02. März 2022
In diesem Krieg ist es unsere Aufgabe als Sozialistinnen und Sozialisten, uns bedingungslos mit den Opfern und Betroffenen zu solidarisieren.
Zerstörte Häuser in Butscha nach dem Beschuss durch die russische Armee, 27. Februar 2022.
Inzwischen werden wir alle Dutzende Kommentare zur russischen Invasion in der Ukraine gelesen haben. In manchen Kreisen ist eine kaum verborgenene, erschreckende Freude darüber zu vernehmen, dass es nun zu einem wirklichen Kampf der Zivilisationen komme. Hier in Großbritannien begrüßen einige die Situation – endlich könne man den eigenen Kampfgeist und die Loyalität zur NATO unter Beweis stellen. Abseits solcher Positionen ist aber auch viel Richtiges gesagt worden.
David Broder zum Beispiel hat völlig recht damit, wenn er schreibt, dass es grotesk ist der Labour-Linken in diesen Tagen eine Nähe zu Putin nachzusagen. Als wäre es unsere Partei, die Spenden von russischen Oligarchen erhält, und nicht die Tories; als wäre es nicht Jeremy Corbyn gewesen, der auf eine ordnungsgemäße Umsetzung des sogenannten Magnitski-Gesetzes drang, um in Großbritannien gebunkertes, mit kriminellen Aktivitäten verbundenes russisches Kapital zu sanktionieren – und dafür von der Tory-Regierung verlacht wurde; als hätten diejenigen, die den Irakkrieg unterstützt haben, irgendein Recht, über eine Invasion entsetzt zu sein, die eindeutig dessen Vorbild folgt – von den absurden, fabrizierten Vorwänden bis hin zum Macho-Zynismus der politischen Führung.
Bei all dem darf man aber nicht aus den Augen verlieren, was in der Ukraine geschieht und was diese schreckliche Invasion für diejenigen bedeutet, die am meisten unter ihr Leiden – die Ukrainerinnen und Ukrainer.
Anders als führende Politikerinnen und Politiker in Großbritannien zu glauben scheinen, ist die Ukraine nicht mit dem »tapferen kleinen Belgien« zu vergleichen, das sich 1914 gegen die deutsche Invasion zur Wehr setzte. Die Ukraine ist ein schrecklich armes Land, das sich wirtschaftlich nie vom Zusammenbruch der Sowjetunion erholt hat und in den letzten acht Jahren einem grausamen, blutigen und angeblich »begrenzten« Krieg ausgesetzt war (in dem 14.000 Menschen getötet wurden). Nun werden ukrainische Städte von einem riesigen, mit Atomwaffen ausgestatteten Petrostaat angegriffen, der von einer skrupellosen rechten Regierung geführt wird, welche an die Macht kam, nachdem sie Tschetschenien unter dem Beifall des Westens in die Steinzeit zurückgebombt hatte. Diese Invasion ist ein Kriegsverbrechen, und ein Kriegsverbrechen ist ein Kriegsverbrechen ist ein Kriegsverbrechen.
Ich gebe zu, dass es mich auch persönlich berührt. Ich kenne die Ukraine gut. Ich habe Freundinnen und Freunde, die in Kiew, Charkiw und Dnipro in U-Bahn-Stationen und den Kellern von Wohnblocks Schutz suchen, während ich diesen Text schreibe. Und ich kann nichts tun, außer ihnen sinnlose Nachrichten zu schicken, in denen ich sie frage, ob bei ihnen alles in Ordnung ist, obwohl ich weiß, dass es das natürlich nicht ist.
Ich begann 2010, regelmäßig in die Ukraine zu reisen, da ich mich mit der ukrainischen Architekturgeschichte der 1920er Jahre beschäftigte. Zu jener Zeit war das Land ein globales Zentrum der sozialistischen Avantgarde, mit futuristischen Dichterinnen, konstruktivistischen Designern, brillanten Filmemacherinnen und modernistischen Architekten, die davon träumten, dass die Weltrevolution durch Städte wie Charkiw, Odessa und Kiew in den Westen überschwappen würde. Realisiert hat sich dieser Traum nicht. Die Bewegung wurde in den 1930er Jahren von Stalin zerschlagen. Ich habe mich in der Ukraine schnell mit einigen der vielen Menschen angefreundet, die zu denselben Themen arbeiten, und diese Freundschaften begleiten mich bis heute.
