22. April 2022
Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel stößt bei manchen Linken auf Skepsis. Dabei ist diese Art der Besteuerung ungerecht.
Kundinnen und Kunden in einem Supermarkt in Kraków, Polen.
Eigentlich müsste man die Mehrwertsteuer vollständig abschaffen, denn als regressive Steuer trifft sie vor allem kleine und mittlere Einkommen. Hierdurch würde sich eine Minderbelastung von über 250 Milliarden Euro ergeben, fast vierzig Prozent des gesamten Steueraufkommens. Eine gewaltige Umschichtung.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde eine solch fundamentale Reform aber auch an europäischen Regularien scheitern. Doch ein Schritt in die richtige Richtung könnte dadurch erfolgen, den Steuersatz auf Grundnahrungsmittel auf null Prozent zu senken. Derzeit gilt für sie ein ermäßigter Steuersatz von sieben Prozent. Für eine solche Absenkung der Mehrwertsteuer auf unterschiedliche Lebensmittel haben sich kürzlich auch mehrere Sozialverbände, progressive Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Gewerkschafter sowie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft ausgesprochen. Aus dem linken Lager gab es aber auch vereinzelt Kritik an einer möglichen Steuersenkung – mit fragwürdigen Begründungen.
In den letzten Monaten sind in dieser Frage linke Gewissheiten ins Wanken geraten: Eine Senkung der Mehrwertsteuer galt über lange Zeit nicht mehr als progressive Maßnahme. Die Grundüberlegung: Spitzenverdienerinnen würden hierbei mehr entlastet, weil sie mehr Geld ausgeben. In absoluten Zahlen betrachtet ist das auch richtig. Wenn stattdessen aber das Verhältnis von Steuerlast zum Einkommen berücksichtigt wird, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Klein- und Mittelverdienerinnen geben nämlich einen viel größeren Teil ihres Einkommens für die Mehrwertsteuer aus. Diese relative Betrachtung eignet sich viel eher als Kriterium, um zu bestimmen, ob Entlastungen ratsam sind oder nicht.
Entscheidend ist, welchen Anteil ihres Einkommens eine Person ausgibt oder spart. Den nur der Konsum unterliegt der Mehrwertsteuer. Typischerweise steigt die Sparquote mit zunehmendem Einkommen, wodurch die relative Belastung abnimmt. Hierbei ergeben sich auch Unterschiede von Güterklasse zu Güterklasse. Die Menge von Toilettenpapier, die Haushalte kaufen, ist über die Einkommensverteilung hinweg sicherlich relativ gleichbleibend. Der Kauf von Luxusuhren hingegen nicht.
Würde lediglich die Mehrwertsteuer auf Megayachten, Luxusuhren und Designerkleidung gesenkt, wären Spitzeneinkommen offensichtlich im Vorteil. Über alle Warenkategorien betrachtet wird aber deutlich, dass die Mehrwertsteuer für die Gesamtsteuerlast von Spitzenverdienerinnen praktisch irrelevant ist: Sie zahlen vor allem Einkommens-, Unternehmens- und Vermögensteuern, sofern diese überhaupt erhoben werden. Die Mehrwertsteuer müsste schon abstruse Höhen annehmen, um Spitzeneinkommen nennenswert zu belasteten.
Obwohl die Mehrwertsteuer kleinere Einkommen also erwiesenermaßen stärker belastet, bringen mache Progressive zweifelhafte Argumente gegen eine Absenkung vor. Der wohl wichtigste Mythos ist, dass eine Mehrwertsteuersenkung vor allem Spitzeneinkommen zugute käme. Eine Betrachtung anhand objektiver Daten über Einkommensverteilung und Konsumverhalten legt jedoch das Gegenteil nahe.
Daneben wird mit Verweis auf die temporäre Mehrwertsteuersenkung von 2020 der Mythos verbreitet, Senkungen würden nicht an die Verbraucherinnen weitergegeben. Stattdessen hätten Unternehmen die Preise einfach unverändert gelassen und ihre Margen erhöht. Auch das ist falsch. Statistisch lässt sich sowohl für einzelne Gütergruppen eine hohe prozentuale Weitergabe nachweisen, wie zum Beispiel 70 Prozent bei Supermarktpreisen und bis zu 83 Prozent bei Spritpreisen, als auch für den typischen Warenkorb des harmonisierten Verbraucherpreisindex, wo die Weitergabe rund 60 Prozent betrug. Die Mehrheit der Bevölkerung bemerkte die Weitergabe. Dass die Unternehmen in der Coronakrise einen kleinen Teil der Steuersenkung einbehielten, ist nicht weiter überraschend, da sie ja auch höhere Kosten zu tragen hatten.
