08. Dezember 2022
Ich habe als postapokalyptischer Polizist für Gerechtigkeit gekämpft, damit ihr es nicht müsst.
Im Oktober 2022 meldete sich einer der Entwickler aus einer psychiatrischen Klinik, um mitzuteilen, dass die kreativen Köpfe hinter dem Erfolgstitel durch die Unternehmensführung ihres Studios gegangen wurden.
Als ich einer Person gegenüberstand, die so viel reicher war als ich, dass ich ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, weil sich das Licht in ihrer Gegenwart in surrealer Weise krümmte, brachte mich das zum Nachdenken: Bisher hatte ich immerzu versucht, mich auf die Seite der Armen und Arbeitenden zu schlagen. Jetzt beschlich mich die Ahnung, dass ich selbst einer von ihnen sein könnte – ohne dass ich jemals eine andere Wahl gehabt hätte.
»Der Weiss-Wiesemann-Koeffizient ist eine Kennzahl, die die Differenz zwischen den Nettovermögen von Individuen widerspiegelt. Wenn der Koeffizient nahe 1 (oder 100 Prozent) liegt, dann heißt das, dass eine Person das gesamte Nettovermögen einer Gruppe besitzt«, ließ mich die Enzyklopädie in mir wissen. »Es ist beobachtet worden, dass sich ungefähr ab einem Koeffizienten von 0,96 die Gesetze der Physik um die vermögende Person zu verbiegen beginnen.«
Ich hatte eine Menge Skillpunkte in enzyklopädisches Wissen gesteckt, um einordnen zu können, was mir in dieser bizarren Welt begegnete. Körperliche Widerstandsfähigkeit dagegen vernachlässigte ich so sehr, dass bereits ein besonders unbequemer Stuhl mich umbringen konnte. Doch das schienen mir die richtigen Prioritäten zu sein für Disco Elysium, ein Computerspiel, dessen Entwicklerinnen und Entwickler Marx und Engels für ihre »politische Bildung« dankten, als sie bei den Game Awards 2019 mit Preisen überhäuft wurden.
Die Stadt Revachol – der Schauplatz des Spiels – hat vieles durch, etwa einen König, der sein Land ausblutete, um seine Kokainsucht zu finanzieren, oder eine sozialistische Revolution, deren dauerhaftestes Erbe nichts weiter als ein spezieller, von den Kommunarden erfundener Handschlag bleiben sollte. Denn die Kommune von Revachol wurde von einer internationalen Koalition zunichtebombardiert, die den Menschen stattdessen den freien Markt daließ. Heute streikt die Hafenarbeitergewerkschaft und fordert »Jeder Arbeiter ein Vorstandsmitglied«. Und in einem angrenzenden Hinterhof hängt ein vom Logistikkonzern Wild Pines engagierter Söldner an einem Spanngurt von einem Baum.
Seinetwegen bin ich hier, denn ich bin Mordermittler. Zwar hindert mich ein heftiger Blackout daran, mich an irgendetwas zu erinnern – doch bei einem bin ich mir sicher: Ich bin nicht hier, um dem Trug des Offensichtlichen zu erliegen und Arbeiter für den Mord an einem Söldner des Kapitals einzubuchten.
Anfangs geigte ich jeder und jedem gesellschaftskritische Phrasen vor – in der Erwartung, dass mir das Wege eröffnen würde, kein schnöder »Hüter von Recht und Ordnung«, sondern ein Kämpfer für die Gerechtigkeit zu werden. Und tatsächlich: Als ich den Chef der Cafeteria dafür geißelte, dass er selbst noch seine Abfälle mit einem Sicherheitsschloss vor den Elenden abriegelte, schaltete das einen neuen Gedankengang in mir frei: »Mazovianische Makroökonomie«, Revachols Marxismus. In Zukunft würden mir linke Dialogoptionen zusätzliche Erfahrungspunkte einbringen. Doch bald darauf mäßigte ich mein Auftreten – die praktisch orientierten Leute von der Gewerkschaft würden mich radikalen Sprücheklopfer gewiss auslachen.
So verkniff ich es mir, der örtlichen Buchhändlerin, die ihre Tochter draußen in der Kälte bei den Auslagen stehen ließ, großspurig zu erklären, dass ich gekommen sei, um »den freien Markt einzureißen und die Kinderarbeit abzuschaffen«, und redete ihr stattdessen ins Gewissen, sodass sie ihr Kind hereinholte. Doch als ich mir endlich Zugang zum Gewerkschaftsbüro verschafft hatte, was lag da auf der Couch: ein Magazin für »mazovianische Perspektiven« voll mit weltfremden »radikalen Wahrheiten«.
Kurz darauf traf ich den Gewerkschaftsvorsitzenden Evrart Claire – ein veritabler Gangsterboss, wie ich feststellen musste. Doch er scheint seinen Job gut zu machen; die Arbeiter stehen zu ihm. Geht es vielleicht nicht anders in dieser kaputten Welt? Das hätte ich noch verkraften können, nicht aber, was mich als nächstes erwartete: Die Hardie Boys, die Männer fürs Grobe in der Gewerkschaft, gestanden mir einfach so den Mord. Würde ich am Ende trotz allem nicht drumherum kommen, Gewerkschaftern Handschellen anzulegen?
Habe ich meinen Playthrough an den Sozialismus verschwendet? Was habe ich verpasst, indem ich den titelgebenden Disco-Aspekt links liegen ließ? Dass ein Spiel dieselben Fragen aufwerfen kann wie das echte Leben, zeugt von der großen Kunstfertigkeit des Teams hinter Disco Elysium. Doch es gibt schlechte Nachrichten: Im Oktober 2022 meldete sich einer der Entwickler aus einer psychiatrischen Klinik, um mitzuteilen, dass die kreativen Köpfe hinter dem Erfolgstitel durch die Unternehmensführung ihres Studios gegangen wurden. Die Marke wird weiter ausgeschlachtet werden, der Klassiker aber keine Fortsetzung im Sinne seiner Urheber erleben. Andererseits ist diese Meldung ein nur allzu passender letzter Paukenschlag für ein Spiel, das uns die Kläglichkeit einer Zukunft vorführt, in der dieser absurde Zynismus niemals aufgehört hat zu siegen.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.