23. Juni 2023
Die »Klimakleber« verwechseln erhöhte Medienaufmerksamkeit für ihre Aktionen mit politischem Geländegewinn für wirksamen Klimaschutz. Eine Klimabewegung, die gewinnen will, muss die Mehrheit überzeugen, statt sie gegen sich aufzubringen.
Der neue, selbstgemischte Klebstoff der Letzten Generation lässt sich nicht mehr so einfach mit Speiseöl lösen.
IMAGO / photothekAn der Letzten Generation scheiden sich die Geister – auch innerhalb der Linken. In der Bevölkerung findet die Bewegung wenig Rückhalt. Einer übergroßen Anzahl derjenigen, die das Vorgehen der »Klimakleber« ablehnen, steht eine recht entschlossene kleine Minderheit von Unterstützerinnen und Sympathisanten gegenüber. Dazwischen gibt es zahlreiche Menschen, die sich an der Kriminalisierung dieser Form des Aktivismus stören, die Aktionsformen selbst aber nicht gutheißen und die Bewegung deshalb mit gemischten Gefühlen betrachten.
Eine solidarische Kritik an der Letzten Generation ist deshalb eine schwierige Gratwanderung. Doch man sollte der Bewegung nicht mit Stillschweigen oder Schönreden begegnen – sie darf und sollte von links kritisiert werden. Nicht, weil ihre Position, dass klimapolitisch dringender Handlungsbedarf besteht, inhaltlich falsch wäre. Im Gegenteil: Gerade weil die Zeit drängt, darf auch die Strategie sozialer Bewegungen nicht über jede Kritik erhaben bleiben. Das gilt gerade jetzt, denn nicht nur die Politik dieser Bewegung, sondern auch das Klimaprogramm der Bündnisgrünen an der Regierung und von Fridays for Future als gemäßigter Protestbewegung haben kaum Aussicht auf Erfolg.
Ein pauschales und diffuses »irgendwie haben die schon recht« oder »irgendwie bewirken die schon was« reicht als Rechtfertigung militanter Strategien nicht aus. Die Haltung bedingungsloser Solidarität hat in der Geschichte der Linken und der Arbeiterbewegung einigen Schaden angerichtet.
Derzeit scheint sich die Letzte Generation in einer Art »Wettrüsten« mit der Polizei zu befinden. Nachdem diese eine Routine darin erlangt hatte, Festgeklebte mit Speiseöl von der Straße zu lösen, fixieren sich die Widerständler jetzt mit einem selbstgemischten Klebstoff. Nun müssen die Polizistinnen und Polizisten ein Stück Asphalt aus der Straße fräsen. Vermutlich wird der Letzten Generation noch eine weitere Methode einfallen, ihr Entfernen beschwerlicher zu machen, wenn die Polizei ihre Ablösefähigkeiten wiederum verbessert. Doch diese taktischen Innovationen verlängern zwar einzelne Blockaden, ändern aber nichts an ihrer politischen Wirkungslosigkeit.
Woran ließe sich der Erfolg einer gewaltfreien, aber militanten Klimabewegung festmachen? Eine aus linker Sicht sehr nützliche Herangehensweise in der Bewegungsforschung bemisst den Erfolg des Aktivismus an seinen Wirkungen im politischen Prozess. In aufsteigender Folge ist eine Bewegung erfolgreich, wenn sie auch in der institutionellen Politik Berücksichtigung findet, etwa ihre Mitglieder als Sachverständige bei Anhörungen zu Wort kommen. Noch weitergehender Erfolg zeigt sich, wenn die von ihr gewünschten Anliegen als Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht werden. Weitere Erfolgsstufen werden erreicht, wenn die Anliegen angenommen und umgesetzt werden und die auf die Bewegung zurückgehende Gesetzgebung gesellschaftlich tatsächlich die gewünschten Ergebnisse hervorbringt.
»Die erfolgreichsten Bewegungen verändern die sozialen Strukturen dahingehend, dass spätere Bewegungen auf günstigere Voraussetzungen treffen, Gesellschaft und Politik für ähnliche Anliegen empfänglicher und Rollbacks unwahrscheinlicher werden.«
Die erfolgreichsten Bewegungen verändern die sozialen Strukturen dahingehend, dass spätere Bewegungen auf günstigere Voraussetzungen treffen, Gesellschaft und Politik insgesamt für dieselben oder ähnliche Anliegen empfänglicher und Rollbacks unwahrscheinlicher werden. Für alle Erfolgsstufen gilt, dass Bewegungen sowohl »nach oben«, also in die politische Elite, als auch in die breite Gesellschaft wirken müssen. Bewegungen scheitern, wenn der Funke nicht überspringt, sondern der gewünschte Wandel bereits an früher Stelle durch Gegenstrategien der Herrschenden wie Diskreditierung oder Repression abgewürgt oder durch neutralisierende Vereinnahmung konterkariert wird.
Aber genauso ist eine Bewegung auch zum Scheitern verurteilt, wenn ihre Strategie gar nicht geeignet ist, ihre Botschaft überhaupt effektiv zu vermitteln. Bei der Letzten Generation kann dies inzwischen als erwiesen gelten.
Die Bewegung richtet ihre Forderungen an die Bundesregierung. Nach eigenen Angaben nimmt sie ihre Straßenblockaden in der Hoffnung vor, durch immer mehr Zulauf so viel Unterbrechungen des Alltagslebens erreichen zu können, dass sich die Regierung zu immer mehr Repression genötigt sieht oder vor der Übermacht der Blockaden einknickt und die Forderungen der Bewegung umsetzt. Nach anderthalb Jahren Protestaktionen durch die »Klimakleber« lässt sich das eindeutige Scheitern dieser Strategie feststellen.
Viele von linker Seite geäußerte Argumente zur Verteidigung der Letzten Generation können nicht überzeugen. Etwa hört man oft, immerhin habe die Bewegung es geschafft, das Thema Klimaschutz auf die öffentliche Agenda zu setzen oder es zumindest dort zu halten. Doch die Entwicklung der Umfragen zu den »wichtigsten Problemen« aus Sicht der Bevölkerung kann diese Annahme nicht bestätigen.
Das höchste Problembewusstsein für die Klimakrise wurde bereits mehrere Jahre vor den Aktionen der Letzten Generation erreicht, als Klimabewegungen wie Fridays for Future in größerem Umfang mobilisierten. Der bisherige Höhepunkt wurde im Frühjahr 2021 erzielt und fiel mit dem Umfragehoch der Bündnisgrünen vor der jüngsten Bundestagswahl zusammen. Auf Aktivitäten der Letzten Generation lässt es sich nicht zurückführen. Ihre Aktionen generierten vor allem Aufmerksamkeit für die Bewegung selbst, was sie teilweise selbst eingesteht. Auf ihrer Webseite erklärt sie: »Die Kampagne Letzte Generation hat im Laufe von 2022 ein Momentum erschaffen, an das wir anschließen wollen. Der Begriff ›Klimakleber‹ ist auf Platz 5 der Wörter des Jahres. ›Klimaterroristen‹ ist hingegen das Unwort des Jahres. Unser Plan geht bis hierhin auf.«
Ebenso wenig gelingt es der Letzten Generation, durch massenhaften Zuspruch die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Das Gegenteil ist der Fall. Umfrage nach Umfrage nach Umfrage bescheinigt, dass übergroße Mehrheiten der Bevölkerung die Methoden der Bewegung klar ablehnen. Auch konnten kaum weitere Bündnispartner gewonnen werden. Aus dem grünen und linken Spektrum wurde die Kriminalisierung der Bewegung zwar verurteilt; eine beachtliche Welle an Spenden traf bei der Gruppe ein. Doch kann nirgends davon gesprochen werden, die Aktionen der Letzten Generation hätten relevante Träger aus dem regierenden politischen Block herausgelöst.
