07. Mai 2025
Ohne die Stimmen der Linken hätte es gestern keinen zweiten Wahlgang gegeben, um Friedrich Merz zum Bundeskanzler zu machen. Doch die neue staatspolitische Relevanz ist teuer erkauft.
Heidi Reichinek gratuliert Friedrich Merz im Bundestag, 06. Mai 2025.
Die Linke scheint angekommen zu sein. Sie ist mittendrin im politischen Berlin. Am Dienstag führte kein Weg mehr an der Partei vorbei, die noch vor wenigen Monaten am Abgrund stand. Selbst die Union, die sich seit Jahren gleichermaßen von der Linken und der AfD abgrenzt, musste zum Telefon greifen – um die Linkspartei um Hilfe zu bitten, damit Union und SPD Friedrich Merz doch noch zum Kanzler wählen zu können.
Nachdem Merz im ersten Wahlgang scheiterte, war eine Änderung der Geschäftsordnung notwendig, um noch am selben Tag eine zweite Abstimmung zu ermöglichen. Dafür brauchte es eine Zweidrittelmehrheit. Die Linke stand bereit, brachte gemeinsam mit Union, SPD und Grünen den Antrag ins Plenum ein und erfüllte damit die entscheidende Voraussetzung für die Wahl von Friedrich Merz. Gegenüber der ARD sagte Heidi Reichinnek, die Linke sei stets gesprächsbereit gegenüber der Union gewesen, und man habe mit dem heutigen Tag gezeigt: »Wir können gemeinsame Anträge stellen.« Die Linke war also relevant, aber um welchen Preis?
Die Argumente das gemeinsame Agieren mit der Union sind vielfältig: Es gehe nur ein formales Vorgehen, hieß es etwa. Intern scheint auch der anstehende Parteitag in Chemnitz eine Rolle gespielt zu haben: Eine Wahl von Friedrich Merz am Freitag hätte den Verlauf des Parteitags erheblich gestört. Außerdem heißt es, man hätte die Wahl höchstens um ein paar Tage verzögert, Friedrich Merz wäre so oder so gewählt worden. Das mag stimmen. Oder auch nicht.
Die drei Tage, die laut Geschäftsordnung zwischen erstem und zweitem Wahlgang hätten liegen müssen, wären für Merz womöglich die längsten seines politischen Lebens geworden. Internen Druck hätte es sicherlich gegeben, vielleicht hätte er die Tage politisch nicht überlebt. Aber selbst wenn Merz am Ende trotzdem gewählt worden wäre, bleibt die Frage: Warum springt Die Linke beim ersten offiziellen Ruf der Union sofort? Dass Merz nicht über das nötige Vertrauen verfügt, ist schließlich ein politisches Signal. Stattdessen präsentierte sich Die Linke staatstragend, half Union und Merz aus der Patsche – und ebnete der schwarz-roten Koalition, die sie selbst als Regierung der Ausgrenzung kritisiert, den Weg ins Amt.
Die Ereignisse am Dienstag reihen sich ein in eine Tendenz, die seit den Wahlen zu beobachten ist: Die Linke scheint sich, allen sozialpopulistischen Tönen zum Trotz, in die Mitte zu bewegen. Das zeigte sich bereits im März, als die Landesregierungen von Mecklenburg-Vorpommern und Bremen im Bundesrat für eine Lockerung der Schuldenbremse zugunsten militärischer Aufrüstung stimmten. Beide Regierungen sind von der Linken mitgetragen, und gemäß des Vetorechts hätten die jeweiligen Landesverbände problemlos eine Enthaltung erwirken können – so wie es Brandenburg und Thüringen unter dem Einfluss des BSW taten. Auch Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz enthielten sich – dort aus FDP-internen Gründen.
Die Zustimmung der Linken wurde mit landespolitischer Verantwortung begründet. Trotz enger Abstimmung mit den Landesverbänden setzte man sich über die Parteispitze hinweg. Diese reagierte auffallend zurückhaltend und erklärte später lediglich, das Abstimmungsverhalten sei falsch gewesen, »ein solcher Vorgang sollte sich nicht wiederholen«. Man sei eine lernende Partei und schaue nach vorn, hieß es lapidar. Von Konsequenzen ist nichts bekannt.
»Nach außen entsteht der Eindruck: Man will dazugehören, und wird nicht müde zu betonen, wie konstruktiv und staatstragend man ist.«
Auch in einem anderen Bereich wird die Annäherung an das liberale Establishment sichtbar: im Kampf gegen Rechts. Deutlich wird das bereits daran, wie unkritisch sich Politikerinnen und Politiker der Linken in die Formel der »demokratischen Parteien« einreihen – gemeint sind alle außer der AfD. Diese Trennung in demokratische und nicht-demokratische Parteien hat einen fragwürdigen Doppeleffekt.
Erstens betont die Rede von den demokratischen Parteien eine Gegensätzlichkeit zwischen AfD und Union, die zwar formal-organisatorisch mit der Brandmauer besteht, inhaltlich aber, etwa in der Migrationspolitik, zunehmend verschwimmt. Linke selbst weisen regelmäßig auf diese Entwicklung hin.
Zweitens rückt sich Die Linke durch die Selbsteingemeindung ins sogenannte demokratische Spektrum symbolisch näher an die anderen Parteien heran. Nach außen entsteht der Eindruck: Man will dazugehören, und wird nicht müde zu betonen, wie konstruktiv und staatstragend man ist.