Ich bin mir sicher, dass gewisse Zyniker diese Menschen spöttisch als »NGO-Linke« abtun würden. Wir haben jedoch einige ihrer Texte bei Tribune veröffentlicht. Sie haben versucht, das Thema Geopolitik so gut wie möglich zu umschiffen – und konnten es doch nie ganz vermeiden. Sie arbeiten in Institutionen wie dem Visual Culture Research Center in Kiew, dem Urban Forms Center in Charkiw und der Galerie Isolyatsia, die ursprünglich in Donezk ihren Sitz hatte und nach Kiew umziehen musste, als in ihrer Heimatregion 2014 eine Farce von einer »Volksrepublik« ausgerufen wurde.
Sie alle haben 2014 den Aufstand in Kiew unterstützt, um einen unfassbar korrupten kapitalistischen Gangster zu stürzen – aber niemand von ihnen legte große Hoffnungen in einen EU-Beitritt, außer dass dieser ihnen das Reisen und Arbeiten im Ausland erleichtern würde. (Und das ist kein unbedeutender Wunsch: Ich erinnere mich, wie ein Freund von mir für eine Vorlesung an einer britischen Universität mit Büchergutscheinen bezahlt wurde, weil er in Großbritannien gesetzlich kein Honorar beziehen durfte.) Sie waren eingezwängt zwischen zwei Fronten: dem »westlichen« rechtsextremen Nationalismus, der von Europa und den USA finanziert und von der ultranationalistischen Privatarmee Rechter Sektor und später vom Asow-Bataillon verkörpert wurde, und einem »östlichen« rechtsextremen Nationalismus in Gestalt der »Volksrepubliken«, die von Hohlköpfen wie dem Separatistenführer Igor Strelkow gegründet wurden.
Die Ausstellungen meiner Freundinnen und Freunde sind von Anhängern beider dieser konkurrierenden Gruppierungen angegriffen und aufgelöst worden. Wie die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, so haben auch die meisten von ihnen 2019 gegen den zunehmend nationalistischen Oligarchen Petro Poroschenko und sein Programm »Armee, Sprache, Glaube« gestimmt und wählten stattdessen – wenn auch nicht aus Überzeugung – Wolodymyr Selenskyj, den jüdischen, russischsprachigen Präsidenten, dem Putin nun unterstellt, er sei ein »Nazi«, unter dessen Aufsicht ein »Völkermord« an der russischen Sprachgemeinschaft in der Ukraine begangen würde.
Selbst an postsowjetischen Maßstäben gemessen hatte die Ukraine Pech mit ihren politischen Anführern. In der Regel waren es gaunerhafte Kapitalisten mit oder ohne Verbindungen zum organisierten Verbrechen, ob sie nun »pro-westlich« waren und Juschtschenko und Poroschenko hießen oder »pro-russisch« und die Namen Kutschma und Janukowitsch trugen. Sie hatte außerdem Pech mit ihren vermeintlichen Verbündeten in den westlichen Medien und in der westlichen Politik, die ihre vom Kalten Krieg ererbten Fantasien mit Vorliebe anhand der Ukraine auslebten. Ihr größtes Unglück aber ist, dass sie im Osten eine schwer bewaffnete, paranoide und niederträchtige Regierung als Nachbarn hat.
Ich kenne die Ukraine als ein wunderschönes, eindrucksvolles und intrinsisch multikulturelles Land voller interessanter Menschen, die gerne eine Gesellschaft aufbauen würden, in der soziale Gerechtigkeit und Fairness statt Willkür vorherrschen. Einige mögen vielleicht an der jüngeren Geschichte des Landes anknüpfen, andere nicht. Bisher waren ihre Bemühungen jedoch vergeblich und sie mussten dabei zusehen, wie ihr Land von seinen Nachbarn zu einem Boxsack und von seinen eigenen Machthabern zu ihrem persönlichen Geldbeutel gemacht wurde.
Ich kann mir keine Zukunft vorstellen, in der dieser Krieg für diese Menschen nicht alles noch schlimmer macht. Die kleine, aber schwer bewaffnete extreme Rechte hingegen kann sich freuen, dass die Vorhersagen, welche die westliche Linke (mich eingeschlossen) stets für übertrieben gehalten haben, wahr geworden sind – nämlich dass Russland buchstäblich in die Ukraine einmarschieren, dem Land das Existenzrecht als souveräner Staat absprechen und versuchen würde, einen Regimewechsel zu erzwingen.
Auf diesen letzten Punkt möchte ich zum Abschluss noch etwas eingehen. In seiner ungezügelten, ekelerregend selbstmitleidigen Rede am 21. Februar machte Wladimir Putin keinen anderen als Wladimir Lenin für die Existenz der Ukraine verantwortlich. Die Wurzel des Problems sei, dass Lenin in den frühen 1920er Jahren darauf beharrte, dass die Ukraine, wie alle Republiken der Sowjetunion, das Recht auf Autonomie, das Recht auf ihre eigene Sprache und das Recht auf Sezession haben sollte. Das vertrat er entgegen den »großrussischen Chauvinisten« unter den Bolschewiki; darüber stritt er noch auf seinem Sterbebett mit Stalin.
Es wird mitunter behauptet, Lenin habe dies lediglich aus realpolitischen Gründen getan, um kleinere Nationen – von denen einige, wie die Ukraine, während des Bürgerkriegs von 1918 bis 1921 kurzzeitig unabhängig waren – an das sowjetische Projekt zu binden. Das ist sicherlich ein Teil der Wahrheit. Für Lenin war es aber auch eine Frage des Prinzips.
Lenin war entsetzt darüber, wie sich linke und proletarische Organisationen dem Imperialismus ihrer eigenen Länder anschlossen – ob nun die SPD 1914 für Kriegskredite stimmte, die englische Linke dabei zusah, wie der irische Sozialist James Connolly nach dem Scheitern des Osteraufstands von 1916 an einen Stuhl gefesselt und erschossen wurde, oder einige Bolschewiki 1922 großrussischen Fantasien verfielen. Lenin bestand darauf, dass »derjenige russische Sozialist, der nicht für die Freiheit der Lostrennung der Ukraine … kämpft …, nur in Worten Sozialist und Internationalist ist, in der Tat aber Chauvinist und Annexionist«, so wie für ihn auch der britische Sozialismus ohne die irische Unabhängigkeit bedeutungslos war. Er machte in scharfen Worten deutlich, dass man die nicht-russische Bevölkerung schützen müsse vor dem »großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäter«. Und er fuhr fort:
»Deshalb muß der Internationalismus seitens der unterdrückenden oder sogenannten ›großen‹ Nation (obzwar groß nur durch ihre Gewalttaten …) darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der Nationen zu beachten, sondern auch solch eine Ungleichheit anzuerkennen, die seitens der unterdrückenden Nation, der großen Nation, jene Ungleichheit aufwiegt, die sich faktisch im Leben ergibt. Wer das nicht begriffen hat, der hat die wirklich proletarische Einstellung zur nationalen Frage nicht begriffen, der ist im Grunde auf dem Standpunkt des Kleinbürgertums stehengeblieben und muß deshalb unweigerlich ständig zum bürgerlichen Standpunkt abgleiten.«
Der ukrainische Nationalismus in seiner rechtsextremen Variante war in den 1940er Jahren außerordentlich brutal, doch außerhalb der westukrainischen Gebiete, welche die Sowjetunion von Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei annektiert hatte, blieb er eine Randerscheinung. Dieser Nationalismus hatte nichts mit der Unabhängigkeit der Ukraine zu tun, die 1991, nach dem Augustputsch in Moskau, in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit befürwortet wurde. Die Unabhängigkeit wurde im ganzen Land, von Lwiw bis Donezk, unterstützt. Denn unabhängig davon, ob ihre Muttersprache nun Ukrainisch oder Russisch war, wollten die Menschen nicht länger an ein Russland gebunden sein, das in einen Großmachtnationalismus abdriftete. Wer kann behaupten, dass sie sich geirrt haben?
Die Ukraine ist nur in dem Sinne ein künstliches Gebilde, wie auch jeder andere Staat ein künstliches Gebilde ist, und sie ist so real, wie auch alle anderen Länder real sind. Sie hat das gleiche Existenzrecht und das gleiche Recht auf Frieden wie alle anderen. Das sollte für Sozialistinnen und Sozialisten eine Selbstverständlichkeit sein. Deshalb sollten wir auf Demonstrationen gehen, die ein Ende des Krieges fordern, und alles in unserer Macht stehende tun, um die Menschen zu unterstützen, die in Russland gegen diesen schrecklichen Krieg protestieren. Viel tun können wir nicht. In einer Welt, die offenbar ausschließlich von Gerontokraten regiert wird, die den Zweiten Weltkrieg wiederholen wollen, ist die Linke – die fast nirgends an der Macht ist – zur Hilflosigkeit verurteilt. Bei einem darf aber kein Zweifel bestehen: Solidarität mit den Menschen in der Ukraine muss unsere oberste Priorität sein.
Owen Hatherley ist der Kulturredakteur von »Tribune« und Autor mehrerer Bücher, darunter »The Adventures of Owen Hatherley in the Post-Soviet Space« (Repeater, 2018).
Owen Hatherley ist Culture Editor bei »Tribune« und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt ist von ihm »Red Metropolis: Socialism and the Government of London« bei Repeater erschienen.