14. Januar 2022
Wladimir Putin zu verteidigen ist nicht links. Aber ebenso wenig ist die NATO ein Friedensprojekt. Die Linke muss sich für einen eigenen Kurs entscheiden.
Wladimir Putin, Januar 2022.
Unter Wladimir Putin ist Russland im Jahr 2008 in Georgien einmarschiert. 2014 folgten die Annexion der Krim-Halbinsel und der Krieg in der Ostukraine. Seit 2015 hält Russland kraft seiner Luftwaffe den syrischen Diktator Bashar al-Assad an der Macht. All diese Handlungen dienten eigenen russischen Machtinteressen, waren aber auch klar gegen die USA, die NATO und die EU gerichtet. Wer das von der linken Warte aus beobachtet und Russland ausschließlich als Opfer westlicher Politik sieht, der lässt sich von alten Denkgewohnheiten blenden.
In der Sprache des Antiimperialismus gesprochen: Russland ist keine hilflose Zielscheibe imperialistischer Politik, sondern selbst imperialistischer Akteur. Viel weiter kommt man mit den klassischen antiimperialistischen Kategorien aber nicht. Besser ist es, in machtpolitischen Gegensätzen zu denken und nüchternen Realismus zu pflegen. So auch in der aktuellen Ukrainekrise.
Bereits vor einem Jahr hatte Russland Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Im vergangenen November wiederholte sich das Schauspiel. Aktuell stehen bis zu 100.000 russische Soldaten bereit. Das reicht nicht, um die Ukraine als Ganzes einzunehmen, was auch kein ernsthafter Beobachter behauptet. Aber für ein wenig Landnahme in der Ostukraine reichte es schon.
Die Regierung Putins verlangt von der NATO ein Ende der Osterweiterung – die Beitrittsangebote an die Ukraine und Georgien müsse aufgehoben werden. Außerdem dürfe die NATO keine Waffen in Polen oder im Baltikum stationieren. Allzu abwegig klingen diese Forderungen wahrlich nicht. Wie würden die USA reagieren, wenn Kanada oder Mexiko einem Sicherheitsbündnis mit Russland beitreten wollten, eventuell gar mit russischen Raketen ihrer Grenze?
Das Problem ist, dass die internationale Politik aus Sicht der Mächtigen wie ein Schulhof ohne Lehreraufsicht funktioniert: Der Stärkere gewinnt. Die USA werden sich deshalb von Russland keine Forderungen diktieren lassen, selbst wenn diese im Prinzip nachvollziehbar sind. Michael O`Hanlon, Politikwissenschaftler am einflussreichen Brookings Institute in Washington, bringt das Dilemma so auf den Punkt: »Die Ukraine und Georgien sollten nicht teil der NATO sein – auch wenn Moskau das nicht für sie entscheiden darf.«
In Washington ist nach den imperialen Abenteuern im Irak und in Afghanistan der Appetit auf militärische Eskalation in weit entfernten Ländern gesunken. Zumindest in Weltteilen, die nicht mehr als strategisch zentral erachtet werden. Putin weiß, dass die USA wegen der Ukraine keinen direkten Krieg mit Russland riskieren werden. Europa, der zahnlose Nachbar, spielt ohnehin keine Rolle. Denn ohne russisches Erdgas wird es zumindest in Deutschland kalt. Die Grundfrage der aktuellen diplomatischen Verhandlungen wird also sein, ob die USA und in ihrer Gefolgschaft die anderen NATO-Staaten den russischen Forderungen ausreichend entgegenkommen können, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.
Katrina vanden Heuvel, Redakteurin bei der progressiven Zeitschrift The Nation und Kolumnistin bei der Washington Post, argumentiert, dass die Regierung von Joe Biden Russland eine gegenseitige Neutralitätsgarantie für die Ukraine anbieten sollte. Anstelle von »loose talk« über eine potenzielle NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Waffen für Kiev sollten die USA und die NATO sich damit einverstanden erklären, keine Truppen oder Offensivwaffen in ehemaligen Sowjetrepubliken zu stationieren. Im Gegenzug muss Russland garantieren, dass es keinem osteuropäischen Land Gewalt androhen wird. Dies wäre ein gegenseitiges Abkommen im Geiste der UN-Charta, die Souveränität der Länder Osteuropas zu respektieren.
Vanden Heuvel verweist auf George F. Kennan, den berühmten US-Diplomaten, dessen Telegramm aus Moskau einst die Eindämmungspolitik des Kalten Krieges begründete. Kennan, ein kalter Realist, aber kein Kriegstreiber, war gegen die Osterweiterung der NATO, weil diese, wie er richtig vorhersagte, Russland verunsichern und zu Konfrontation führen würde.
Für die meisten Linken ist klar, was von der NATO-Osterweiterung seit Ende des Kalten Krieges zu halten ist: nichts. Sie würden dem Diplomaten Kennan zustimmen. Die NATO war ein von den USA geführtes und gegen die Sowjetunion gerichtetes Militärbündnis. Die Sowjetunion löste sich auf, die NATO nicht. Stattdessen erweiterte sie sich Richtung Osten. Zwischen 1999 und 2020 traten insgesamt 14 osteuropäische Staaten der NATO bei. Georgien und der Ukraine wurde beim NATO-Gipfel von 2008 die Aussicht auf eine zukünftige Mitgliedschaft eröffnet.
Russland fühlt sich von der NATO-Osterweiterung bedroht und hintergangen. Der im Westen geschätzte Michail Gorbatschow sah sich seinerzeit persönlich betrogen. Verständlich, denn als nach dem Mauerfall die Zukunft besprochen wurde, haben die westlichen Mächte Russland zugesichert, NATO nicht zu erweitern.
Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Befürworter der NATO-Osterweiterung führen an, dass niemand die osteuropäischen Staaten gezwungen hätte, dem Militärbündnis beizutreten. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Die NATO drängt niemanden zum Beitritt. Vielmehr handelt es sich um Beitrittsgesuche demokratisch gewählter Regierungen. Dass sich diese Länder Sicherheitsgarantien gegen Russland einholen wollen, das sie über Jahrzehnte und zum Teil Jahrhunderte dominiert hat, ist nicht unbedingt überraschend.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein hohes – und auch ein linkes – Gut. Darüber hinaus muss die Linke um die Prosperität und den sozialen Fortschritt in dieser Region besorgt sein, die in den letzten Jahrzehnten in beiderlei Hinsicht schwer gelitten hat. Die geopolitische Eskalation hilft aber nicht den Menschen, sondern befestigt nur die Herrschaft Putins in Russland und nicht weniger nationalistischer Kräfte in den Ländern Osteuropas. Und auch in den USA legitimiert sie die immer weitere Hochrüstung des Militärs mit Mitteln, die der sozialen Infrastruktur vorenthalten werden.
Der Kalte Krieg ist lange vorbei. Aber der liberale Triumphalismus, der nach seinem Ende die westliche Politik beflügelte, ist es mittlerweile auch. Die Aufgabe ist jetzt, eine linke Außenpolitik für die anbrechende Zeit nach der westlichen Hegemonie zu entwickeln.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.