10. September 2025
Der Bundestagswahlkampf der Linken inspirierte zehntausende Menschen, in die Partei einzutreten. Wie werden sie an der Basis empfangen?
»Ich habe den Eindruck, dass wir uns angesichts der immer stärker werdenden rechten Strömungen an einem entscheidenden politischen Wendepunkt befinden. Dieser Entwicklung möchte ich nicht tatenlos zusehen – ich will aktiv dagegenhalten und mich für eine offene, solidarische und demokratische Gesellschaft engagieren. Bisher habe ich bei keiner Partei das Gefühl gehabt, dass sie mein Wertesystem so konsequent widerspiegelt, dass eine Mitgliedschaft für mich infrage gekommen wäre. Anders bei der Linken. Ich möchte mich in unserem Bezirkskreis Charlottenburg-Nord dafür einsetzen, konkrete positive Veränderungen anzustoßen – sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene.«
Die Linkspartei steht vor einem Problem, das sich die Genossen noch vor einem Jahr nicht hätten erträumen können: über 50.000 Neumitglieder in nur sechs Monaten. Natürlich, die Verdopplung der Mitgliederzahlen seit Ende 2024 – damals waren es noch 58.000, heute sind es 115.000 – ist mehr Luxus als Problem. Denn der Hype um die Linke sorgte im Frühjahr nicht bloß für neue Einträge in der Mitgliederkartei oder einen Anstieg der Mitgliedsbeiträge. Es waren eben genau diese Neumitglieder, die im Bundestagswahlkampf 600.000 Haustürgespräche möglich machten, in ihrem Freundeskreis und auf Social Media für die Partei warben, kurz, die Linke wieder cool machten und damit maßgeblich zum 8,7-Prozent-Erfolg der Partei beitrugen.
Und hier das Problem – oder genauer die zwei Probleme, vor denen die Linke jetzt steht: Will sie den Hype, der vor der Bundestagswahl entstanden ist, für die kommenden Wahlen aufrechterhalten, dürfen die Neumitglieder nicht zu Karteileichen werden. Sie müssen dauerhaft in die Parteistrukturen integriert werden – Strukturen, die in vielen Kreisverbänden, wo es vor einem Jahr kaum noch aktive Mitglieder gab, gelinde gesagt marode sind.
Dazu kommt: Ein großer Teil der Neumitglieder ist jung, politisch unerfahren, und ob sie links im Sinne der Linkspartei sind, lässt sich noch nicht so sicher sagen. Das Spektrum ist zumindest groß – von Linksautonomen, die vergangenes Jahr bei einem Großaufruf aus der Szene beigetreten sind, über Menschen, die noch nie zuvor politisch aktiv waren, bis hin zu ehemaligen Aktiven von SPD und Grünen. Die Partei muss also diejenigen, Partei also diejenigen, die in den Parteistrukturen aktiv werden, »auf Linie bringen«, ohne die Neumitglieder direkt wieder zu vergraulen, oder sich mittel- und langfristig von neuen Linienkonflikten an der Basis überraschen lassen.
Wie läuft also knapp ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl der Organisationsaufbau in der Linkspartei? Wer sind die neuen Aktiven und Nicht-Aktiven und welche Positionen bringen sie mit? Und wird die Linke »der großen Masse der Neumitglieder« tatsächlich ein »ABC des Marxismus« vermitteln, wie die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner ankündigte?
Wir stehen vor einem Jugendzentrum in Charlottenburg-Wilmersdorf, es ist Samstag und es ist heiß. An der roten Steinmauer des Gebäudes sind Hakenkreuze angemalt. »Hast du mal ’nen Edding?«, fragt eines der neuen Linkenmitglieder, das zur Aktivenkonferenz des Bezirksverbands gekommen ist und übermalt das Nazisymbol: linkeMinimalpraxis, auf die sich hier mit Sicherheit alle einigen können.
Charlottenburg-Wilmersdorf ist keine Nazihochburg; die AfD kam hier bei der Bundestagswahl gerade mal auf 8 Prozent. Hier regiert seit vielen Jahren die CDU, gefolgt von Grünen und SPD als zweit- und drittstärkste Kraft. Westberlin halt. Die Linke konnte ihr Ergebnis allerdings gegenüber der Bundestagswahl 2021 verdoppeln – von 5,6 auf 14 Prozent – und ihre Mitglieder in nur einem Jahr verdreifachen – von über 200 auf mehr als 800 Mitglieder.
Im Eingang des Backsteingebäudes geht es hektisch zu. Eine junge Frau baut ein Büfett mit etwa siebzehn verschiedenen selbstgekochten Speisen auf. Jemand aus dem Orga-Team trägt Colaflaschen rein – Palestinecola, eine der neuen Softdrinkmarken, die seit dem 7. Oktober als Alternativen zu Coca-Cola wegen Zusammenarbeit mit Israel aufgeploppt sind. Linke Minimalpraxis, auf die sich hier schon nicht mehr alle einigen können, wie ich später erfahren werde.
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Pauline Jäckels ist Journalistin und Redakteurin im Meinungsressort der »Taz«.