19. Juli 2023
Bildung hilft beim persönlichen Aufstieg – aber sie schafft Armut nicht ab.
»Mehr als die Hälfte aller Vermögen in Deutschland sind geerbt.«
Illustration: Sandro RybakIn Äsops Fabel von der Heuschrecke und der Ameise verbringt die Ameise den Sommer damit, fleißig Vorräte für den Winter zu sammeln, während die Heuschrecke auf der faulen Haut liegt und das Leben genießt. Im Winter hungert dann die Heuschrecke und muss bei der Ameise um Essen betteln.
Dem Soziologen Erik Olin Wright zufolge verbildlicht diese Geschichte, wie viele Liberale und manche Konservative heute über Klassenunterschiede nachdenken: Menschen haben demzufolge Erfolg im Leben, weil sie sich mehr angestrengt und mehr geleistet haben, weil sie eine besonders gute Idee hatten und so weiter. Im Kapitalismus wird der Lebensweg nicht mehr durch den Stand vorgegeben, sondern die Menschen haben ihr Schicksal selbst in der Hand, so heißt es.
Dabei ist die Annahme, der Kapitalismus sei eine Meritokratie – das heißt eine Leistungsgesellschaft – geradezu absurd. Kaum vorstellbar, dass jemand das ehrlich glauben und nicht nur aus zynischem Eigennutz behaupten könnte. Schließlich müsste offensichtlich sein, dass der Reichtum eines Jeff Bezos in keinem Verhältnis zu irgendeiner menschenmöglichen Mehrleistung steht. Niemand arbeitet Millionen Mal so viel oder so hart wie jemand anderes.
Mehr als die Hälfte aller Vermögen in Deutschland sind geerbt. Jedes Jahr werden Summen in der Größenordnung von 10 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dieser Fakt allein zeigt, dass nicht alle Menschen von Geburt an die gleichen Erfolgschancen im Leben haben.
Solche unverdienten Vorteile gibt es nicht nur in Form direkter Geldgeschenke. Ein Kind, das in einer armen Nachbarschaft aufwächst, dessen Eltern all ihre Energie darauf verwenden, Essen auf den Tisch zu bringen und ihrem Nachwuchs deshalb nicht jeden Abend bei den Hausaufgaben helfen und etwas vorlesen können, wird in der Folge vielleicht von seinen Lehrerinnen und Lehrern auf eine schlecht ausgestattete Regionalschule sortiert. Dort macht es dann einen Hauptschulabschluss, nur um hinterher herauszufinden, dass es in der Gegend keine guten Berufsaussichten gibt.
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