»Die von der Letzten Generation vorgetragenen Forderungen sind ungeeignet, eine entschiedene Wende in der Klimapolitik voranzubringen.«
Auf Ebene der herrschenden Politik fällt die Beurteilung des Bewegungserfolgs noch ungünstiger aus als hinsichtlich der öffentlichen Meinung. Seit die Letzte Generation von sich Reden macht, hat es mehrere zentrale klimapolitische Rückschläge gegeben. So scheiterte der Volksentscheid Berlin 2030 klimaneutral am Quorum der notwendigen »Ja«-Stimmen. Die Ampel-Regierung weichte den Klimaschutz auf, indem sie die verbindlichen Ziele für einzelne Sektoren aufhob. Und schließlich lieferten sozialdemokratisch und grün geführte Ministerien der FDP und der Bild eine willkommene Vorlage, die Reform des Gebäudeenergiegesetzes als »Heizungshammer« anzugreifen. Die Letzte Generation kann offenbar vereinzelt Straßenverkehr ausbremsen, sie hat aber noch keinen einzigen klimapolitischen Erfolg erkämpft.
Die von der Letzten Generation vorgetragenen inhaltlichen Forderungen sind ebenso ungeeignet, eine entschiedene Wende in der Klimapolitik voranzubringen. Der wohlwollende Ökonom Helge Peukert hatte der Bewegung einen radikalen Forderungskatalog formuliert und ihr ins Gewissen geredet, es klaffe eine offenkundige Lücke zwischen ihrer dramatisierenden Rhetorik sowie dem Störpotential der Aktionen auf der einen und ihren eher symbolischen klimapolitischen Forderungen auf der anderen Seite.
Bekanntlich stellt die Bewegung die Forderungen nach einem dauerhaften Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr und nach einem allgemeinen Tempolimit von 100 km/h in den Vordergrund. Weil die Letzte Generation selbst weiß, dass diese Maßnahmen nicht im Ansatz für das Erreichen anspruchsvollerer Klimaziele ausreichen, ist ihre dritte zentrale Forderung die Einrichtung eines »Gesellschaftsrats«. Nirgends kommt die eigenartige, widersprüchliche Mischung aus Militanz, Technokratie und einem hoffnungslos naiven Volks- und Staatsvertrauen der Letzten Generation so deutlich zum Ausdruck wie in diesem programmatischen Punkt.
Schon die begründende Aussage, »unsere demokratischen Verfahren« seien »für einen angemessenen und sozial gerechten Umgang mit der Klimakrise offenbar nicht ausreichend«, verkürzt das Hegemonieproblem des Klimaschutzes auf die bloße Unzulänglichkeit der Verfahren der repräsentativen Demokratie. Damit zusammenhängend sieht der Bewegungsforscher Dieter Rucht bei der Letzten Generation die nicht haltbare Annahme, »beim Klimaschutz bestehe eine prinzipielle Interessenidentität von 99 Prozent der Bevölkerung, die der Gesellschaftsrat schon zum Ausdruck brächte«.
Der Vorschlag für einen solchen Rat offenbart auch einen nicht zu versöhnenden Selbstwiderspruch in der Politik der Letzten Generation. Denn wenn es die von ihr unterstellte Interessenidentität in der Klimafrage gäbe, warum sollte sie sich dann ausgerechnet durch eine in der Bevölkerung massiv abgelehnte Aktionsform Gehör verschaffen können?
»Um sicherzustellen, dass Beschlüsse im Sinne der Bewegung gefasst werden, versieht man den Gesellschaftsrat mit einer starken Kindersicherung.«
Für die Letzte Generation soll der Gesellschaftsrat ein »Abbild der Gesellschaft, quasi ein ›Deutschland in klein‹« darstellen. Doch ist es nicht dasselbe Deutschland, dessen Bevölkerung entweder in übergroßer Mehrheit Parteien gewählt hat, die keine radikale klimapolitische Agenda verfolgen, oder sich an Wahlen gar nicht erst beteiligt? Die Letzte Generation zeigt sich bemerkenswert naiv, wenn sie darauf vertraut, im Rahmen des Gesellschaftsrates würde das Miniatur-Deutschland schon die richtige Klimapolitik beschließen.
Ebenso blauäugig ist die Forderung, die Bundesregierung solle »öffentlich zusagen, die mit den im Gesellschaftsrat erarbeiteten Maßnahmen verbundenen Gesetzesvorhaben in das Parlament einzubringen. Außerdem soll sie die für die Maßnahmen und Gesetzesvorhaben nötige Überzeugungsarbeit im Parlament leisten und die Gesetze nach Verabschiedung in einer beispiellosen Geschwindigkeit und Entschlossenheit umsetzen«.
Hegemoniepolitisch ist die Idee eines Gesellschaftsrats ein Offenbarungseid. Man bringt selbst keine Vorschläge ein, sondern delegiert dies an ein zukünftiges Gremium sowie die weitere Überzeugungsarbeit an die Regierung. Allzu weit reicht das Vertrauen in das Miniaturvolk des Gesellschaftsrates dann aber doch nicht. Um sicherzustellen, dass Beschlüsse im Sinne der Bewegung gefasst werden, versieht man den Rat mit einer starken Kindersicherung. Dass »das Richtige« dabei herauskommt, wird dabei zu einer Frage des korrekten Social Engineerings und der Aufklärung der Leute durch überlegenes Expertenwissen. Indem sie die Fragestellung darauf eingrenzt, dass die fossile Rohstoffnutzung bis 2030 beendet werden muss, liefert die Bewegung dem Gremium die gewünschten Ergebnisse gleich mit.
Doch was, wenn der Gesellschaftsrat doch anders entscheidet als von der Bewegung gewünscht? Was sollte sie dann einwenden – dass das Verfahren immer noch »nicht ausreichend« sei?
Auch das strategische Vorgehen der Letzten Generation überzeugt nicht. Störende Aktionen können prinzipiell hilfreich sein, wenn sie nicht nur Aufsehen erregen, sondern exemplarisch den kritisierten Missstand zeitweise außer Kraft setzen, wie etwa beim berühmten Sit-In des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) in Greensboro, North Carolina, bei der »Instandbesetzung« verfallender Wohnhäuser oder bei erfolgreichen Boykottaufrufen gegen Unternehmen. Oft muss die Bewegungsaktivität über Umwege ihr Ziel erreichen und mit ihrem Widerstand Dritte beeindrucken und unter politischen Zugzwang setzen – meistens die Regierung.
Doch Aktionen, die mit störender Provokation Aufmerksamkeit generieren, können nur in überschaubaren Zeiträumen funktionieren. Was anfangs viel Beachtung findet und Debatten auslöst, nutzt sich bald ab. »Um weiterhin Aufmerksamkeit zu erregen, muss man den Übergriff intensivieren und den Konflikt verschärfen, aber auch dies kann die Mechanismen der Routine und Abstumpfung nicht außer Kraft setzen. Sobald der Normbruch zur Gewohnheit geworden ist, regt er keinen mehr auf. [...] Der kurze Atem der Provokation wird mit jeder Wiederholung kürzer«, wie der Soziologe Rainer Paris anmerkt.
Der Impuls zur Selbstbezüglichkeit und die eingangs erwähnte Tendenz zum sich aufschaukelnden Katz-und-Maus-Spiel zwischen Aktivistinnen und Polizei sind insofern bereits in der Aktionsform der Letzten Generation selbst angelegt. Weil der Bewegung jeglicher Mechanismus fehlt, um die gesamte Gesellschaft von wirksamer Klimapolitik zu überzeugen, ruhen alle Hoffnungen darauf, die anfänglichen Provokationserfolge zu wiederholen. So rühmt sich die Letzte Generation auf ihrer Webseite: »Wir haben 2022 über 1.250 Ingewahrsamnahmen organisiert. Das ist ein Erfolg.«
Die Aktivistinnen und Aktivisten glauben, die mikroskopische Öffentlichkeit von Amtsgerichten als Bühne für ihre Politik nutzen zu können. Tatsächlich verdrängen sie nur, wie ineffektiv ihr Vorgehen längst geworden ist. »Um sich den Illusionscharakter ihrer Selbstermächtigung nicht eingestehen zu müssen, versteifen sie sich auf eine Strategie der Dauerprovokation, die ihnen zwar weiterhin das Charisma der Gemeinschaft vermittelt, gleichzeitig aber die Aufklärungschancen der Bewegung nach außen und innen immer stärker blockiert«, so Paris.
»Ausgerechnet wohlmeinende Aktivisten schaffen eine Situation, in der das Eintreffen der Polizei von fast allen Anwesenden als erlösende Befreiung erlebt werden muss.«
Die Blockaden erzeugen das Gegenteil dessen, was sich die Bewegung von ihnen erhofft. »Der ›Vorzeige-Effekt‹ (demonstration effect) bestimmt unsere Theorie der Mobilisierung. Du siehst eine Person auf der Straße sitzen, die dir einen Weg aufzeigt, um Widerstand zu leisten«, liest man auf ihrer Webseite. Tatsächlich werden die allermeisten Menschen, deren Pkw auf der Straße oder Autobahn aufgrund einer Blockade der Letzten Generation stehen bleibt, nichts dergleichen empfinden.
Mitglieder und Unterstützer der Bewegung wenden zur Verteidigung dieser Aktionsform ein, dass viele Menschen ohnehin ständig aufgrund von Staus nicht vorwärts kommen. Das trifft zu, ist aber letztlich irrelevant. Wer im Stau steht und eigentlich auf dem Weg zur Arbeit ist oder unterwegs, um die Kinder abzuholen oder wichtige Einkäufe zu tätigen, ärgert sich, wird aber vor allem auch geplagt durch die konkrete Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit. Wie Paris schreibt, wird das Warten »als verlorene, als nutzlose und ›enteignete‹ Zeit [erlebt]. [...] Unmissverständlich führt uns das Warten vor Augen, dass wir nicht die Herren unseres Schicksals sind«.
Bringen kapitalistische Verhältnisse diese Erfahrungen aber gerade durch ihre Planlosigkeit und Willkür hervor, geben die Aktionen der Letzten Generation den frustrierten Pendlerinnen einen Schuldigen. Der Ärger der festgesetzten Autofahrer trifft die Bewegung mit voller Wucht, da sich die vergeudete Lebenszeit hier nicht auf Strukturprobleme zurückführen lässt, wie bei einem wegen des Facharztmangels überfüllten Wartezimmer, sondern auf eine bewusste, geplante und gesetzeswidrige Aktion.
Die Wartenden »sind und bleiben einander fremd«, bleiben eine Gruppe »an sich«. Die einzige Öffentlichkeit und Aktionsform als Gruppe »für sich«, die unter den »Wutbürgern« entstehen kann, ist ihre Konfrontation mit den Aktivistinnen selbst, wenn sie aussteigen, um die »Klimakleber« anzubrüllen und gegebenenfalls versuchen, sie widerrechtlich selbst von der Straße loszureißen. Ausgerechnet wohlmeinende Aktivisten schaffen eine Situation, in der das Eintreffen der Polizei von fast allen Anwesenden als erlösende Befreiung erlebt werden muss.
Doch trifft es mit den Autofahrern nicht doch irgendwie die Richtigen? Zwar stimmt es, dass nicht nur Großkonzerne mit fossil betriebenen Produktionsstätten, sondern auch die individuellen Konsumenten Treibhausgase mitverantworten. Ebenfalls trifft zu, dass der Verkehrssektor der Einzige ist, der in den vergangenen Jahren keinen Beitrag zur Verminderung der Emission geleistet hat.
Trotzdem ist es nicht plausibel, die Autofahrenden als Träger einer Art ökologischer Kollektivschuld anzusehen. Die allermeisten Menschen können sich ihr Verkehrsmittel nicht frei aussuchen. 19,6 Millionen oder knapp 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiteten im Jahr 2021 nicht an ihrem Wohnort. Sie eignen sich kaum als Angriffspunkt, weil nur wenige von ihnen eine andere Wahl haben. Aus linker Sicht verbietet sich eine Individualisierung der Emissionsminderung ohnehin.
