30. März 2023
Der Politikwissenschaftler Robert Putnam beschrieb in seinem Buch »Bowling Alone«, wie das Wegsterben der Zivilgesellschaft in wohlhabenden Gesellschaften eine soziale Einöde hinterlässt. Zwanzig Jahre später ist das Problem wesentlich schlimmer, als er es sich jemals hätte vorstellen können.
»Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begannen in den USA immer mehr Menschen, bowlen zu gehen – aber sie taten das zunehmend allein.«
Illustrationen: George Wylesol2021 veröffentlichte das Survey Center on American Life eine Studie über Freundschaften in den USA. Der Bericht war alles andere als ermutigend. Er verzeichnete eine »Freundschafts-Rezession« und stellte fest, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner zunehmend einsam und isoliert leben: 12 Prozent von ihnen gaben an, keine engen Freundschaften zu haben. Im Jahr 1990 waren es gerade einmal 3 Prozent. Und fast 50 Prozent sagten, sie hätten während der Corona-Pandemie den Kontakt zu Freundinnen und Freunden verloren. Die psychosomatischen Folgen sind verheerend: Herzkrankheiten, Schlafstörungen, erhöhtes Alzheimer-Risiko. Die Freundschafts-Rezession hat potenziell lebensgefährliche Folgen.
Diese Studie bildet im Kleinen einen viel umfassenderen Prozess ab, der in den letzten dreißig Jahren auch andere Länder als die USA erfasst hat. Als Inbegriff freiwillig gewählter Gemeinschaften stehen Freundeskreise stellvertretend für andere Institutionen in unserem Sozialleben – Gewerkschaften, Parteien, Vereine. Der Philosoph Jean-Claude Michéa schreibt in seinen Memoiren, dass der Tag, an dem er herausfand, dass es im Dorf Menschen gab, die nicht Mitglied der Kommunistischen Partei waren, einer der bestürzendsten Momente seiner Kindheit war. »Das schien mir unvorstellbar«, erinnert er sich; es war, als würden diese Menschen »außerhalb der Gesellschaft leben«. Nicht umsonst verglichen die Studierenden im Pariser Mai 1968 das Verhältnis der Arbeiterschaft zur Kommunistischen Partei mit dem der christlichen Gemeinschaft zur Kirche. Die Gläubigen sehnten sich nach Gott, die Arbeitenden nach der Revolution. Stattdessen »bekamen die Christen die Kirche und die Arbeiterklasse die Partei«.
Als Kind kommunistischer Eltern verstand Michéa die Partei als Erweiterung der familiären Gemeinschaft. Freundschaftsmuster waren schon immer ein nützlicher Indikator für breitere gesellschaftliche Trends, und das Medienportal Vox war schnell dabei, die neuen Daten politisch zu bewerten. Die Kulturjournalistin Alissa Wilkinson bezog sich dabei auf Hannah Arendts Diktum, dass Freundschaft das beste Gegenmittel für Autoritarismus sei. Am Ende ihres 1951 zunächst in den USA erschienenen Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft postuliert Arendt, dass im 20. Jahrhundert eine neue Form von Einsamkeit die Menschen im Westen befallen habe und sie daraufhin in neuen säkularen Kulten ihr Heil suchten. »Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt«, schreibt Arendt, »ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit«. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Da die Menschen im 21. Jahrhundert immer mehr vereinsamten, lauere die gleiche totalitäre Versuchung auch heute wieder.
Denjenigen, die Sozialwissenschaften studiert haben, mag diese Analyse sehr vertraut sein: Sie steht im Fokus von Robert Putnams Buch Bowling Alone aus dem Jahr 2000, einem Klassiker der Politikwissenschaften. Darin identifiziert der Autor ein merkwürdiges Muster: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begannen in den USA immer mehr Menschen, bowlen zu gehen – aber sie taten das zunehmend allein, was sich am direktesten durch den plötzlichen Niedergang vieler Bowling-Ligen erklären ließ. Diese Krise beschränkte sich aber keineswegs auf Sportvereine. Ob Kirchen, Gewerkschaften, Schützenvereine oder Freimaurerlogen – sie alle erlebten in den 1980er und 90er Jahren einen dramatischen Mitgliederschwund und begannen sich aufzulösen. Was blieb, war eine soziale Einöde.
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