass die ukrainische Regierung auch den russischen Angriffskrieg als Völkermord definiert wissen will. Immer wieder hat sie dies gefordert.
Es geht also um eine gesetzliche Handhabe, mit der Rechtfertigungen des Angriffskriegs Russlands kurzfristig kriminalisiert werden können. Zu diesem Zweck wurde in den Zusatzartikel zum Holocaust-Paragraphen 130 »eine Stunde vor Mitternacht«, wie Streeck kritisiert, noch ein neuer Absatz hinzugefügt, der auch das »Befürworten, Leugnen oder Verharmlosen« von »Kriegsverbrechen« unter Strafe stellt. Die ersten Meldungen über Ermittlungsverfahren und bevorstehende Anklagen hat es bereits gegeben. In Kürze, mutmaßt auch Streeck, könne der »Generalbundesanwalt Anklage erheben gegen Personen, die die russischen Kriegsverbrechen mit den Kriegsverbrechen der USA im Irak vergleichen und dabei jene (oder diese?) ›relativieren‹«. In einem Land, in dem am Morgen nach der Machtübernahme fast jede und jeder seine Nachbarinnen und Nachbarn mit »Heil Hitler!« statt »Guten Tag« begrüßt habe, hätte das zwangsläufig einen Einschüchterungseffekt. »Welcher Journalist oder Wissenschaftler, der eine Familie zu ernähren hat oder beruflich weiterkommen will«, so Streeck, »wird sich der Gefahr aussetzen, vom Verfassungsschutz als ein ›Relativierer‹ russischer Kriegsverbrechen ›überwacht‹ zu werden?«
Vor diesem Hintergrund hat die neue Resolution es wahrlich in sich. Unumstritten und unleugbar sind die Schrecken der Geschichte der nachholenden Industrialisierung auf dem Weg der Zwangskollektivierung, die Verbrechen des Stalinismus, die nicht zuletzt auch viele deutsche Sozialistinnen und Kommunisten im Exil mit dem Leben bezahlten. Höchst umstritten bleibt in der Wissenschaft jedoch die These von Stalins gezielter Einleitung der Hungersnot als ein Mittel der ethnischen Säuberung.
Der Verfasser dieses Beitrags ist kein Osteuropa-Historiker und maßt sich nicht an, den anhaltenden Historikerstreit zu bewerten. Dies ist jedoch auch nicht nötig, um eines zu verstehen: Mit den beiden neuen Gesetzen der ganz großen Koalition stehen plötzlich alle Historikerinnen und Historiker, die diese These begründet verworfen haben oder an ihr zweifeln, wenigstens theoretisch plötzlich mit einem Bein im Berufsverbot oder im Gerichtssaal. Dass der unbefangenen systematischen Erforschung dieser geschichtswissenschaftlich ungeklärten Frage mit dieser Resolution nicht gedient ist, dürfte auf der Hand liegen.
Woher aber rührt dann diese Entscheidung für die Resolution? Sie entspringt offenbar dem Mitleid mit der ukrainischen Bevölkerung, dem Wunsch, sich bedingungslos solidarisch zu zeigen, und sich darüber hinaus selbst in diesem Sinne als handlungsfähig zu erleben. Daraus entsteht ein moralischer Impuls, aus Solidarität mit der überfallenen Ukraine nun alle Forderungen seitens ihrer Regierung durchzuwinken, von Waffenlieferungen bis zur nationalen Identitätsbildung. Es war Jürgen Habermas, der vor einigen Monaten am Beispiel der Waffenlieferungen in der Süddeutschen Zeitung vor einem solchen moralischen Automatismus warnte, der die Mauer der Reflektion und der Vernunft einreiße.
Denn an einem kann kein Zweifel bestehen: Das Gesetz und das Resolutionsvorhaben von Ampel-Koalition und CDU/CSU sind gefährlich impulsiv und kurzsichtig. Sie sind missbrauchsanfällig und bringen intellektuellen Konformismus hervor, da sie nicht dazu angetan sind, wissenschaftliche Erkenntnisse zu begünstigen. Der Deutsche Bundestag sollte die Resolution nicht unterstützen.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.