Zu einer Unkenntnis der Datenlage über die tatsächlichen Verteilungseffekte der Steuersenkung kommt ein falsches Verständnis von Staatsfinanzen. Der Mythos, dass weniger Steuereinnahmen automatisch bedeuten, der Staat müsse sparen, hält sich hartnäckig. Doch dass der Staat keinen eigenen finanziellen Handlungsspielraum hätte, sondern unmittelbar auf das Steuergeld der Bürgerinnen angewiesen wäre, ist ein neoliberales Märchen. In Deutschland trifft dies höchstens aufgrund willkürlicher Regeln wie der Schuldenbremse und der EU-Defizitgrenze zu. Doch Staaten finanzieren sich nicht über Steuereinnahmen und die Schuldenregeln ließen sich ändern oder sind umgehbar.
Daneben wird oft der Aspekt der Lenkungswirkung vorgebracht, vor allem bezogen auf die Benzinpreise und betreffende Steuersenkungen. Doch hier ist die kurzfristige Lenkungswirkung des Preises viel geringer als oft angenommen. So wurden durch die hohen Preise die Autofahrten kaum kürzer oder weniger häufig. Zudem gibt es den CO2-Preis als gesondertes Instrument, dessen explizite Begründung die Lenkungswirkung ist. Der Zweck der Mehrwertsteuer ist eben kein Lenkungsanspruch. Eine positive Lenkungswirkung durch niedrigere Preise für gesunde Lebensmittel ist hingegen sehr plausibel. Abgesehen davon führen auch Regeln zur Sicherung von Sozial-, Umwelt- oder Gesundheitsschutz zu höheren Preisen, die dann wiederum Lenkungswirkung entfalten.
Die Argumentation der Gegnerinnen und Gegner einer Mehrwertsteuersenkung beruht oft auf schlichter Unkenntnis über das Steuersystem. Der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider forderte als Alternative etwa eine Luxussteuer. Konkret schlug er vor, einen dritten Steuersatz von 30 Prozent auf Luxusprodukte einzuführen. Ihm war offenbar nicht bewusst, dass die Mehrwertsteuersystemrichtlinie der EU nur zwei ermäßigte Steuersätze zulässt. Eine solche Luxussteuer würde also bedeuten, dass der Normalsatz für alle Güter, die derzeit mit 19 Prozent besteuert werden, ebenfalls angehoben werde müsste. Für die große Mehrheit würde dies also eine deftige Steuererhöhung bedeuten, die Spitzeneinkommen aber kaum träfe. Auch eine Änderung der Regeln, wie von Schneider im Nachgang gefordert, ist unwahrscheinlich: Beschlüsse zu Steuerangelegenheiten erfordern auf EU-Ebene Einstimmigkeit. Fehlende Mehrheiten für Reformen hatte kürzlich auch Bundesfinanzminister Lindner konstatiert.
Abgesehen vom fehlenden Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die verteilungspolitische Wirkung, wäre eine solche Steuererhöhung ökonomisch kontraproduktiv. Denn auch hier würde sich eine negative Lenkungswirkung einstellen. So beschrieb der Steuerexperte Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vor einigen Jahren im Handelsblatt, dass eine Besteuerung wirklicher Luxusgüter aufgrund der globalen Mobilität der Superreichen und undurchsichtiger Geschäftspraktiken nur sehr schwer umzusetzen sei.
Das alles sind Gründe, warum die Mehrwertsteuer bei jeder politischen Gelegenheit angegriffen werden sollte. Eine Entlastung der Verbraucherinnen dieser Form ist aktuell jedenfalls dringend notwendig, ob über Nullsätze bei Grundnahrungsmitteln, einer temporären Reduzierung von 19 Prozent auf 7 bei Energieträgern oder einer dauerhaften Absenkung des ermäßigten Satzes von 7 auf 5 Prozent. Von alledem würden kleine und mittlere Einkommen überdurchschnittlich profitieren. In Zeiten, in denen 100 Milliarden Euro für Aufrüstung bereitgestellt werden, sollte dies am Geld nicht scheitern. Zur Besteuerung der Reichen sollte die progressive Finanzpolitik dagegen auf geeignetere Mittel wie die Vermögensteuer, die Erbschaftsteuer oder die Einkommensteuer setzen und für ihre gerechtere Ausgestaltung kämpfen, ohne dabei Geringverdiener gegen die Mittelschicht auszuspielen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.