Wie der Verkehrspolitik-Experte Oliver Schwedes schreibt, macht sich der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« gerade gegenüber unteren Einkommensschichten, die sich immer öfter hohe Mieten und Grundstückspreise in innerstädtischen Bereichen nicht mehr leisten können, als »erzwungener Verkehr« bemerkbar, da sie »einen verhältnismäßig großen Anteil ihres Haushaltseinkommens für Mobilität ausgeben müssen, um die gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Immer öfter sind sie dabei auf den privaten Pkw angewiesen, dessen Unterhalt für sie eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellt«.
»Kaum verwunderlich, dass sich Menschen eingeschränkt fühlen, wenn sie in ihrem Verkehrsverhalten, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben, behindert werden.«
Insofern überraschen die Denkzettel an der Wahlurne gegen die Verkehrspolitik der Bündnisgrünen in Berlin und Bremen nicht. Deren gegen das Auto gerichtete Politik ist nicht etwa zu radikal, sondern nicht radikal genug. Der automobile Verkehr ist nämlich ebenso sehr Ursache wie Reflex heutiger Formen kapitalistischer Konkurrenz, individualisierten Konsums und sozial-räumlicher Polarisierung. Kaum verwunderlich, dass sich Menschen eingeschränkt fühlen, wenn sie in ihrem Verkehrsverhalten, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben, behindert werden. Nicht nur auf dem Weg zum Arbeitsplatz, auch für Besuche von Verwandten und für die Erholung im Grünen stellt der ÖPNV in seinem heutigen Zustand oft keine gleichwertige Alternative dar.
Zudem mehren sich Hinweise, dass das von außen an die Letzte Generation herangetragene Wunschdenken durch sektiererische Tendenzen im Inneren ergänzt wird. Der Soziologe Lewis Coser macht sektiererische Organisationsformen an mehreren Merkmalen fest, die sich alle zumindest ansatzweise bei der Bewegung wiederfinden lassen. Schon in Namen, aber vor allem in der Rhetorik der Bewegung, die bisweilen ins Apokalyptische abgleitet, kommt die erkenntnis-, moral- und handlungsbezogene Privilegierung zum Ausdruck, die sich die Letzte Generation selbst zuschreibt.
Wo frühere politische Sekten die wörtliche Geltung und bedingungslose Umsetzung heiliger oder politischer Schriften verfochten, verlangt die Letzte Generation dies für ihre Auslegung der Klimawissenschaft, die kaum Raum für legitimen Dissens über gesellschaftliche Transformationspfade bietet. Auch die Binnenstruktur der Letzten Generation ist offenbar wenig demokratisch, wie die Welt berichtet: »Es gibt eine klare Hierarchie. Ein Organigramm der Gruppe zeigt ein sechsköpfiges Kernteam mit Entscheidungsgewalt, dazu sieben weitere mit der Organisation betraute Personen, die den Kontakt zu zehn Arbeitsgruppen halten. In den verschriftlichten Prinzipien der Gruppe steht das Motto festgeschrieben: ›Viel Input, wenig Demokratie‹. Eine schnelle und effektive Entscheidungsfindung könne nicht im großen Plenum erfolgen.«
Coser betrachtet politische Sekten als »gierige« Institutionen, die möglichst vorbehaltlose Verpflichtung und unbeschränkte Opferbereitschaft von ihren Mitgliedern einfordern. »Wichtig ist, dass wir uns in allen Städten nicht trügen lassen: Gewaltfreie Störung, Opferbereitschaft und Intensivierung der Proteste sind die drei Zutaten, die es immer gebraucht hat und weiterhin braucht, um zu gewinnen. Lässt du eine weg, kannst du es bleiben lassen«, schreibt die Organisation selbst auf ihrer Webseite.
Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang, was über ein Datenleck aus dem inneren Zirkel der Letzten Generation im Frühjahr 2023 an die Öffentlichkeit gelangte. Innerhalb der Organisation ging man offenbar recht sorglos mit personenbezogenen Daten um, was an sich bereits kritikwürdig ist. Besonders verstörend wirkt aber, welche Details über Mitglieder festgehalten wurden: »Die ›Letzte Generation‹ führt internen Dokumenten zufolge auch Protokolle über ihre Mitglieder und Interessenten. Darin finden sich Kommentare wie diese: ›Konnte sich bislang nicht durchringen, das Studium zu schmeißen‹, ›zu ängstlich für Gefängnis‹, ›gesundheitlich nicht so fit‹, ›depressive Phase‹ oder: ›fürchtet Deportation im Falle einer Festnahme‹. [...] Angaben zu belegten Seminaren und Trainings. Auskünfte über die Bereitschaft, ins Gefängnis zu gehen. Und auch Details zur Lebenssituation und Ausschnitte aus persönlichen Mails.«
Da die Letzte Generation die Steigerung ihres eigenen Bekanntheitsgrads mit politischem Geländegewinn für wirksamen Klimaschutz verwechselt, bleibt ihr nichts Anderes übrig, als sich der Aufmerksamkeitsökonomie kapitalistischer Massenmedien zu unterwerfen. Weil aber Polizei und Ordnungskräfte mitlernen und die Kriminalisierung laut eigener Aussage der Bewegung aufgrund ihrer öffentlichen Wirkung ausdrücklich eingeplant ist, müssen die geheimhalterischen und verschworenen Aspekte der eigenen Organisation und deren Loyalitätsansprüche gegenüber ihren Mitgliedern immer weiter erhöht werden, um das bereits erreichte Niveau an Störungen aufrechterhalten zu können. Die immer verzweifeltere Suche nach einer wohlwollenden Öffentlichkeit verstärkt so paradoxerweise das strukturelle Sektierertum der Gruppe.
Die Hinweise mehren sich, dass die Aktivität der Letzten Generation mit ihren bisherigen Aktionsformen dem Klimaschutz eher schadet als nützt. Die Gegner sozialer Bewegungen bekämpfen diese oftmals durch Versuche, sie als extremistisch, gefährlich oder gewaltbereit zu diskreditieren. In dieses Register bürgerlich-publizistischer Panikmache gehören auch die Warnungen vor Radikalisierung der Letzten Generation und einer »Klima-RAF«. Doch die Letzte Generation sucht die Konfrontation mit der Mehrheitsgesellschaft inzwischen auch selbst offen.
»Konservative überkleistern ihre gegenwärtige Ideenarmut mit Gereiztheit gegenüber Empörungsbewegungen.«
Im Jahr 2023 will sie ihre Anstrengungen ausgerechnet in Bayern intensivieren: »Nicht dort, wo viel Sympathie herrscht, sondern dort, wo viel Ablehnung vorhanden ist, wurde mit friedlichem Widerstand Geschichte geschrieben«, so die Ankündigung. Tatsächlich aber dürfte sich ein Aktionsschwerpunkt ausgerechnet in Bayern als Wahlkampfgeschenk für Markus Söder erweisen.
Konservative überkleistern ihre gegenwärtige Ideenarmut mit Gereiztheit gegenüber Empörungsbewegungen. Statt intellektuelle Lücken im eigenen Weltbild zu schließen »ist es attraktiver, sich auf das Feindbild der ›woke warriors‹ zu verlegen«, wie der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher bemerkt. Von einer offenen Konfrontation der Letzten Generation mit den bayerischen Konservativen würden diese deshalb vermutlich eher profitieren.
Klimaschutz sollte vor allem als politische Überbrückungs- und Übersetzungsleistung begriffen werden. Es liegt hier eine gewisse Ähnlichkeit zum aus der Pandemiebekämpfung bekannten »Präventionsparadox« vor: Klimapolitische Erfolge zeigen sich darin, dass etwas – nämlich Erderwärmung – nicht eintritt. Die Lücke zwischen abstrakter Problemstellung und Alltagserfahrung ist hier besonders groß und kann nur durch Vertrauen in die Expertise der Klimawissenschaften geschlossen werden.