Gerade das Thema Antifaschismus, das vermutlich wesentlich zum überraschend guten Bundestagswahlergebnis im Februar beitrug, eignet sich besonders für jene Linke, die sich vom liberalen Zentrum angezogen fühlen. Dahinter steckt, bewusst oder unbewusst, ein Volksfront-Denken. Die Idee: mit möglichst allen nicht-faschistischen Kräften gemeinsam die sogenannte liberale Demokratie verteidigen.
Diese Strategie ist nicht per se falsch. In Situationen höchster Not, wenn sich die Etablierung einer faschistischen Diktatur etwa konkret abzeichnet, kann sie richtig sein. Angesichts der deutschen Geschichte ist nachvollziehbar, dass Linke nicht »zu spät« auf eine Volksfront-Strategie setzen wollen. Doch der Preis kann hoch sein: Wird eine solche Strategie zu früh oder unangemessen verfolgt, kann sie mittel- und langfristig zur schleichenden Aufgabe der eigenen Handlungsfähigkeit führen. Je enger die Anbindung an das Establishment ist, desto größer die Gefahr, dass eigene Grundsätze aufgeweicht werden.
»Dabei ist die Entwicklung innerhalb der Partei keineswegs unumstritten. Auch in der Fraktion ist der Kurs heftig umkämpft.«
Eigentlich lehnt Die Linke den Inlandsgeheimdienst ab und fordert dessen Auflösung. Doch wenn es um die AfD geht, wird der Verfassungsschutz plötzlich als Kronzeuge herangezogen. Als am Freitag bekannt wurde, dass die AfD nun offiziell als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, verkündete Heidi Reichinnek: »Ab heute darf es keinen Zweifel mehr daran geben, dass die AfD die größte Gefahr für unsere Demokratie und unser Land ist.« Dass der Verfassungsschutz – strukturell wie historisch – alles andere als eine Institution ist, auf die sich Linke verlassen sollten, scheint im Zuge der Establishmentisierung in Vergessenheit zu geraten.
Dabei ist die Entwicklung innerhalb der Partei keineswegs unumstritten. Auch in der Fraktion ist der Kurs heftig umkämpft. Die Entscheidung, Merz durch eine gemeinsame Initiative mit SPD, Grünen und Union einen zweiten Wahlgang zu ermöglichen, war in der Fraktion offenbar alles andere als eindeutig: Die Ja-Stimmen überwogen nur knapp. Die Fraktionsspitze sprach sich für das gemeinsame Vorgehen aus und wurde unterstützt. Bodo Ramelow schrieb später auf X, man habe Friedrich Merz nicht gewählt, aber »den Wahlgang ermöglicht, um die Demokratie schützen«. Das Argument scheint verfangen zu haben.
Ob es einen offenen Deal mit der Union gab, ist bislang unklar. Der Journalist Tilo Jung behauptete zunächst, es gebe ein solches Abkommen. Die Union solle im Gegenzug den Unvereinbarkeitsbeschluss aufheben. Kurz darauf korrigierte er sich. Es habe keinen Deal gegeben. Auch die Union bestreitet einen Deal. Und doch: In der Union hat sich seit den Gesprächen viel verschoben. Der sonst nicht eben linkenfreundliche mächtige Kanzleramtsminister Thorsten Frei zeigte sich heute offen für eine Neubewertung des Verhältnisses zur Linkspartei.
Wer genau hinhörte, konnte am Dienstag Hinweise auf vertrauliche Absprachen entdecken. Gegenüber der Medien sagte Julia Klöckner, die Linke habe auch deshalb dem gemeinsamen Antrag zugestimmt, weil eine ordnungsgemäße Abstimmung drei Tage später mit dem ersten Tag des Bundesparteitags der Linken in Chemnitz zusammengefallen wäre – ein Argument, das bis dahin nur in parteiinternen Gesprächen auftauchte.
Nicht nur bei der Union ist etwas ins Rutschen gekommen. Die Parteichefin und frühere JACOBIN-Chefredakteurin Ines Schwerdtner wird heute in allen Medien zitiert: »Ich erwarte von der Union, dass sie sich nicht nur meldet, wenn die Hütte brennt, sondern auch bei anderen politischen Entscheidungen, wenn eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist.«
Letzten Endes geht es nicht nur um fragwürdige Kommunikationsstrategien oder eine problematische Taktik im Umgang mit Merz und der Union – das Problem reicht tiefer: Aufgrund der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erscheint vielen in der Linken derzeit die Verteidigung des Bestehenden gegen Rechts die einzige realistische linke Strategie zu sein. Es fehlt eine Perspektive, mit der man aus der Defensive herauskommt, wie man nicht nur reagiert, sondern wieder offensiv eigene Konzepte in den Mittelpunkt stellt, die nicht nur mehr Wohngeld und einen höheren Mindestlohn fordern, sondern das Ziel vor Augen haben, diese Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Die Gefahr der Establishmentisierung, die sich in den vergangenen Tagen verstärkt hat, könnte im besten Fall ein Anlass sein, endlich die Diskussion über eine langfristige Strategie sozialistischer Politik zu eröffnen. Vielleicht beginnt sie beim kommenden Parteitag in Chemnitz.
Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg.