22. Februar 2023
Das Ausmaß der Zerstörung nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei ist eine direkte Konsequenz der Klientelpolitik der AKP. Denn die setzte auf schnelle Profite und nicht auf Erdbebensicherheit.
Überlebende der Stadt Antakya kehren nach dem Beben zu ihren zerstörten Häusern zurück, 22. Februar 2023.
IMAGO / ZUMA WireAlle Häuser, die in Folge der Erdbeben in der Türkei zerstört wurden, seien in einem Jahr wieder aufgebaut – das verkündet der türkische Präsident Erdogan derzeit bei Besuchen in den betroffenen Regionen. Glaubwürdig ist das nicht, denn aktuell funktioniert noch nicht einmal die akute Nothilfe. Sie wird vielmehr von Erdogan behindert und politisch instrumentalisiert, denn im Juni stehen Wahlen an.
Das Ausmaß der Zerstörung, die Anzahl der Verstorbenen, Verletzten und der Menschen, die um ihre materielle Existenz gebrachten wurden, ist nach wie vor kaum abschätzbar. Unendliches Leid, Verzweiflung, Trauer, Wut und Angst prägen die Situation nach wie vor.
Berechnungen zufolge ist mit bis zu 72.000 Toten zu rechnen, Gebäude und Infrastruktur in zehn Städten und unzähligen Dörfern sind beschädigt oder zerstört, Hunderttausende sind verletzt und obdachlos. Der türkischer Unternehmer- und Wirtschaftsverband TURKONFED geht von einem ökonomischen Schaden von 84 Milliarden US-Dollar aus, das entspricht rund 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Türkei.
Dabei befindet sich die Türkei ohnehin in einer dramatischen Wirtschaftskrise: Die Inflation lag im Januar offiziell bei über 55 Prozent, die türkische Lira verlor im vergangenen Jahr 40 Prozent ihres Wertes.
Vor diesem Hintergrund ist klar, dass es Jahre dauern wird, bis die durch das Erdbeben verursachten Schäden in der Türkei auch nur annähernd behoben sein werden. Das AKP-Regime greift daher schon jetzt zu Drohungen gegenüber denjenigen, die die schlechte Organisation der bisherigen Hilfen und das Versagen bei der Prävention möglicher Erdbeben-Folgen kritisieren. Die Staatsanwaltschaften würden sich die Namen derjenigen merken, die sich in sozialen Netzwerken kritisch äußerten und sie später anklagen, ließ Erdogan erklären.
Im Mittelpunkt der Kritik steht zum einen die Zweckentfremdung der Einnahmen aus der nach dem Istanbuler Erdbeben 1999 eingeführten »Erdbebensteuer«. Die mit dieser Steuer eingenommenen rund 37 Milliarden US-Dollar sind zu einem Großteil nicht in den Bau erdbebensicherer Gebäude geflossen, sondern in allgemeine Infrastrukturmaßnahmen, von denen vor allem die Kapitalfraktion profitiert hat, die Erdogan unterstützt.
Zum anderen hat die AKP-Regierung mit insgesamt sechs sogenannten Bau-Amnestien Wohnungen und Gebäude nachzertifiziert, die nicht den baurechtlichen Bestimmungen entsprechen. Zuletzt – im Wahljahr 2018 – betraf das knapp 6 Millionen Wohnungen. Bislang war die AKP auf diese Amnestien (die jeweils Gelder in die Staatskasse spülten) stolz, nun will sie davon nichts mehr wissen. Erdogan behauptet sogar, dass 98 Prozent der zerstörten Gebäude vor 1999 errichtet worden seien (die AKP regiert seit 2002). Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Lüge. Statistiken belegen, dass über 50 Prozent der Gebäude in den nun betroffenen Regionen erst nach 2001 gebaut wurden. Der westliche Teil der Stadt Kahramanmaras, der nun weitgehend zerstört ist, wurde etwa erst unter Erdogan errichtetet.
Die AKP-Regierung ist eng mit der Bauindustrie verflochten und hat diese stets gefördert und damit auch geworben. Schnelle Profite und rasantes Wachstum waren das Ziel. Hinzu kommt, dass kaum eine Branche so korrupt ist wie das Bauwesen. Erdbebensicherheit spielte da keine Rolle.
Das ist auch weiten Teilen der Bevölkerung in der Türkei durch die katastrophalen Auswirkungen der Erdbeben klar geworden. Der von der AKP-Regierung verhängte Ausnahmezustand in den betroffenen Regionen dient daher auch weniger dem Ziel, effektiver Hilfe leisten zu können, sondern wird vor allen Dingen genutzt, um hart gegen die sich manifestierende Kritik vorgehen zu können.
Die Erdogan-Regierung reagiert nur zögerlich und unzureichend auf die Katastrophe. Der staatliche Katastrophenschutz AFAD setzte – trotz vorliegender Angebote – zu wenige Helferinnen und Helfer ein und die Armee wurde erst nach Tagen für Hilfsaktionen auf den Plan gerufen. Nichtregierungsorganisationen und Kommunen, die nicht von der AKP regiert werden, berichten von Behinderungen und Blockaden bei ihrer Arbeit. Hilfslieferungen ziviler Initiativen wurden als staatliche AFAD-Hilfen ausgegeben und zum Teil mit AKP-Aufklebern versehen. Dem Regime ging es von der ersten Stunde an darum, aus politischen Gründen das Monopol auf die Rettungsaktionen zu bewahren, damit keine andere politische oder zivile Kraft in der Bevölkerung punkten kann.
Landesweit wurde zudem für einige Zeit das Internet eingeschränkt. Twitter war für einige Zeit nicht erreichbar, was besonders verheerend war, da viele Menschen, die unter den Trümmern lagen, über Twitter ihren Standort bekannt gaben. Mit dieser wahnsinnigen Maßnahme wollte das Regime die Verbreitung von Tweets, die die große Empörung der Menschen über die fehlende Hilfe des Staates thematisierten, unterbinden. Dieses insgesamt perfide Agieren hat gerade in den ersten Tagen, in denen es um jede Stunde ging, zahlreiche Menschenleben gekostet.
Doch viele Menschen haben sich von solchen Hürden nicht davon abhalten lassen, Hilfe zu leisten. Fortschrittliche und linke Parteien wie die HDP, EMEP, TKP, Halkevleri und andere haben umgehend ihre Mitglieder mobilisiert, um den betroffenen Menschen vor Ort aktiv zu helfen. Dabei mussten sie diverse Repressalien über sich ergehen lassen. So wurden die Hilfsgüter, die die HDP in Adıyaman und Pazarcık zusammengestellt hatte, konfisziert. In Osmaniye wurden zehn helfende TKP-Mitglieder willkürlich in U-Haft genommen und erst auf Druck der Öffentlichkeit wieder freigelassen.
Mit der Behauptung, auf ein Erdbeben von derartigem Ausmaß könne man nicht vorbereitet sein, versuchte Staatspräsident Erdogan vom Versagen seiner Regierung abzulenken. Die Opposition entlarvte diese Aussage umgehend. So erklärte der Vorsitzende der sozialdemokratisch orientierten CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, dass man den Machthabern nicht erlauben wird, sich vor ihrer Verantwortung zu drücken. Überhaupt reagierte der Vorsitzende der CHP sehr entschieden. So lehnt er es ab, die Mängel und das unverantwortliche Handeln des Regimes angesichts der Katastrophe zu ignorieren und sich »staatsmännisch« hinter Erdogan zu stellen.
Insgesamt zeigt sich, dass auch die Prävention und Schadensbegrenzung von Naturkatastrophen eine Frage der Demokratie sind. Wenn es keine Pressefreiheit gibt, wenn Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt werden, wenn die Benennung von Missständen Gefängnisstrafen nach sich ziehen kann, wenn die Befugnisse von Berufskammern ausgehebelt und beharrliche Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Wind geschlagen werden, dann können Profitgier, Korruption, Vetternwirtschaft und Willkür ungehindert walten.
Mit anderen Worten: Das Erdogan-Regime braucht die Aushöhlung der bürgerlichen Demokratie, die Unterdrückung und die gesellschaftliche Spaltung, damit dieses Netz von Ausbeutung und wirtschaftlicher Plünderung erhalten und noch weiter ausgebaut werden kann.