Klimapolitik erfasst alle gesellschaftlichen Bereiche, da alle Menschen in allen gesellschaftlichen Rollen Emissionen mitverursachen. Das politische Grundproblem des Klimaschutzes tritt hervor, sobald er auf konkretere Umverteilungs- und Regulierungsfragen runtergebrochen wird. Dann zeigt sich, so schreibt Dieter Rucht, »dass eine Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung zwar im Grundsatz einen stärkeren Klimaschutz gutheißt, jedoch immer dann widerspricht, wenn es um konkrete persönliche Einschränkungen geht. Wenn man selber zahlen muss, sei es mit Geld oder mit Gewohnheitsänderungen«.
Zu diesen strukturellen Hindernissen treten Schwierigkeiten im politischen Prozess. Eine sachgerechte Klimapolitik ist anspruchsvoll, weil sie fast immer ressourcenstarke Interessen berührt. Da die Auswirkungen des Klimawandels meistens kaum spürbar sind, kann sich das Thema nur schwer dauerhaft auf der politischen Agenda halten und wurde nach dem Aufmerksamkeitshoch von 2018 und 2019 erst von der Corona-Pandemie und dann vom Krieg in der Ukraine verdrängt.
»Die Aktionen gegen Yachten und Privatjets sind ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch ist offen, ob dieser Strategiewechsel zu spät erfolgt ist.«
Schließlich zeigen die Erfahrung des Bundestagswahlkampfs 2021 oder jüngst der Streit ums Gebäudeenergiegesetz, dass bei allem Problembewusstsein keine Zustimmung zu Maßnahmen oder Programmen garantiert werden kann. Die politische Konjunktur des Klimaschutzes scheint untrennbar mit dem Erfolg der Partei verknüpft, die mit diesem Thema stärker als alle anderen identifiziert wird. Wenn grüne Spitzenpolitikerinnen straucheln, leidet der Rückhalt für den Klimaschutz.
Die Letzte Generation ist die falsche Antwort auf eine richtige Frage. Sie müsste ihre Strategie vom Kopf auf die Füße stellen. Nicht nur die Zielgruppe, auch die Vorhaben müssen konkretisiert werden. Sie müsste Mehrheiten erkämpfen oder dies zumindest erleichtern. Störende Aktionen müssen dafür so angelegt sein, dass sie offensichtlich »die Richtigen« treffen. Sie müssten die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich versammeln, statt sie gegen sich aufzubringen. Die Aktionen gegen Yachten und Privatjets sind ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch ist offen, ob dieser Strategiewechsel zu spät erfolgt ist.
Die Klimabewegung sollte das weit verbreitete Gefühl der Machtlosigkeit nicht verstärken. Vielmehr sollte sie stellvertretend für die Gesellschaft intervenieren und Möglichkeiten von Handlungsmacht aufzeigen. Neben der Störung des privaten Flugbetriebs würden Blockaden gegen Konzern-Chefetagen, wo die Investitionsentscheidungen getroffen werden, die die fossile Wirtschaft fortschreiben, eine politisch wirkungsvolle Botschaft verbreiten. Besonders eignen sich die Ziele dort, wo die Bevölkerungsmehrheit klar auf Seiten der Aktivisten ist und die Politik trotzdem nicht in die Gänge kommt.
In Zeiten, in denen die Rüstungsetats auf der ganzen Welt explodieren, sind Investitionen in Klimaschutz eine Frage des politischen Willens und der Prioritätensetzung. Ein Sondervermögen von nicht unter 200 Milliarden Euro, das aus Krediten und einer »Piketty-Steuer« auf hohe Vermögen finanziert werden könnten, wäre eine sinnvolle und einleuchtende Forderung, die sich die Bewegung auf die Fahnen schreiben könnte. Stehen diese Mittel erst einmal zur Verfügung, kann die Klimabewegung sich auf lokaler Ebene in Bündnisse für möglichst weitgehende, aber realistische Transformationspläne einsetzen und konkret für breite Mehrheiten kämpfen. Erfolgversprechender als die moralische Drohkulisse apokalyptischer Szenarien ist die Aussicht, dass auf diese Weise viele gesellschaftliche Kräfte am Klimaschutz als einem gemeinsamen Projekt mitwirken können.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.