Der Autor und Journalist Hakki Özdal hat es auf den Punkt gebracht: »Es ist allen voran die Monopolbourgeoisie, samt ›westliche‹ und ›islamische‹ Teile der Klasse des Kapitals; die führenden Geschäftsleute und Agas der Provinzen; die Reichen der Sekten, religiösen Gemeinden und anderer fundamentalistischen Organisationen und als verlängerte Arm von all denen, die führende Garde der schmarotzenden Klasse der Politik und zivilen-militärischen Bürokratie, die mitschuldig sind an diesem Massaker, das hunderttausende Menschen Anatoliens bluten ließ, ihnen das Leben nahm und Millionen von ihnen dem Grauen überließ.«
Nun scheint sich aber abzuzeichnen, dass die Empörung und die Wut innerhalb der Bevölkerung so groß geworden sind, dass Erdogan die Wahlen verlieren könnte, wenn sie wie geplant stattfinden sollten.
Der ehemalige Parlamentspräsident und Erdogan-Vertraute, Bülent Arinç, ist vor einigen Tagen vorgeprescht und hat wegen der Erdbebenkatastrophe eine Verschiebung der Wahlen gefordert. Viele Oppositionspolitiker haben sich eindeutig und entschieden gegen dieses Unterfangen gestellt und erklärt, dass es unverantwortlich sei, Erdogan zu erlauben das Land weiterzuführen. Für die Opposition könnten die Wahlen am 18. Juni stattfinden, wenn die Regierung und die Hohe Wahlkommission ihren Aufgaben entsprechend handeln. Auch verfassungsrechtlich käme eine Wahlverschiebung einem zivilen Putsch gleich.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Konsequenzen von Erdogans Politik antidemokratische Zwänge entstehen lassen haben: Sein Beharren auf Machterhalt wird die Türkei näher zum offenen Faschismus als zur Demokratie führen.
Zwei Trümpfe hat Erdogan noch in der Hand, einen juristischen und einen militärischen. Paragraph 79 der türkischen Verfassung besagt: »Gegen die Beschlüsse der Hohen Wahlkommission kann bei einer anderen Instanz kein Einwand erhoben werden.« Diese vor einigen Jahren unter dem AKP-Regime vollzogene Änderung der Verfassung hat die Hohe Wahlkommission, die weitgehend aus Erdogan gefügigen Richtern besteht, de facto über das Verfassungsgericht gestellt. Die militärische Option besteht darin, einen Krieg anzuzetteln, um den Anforderungen der Verfassung für eine Wahlverschiebung gerecht zu werden. Klingt unfassbar, ist im Erdogan-Regime aber nicht ausschließbar. Denn gemäß Paragraph 78 der türkischen Verfassung können Wahlen nur im Kriegsfall durch einen Parlamentsbeschluss für ein Jahr verschoben werden.
So unbegreiflich es auch ist, hat das Regime trotz der großen Katastrophe weiterhin kurdische Orte in Nordsyrien bombardiert – und das, obwohl auch der Norden Syriens stark vom Erdbeben stark betroffen war, Tausende Opfer zu beklagen sind und in den ersten Tagen aufgrund der Sanktionen des Westens keinerlei Hilfe geleistet werden konnte. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass kurdische Kräfte auf die Gefahr hinweisen, dass sie erneut für politische Zwecke des Erdogan-Regimes instrumentalisiert werden und dies mit ihrem Leben zahlen könnten.
Die Europäische Union muss einsehen, dass in der Türkei eine völlig neue Situation entstanden ist, die ihre bisher schon verfehlte Türkei-Politik endgültig untragbar macht. Umgehende Hilfe für die Opfer der Katastrophe, die Organisierung einer breiten Solidarität, auch innerhalb der Staaten, ist wichtig und richtig. Dabei muss beachtet werden, dass diese Solidarität, vor allem aber die finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau, von dem Regime nicht zu Wahlzwecken instrumentalisiert werden darf, und dass die Hilfen wirklich bei den betroffenen Menschen ankommen.
Andererseits muss auf jede undemokratische Handlung des Regimes energischer reagiert werden als bislang. Die EU-Kommission kann es sich nicht länger leisten, die antidemokratischen Angriffe mit den üblichen besorgt klingenden Phrasen abzutun.
Damit dies auch geschehen kann, muss die demokratische Öffentlichkeit in Europa ihre Solidarität aufrechterhalten und ihren kritischen Blick auf das Erdogan-Regime schärfen. Die vielen Sach- und Geldspenden, die selbstorganisierten Hilfskonvois, die Helferinnen und Helfer aus aller Welt, sie zeigen: Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.
Özlem Demirel ist Abgeordnete der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament.