08. Juli 2022
Konservative und Liberale behaupten immer wieder, die Nazis seien Sozialisten gewesen. Wie die Wirtschaftspolitik der Nazis wirklich aussah, erläutert der Historiker Ishay Landa im JACOBIN-Interview.
Erstes Kabinett der deutschen Faschisten mit Konservativen und Monarchisten, 30.01.1933.
Dass sich die Nazis selbst als Sozialisten bezeichneten, sorgt bis heute für Verwirrung. Zuletzt flammte erneut die Diskussion auf, ob die Nazis nun Linke oder Rechte waren.
Der israelische Historiker Ishay Landa veröffentlichte 2021 mit dem Buch Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus eine umfangreiche Studie zu der Frage, welche wirtschaftlichen Interessen die Nazis eigentlich verfolgten. Im Interview mit JACOBIN erklärt er, was der Begriff »Sozialismus« für Hitler bedeutete, wie seine politischen und wirtschaftlichen Ansichten zusammenhängen und warum wir an Elon Musk die Gefahren des wirtschaftlichen Liberalismus sehen können.
In Deinem Buch untersuchst Du die Wirtschaftspolitik und die Ideologie der Nationalsozialisten. War ihre Politik tatsächlich sozialistisch?
Nein, natürlich waren sie keine Sozialisten. Es stimmt, dass die Nazis den Begriff gelegentlich affirmativ verwendet haben. Manche Leute deuten das zynisch als Beweis: »Sie waren Sozialisten, weil sie sich Sozialisten nannten!« Aber sie waren in jedem tatsächlichen Sinne des Wortes extrem antisozialistisch.
Warum haben sie das Wort »Sozialismus« dann überhaupt genutzt?
Wir müssen den Kontext verstehen, in dem sie den Begriff verwendeten. Heute nutzen rechte Politikerinnen und Politiker den Begriff nicht mehr. Und warum? Weil der Sozialismus heute weitgehend diskreditiert ist. Aber damals standen die Antikommunisten vor der Herausforderung, sich Zugang zu sozialistischen Hochburgen zu verschaffen und möglichst viele Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse zu überzeugen. Also mussten sie ihre Politik so präsentieren, als sei sie im Interesse der Arbeiterklasse. Der Trick bestand darin, von der Popularität des Sozialismus zu profitieren, weil er als Kraft der Zukunft galt, sich aber gleichzeitig von seinem Inhalt so weit wie möglich zu distanzieren.
Wenn sich die Nazis nur aus strategischen Gründen als Sozialisten bezeichneten, wie sah ihre Wirtschaftspolitik dann tatsächlich aus?
Auf jeden Fall war sie sehr stark kapitalistisch geprägt. Die Nazis legten großen Wert auf das Privateigentum und den freien Wettbewerb. Zwar griffen sie in den freien Markt ein, aber es war auch eine Zeit des allgemeinen Zusammenbruchs kapitalistischer Systeme. Fast alle Staaten griffen damals in den Markt ein, und zwar, um das kapitalistische System vor sich selbst zu retten. Das hat nichts mit sozialistischer Gesinnung zu tun – es war pro-kapitalistisch. In gewisser Weise besteht da eine Parallele zu der Art und Weise, wie große Banken nach dem Ausbruch der Finanzkrise von den Staaten gerettet wurden. Auch das folgte natürlich in keiner Weise sozialistischen Absichten. Es war lediglich der Versuch, das System ein bisschen zu stabilisieren.
Aber wollen Kapitalisten nicht immer möglichst große Freiheit?
Nein, die staatlichen Eingriffe geschahen damals in Einvernehmen mit der Industrie. Die Kapitalisten forderten das sogar, denn die Politik des freien Marktes ist nicht immer im Interesse von Kapitalisten. Sie brauchen den Staat manchmal, um dem freien Markt durch Eingriffe auf die Sprünge zu helfen. Die Eingriffe wurden der Wirtschaft also nicht von den Faschisten aufgezwungen – es war eine einvernehmliche Entwicklung, die Forderungen des Industriesektors widerspiegelte. Das Ziel bestand im Wesentlichen darin, das System zugunsten des Großkapitals zu lenken.
Wie hängt die politische Ideologie der Nazis mit diesem Versuch der Stabilisierung des Systems zusammen?
Hitler wird oft vorgeworfen, er habe wirtschaftliche Interessen seinen politischen Ansichten untergeordnet, was in gewisser Weise stimmt. Aber was genau waren seine politischen Ansichten? Wenn man versucht, über Hitlers fanatischste Obsessionen nachzudenken – zum Beispiel den Sozialdarwinismus, die Eugenik oder sogar seinen Antisemitismus –, dann erscheint es womöglich, als seien diese nur losgelöst von wirtschaftlichen Überlegungen zu verstehen. Wenn wir jedoch jedes einzelne dieser Elemente genauer betrachten, sehen wir, dass sie eine unverzichtbare wirtschaftliche Grundlage hatten.
Zum Beispiel?
Der Sozialdarwinismus ist eigentlich eine Form des Hyperkapitalismus. Er übernimmt vom Kapitalismus den Fokus auf den Wettbewerb als Kampf aller gegen alle. Und die Nazis sagten: »Nun, so ist die Natur eben.« Das war kein Bruch mit dem Kapitalismus, sondern eine Zuspitzung der wirtschaftlichen Ansichten. Der Kapitalismus ist nach Ansicht der Nazis einfach Teil der Natur. Es geht also nicht nur um politische Herrschaft, sondern um die Naturalisierung ökonomischer Widersprüche. Hitler sagte dann, dass es vor allem der Jude ist, der versuche, der Natur einen Streich zu spielen, um den Kampf ums Überleben überflüssig zu machen. Der Wille, die Wirtschaft zu verändern, machte das Judentum vom Standpunkt der Nazis aus heimtückisch.
Aber ist diese sehr positive Sicht auf den freien Wettbewerb und den Kampf aller gegen alle nicht gerade das Markenzeichen des Wirtschaftsliberalismus?
Hitler hat das natürlich alles nicht erfunden, es war Teil des Mainstreams. Man konnte sehr ähnliche Aussagen über die Notwendigkeit eines rücksichtslosen Wettbewerbs in der liberalen Mainstream-Ökonomie der damaligen Zeit vernehmen. Dass jemand wie Hitler zum »Führer« einer großen Industrienation werden konnte, war schließlich die Zuspitzung bestimmter weitgreifender Auffassungen über die Wirtschaft und über politische Handlungsfähigkeit. Hitler folgte in seiner Antwort den Wünschen der Industriellen – das machte ihn für große Teile des Bürgertums so attraktiv. Die Nationalsozialisten schienen die Wirtschaft von unnötigen Lasten politischer und humanistischer Empfindlichkeit zu befreien.
Etwa durch die Eugenik?
Genau, auch die Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen war unmittelbar mit wirtschaftlichen Belangen verknüpft – durch sie sollte die Wirtschaft von Menschen befreit werden, die als Last galten. Die nationalsozialistische Sprache war in dieser Hinsicht sehr wirtschaftlich und berechnend. So hieß es auf einem typischen Propagandaplakat: »60.000 Reichsmark kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volkgenosse, das ist auch Dein Geld«. Sogar die Shoah hat diese Verbindung zu wirtschaftlichen Fragen. Denn in der Nazi-Ideologie werden die Jüdinnen und Juden als das ultimative Hindernis angesehen. Hindernis für was? Für den Kapitalismus. Sie werden als das Rückgrat des Marxismus gesehen.
Der Marxismus ist für die Nazis also im Wesentlichen eine jüdische Verschwörung gegen die kapitalistische Wirtschaft – und damit gegen die natürliche Ordnung. Natürlich war die Shoah das Ergebnis vieler Faktoren und der Höhepunkt verschiedener nationalsozialistischer Ängste, ihrer Obsessionen und ihres Hasses. Aber dieser sozioökonomische Faktor sollte nicht vergessen werden.
Aber warum konnten die Nationalsozialisten den Marxismus als großes Übel bezeichnen, das ausgelöscht werden muss, während sie den Sozialismus als einen sehr positiven Slogan für ihre Bewegung verwendet haben?
Mit dem Begriff »Sozialismus« meinen sie nichts, was wir auch nur im Entferntesten als sozialistisch anerkennen würden, sondern ihre Politik der Eingriffe in den freien Markt zugunsten der Kapitalisten. Mit dem Begriff »Marxismus« hingegen meinten sie die Sozialdemokratie und den Schutz der grundlegenden Arbeitnehmerrechte. In Mein Kampf sagt Hitler, dass sich sein Weltbild in dem Moment vervollständigte, als er begriff, dass die Juden die Drahtzieher der Sozialdemokratie sind. Es war einfach eine sehr bequeme – wenn auch zynische – Methode, die Begriffe voneinander zu trennen und ihnen eine völlig neue Bedeutung zuzuschreiben.
Wenn das so eindeutig ist, warum hat es in letzter Zeit in Deutschland diese Debatten über eine angeblich sozialistische Politik der Nazis gegeben?
Nun, das ist eigentlich nicht so neu, sondern hat eine lange Vorgeschichte. Schon in der Zeit des Faschismus gab es einige Versuche, die Nazis als Sozialisten darzustellen, zum Beispiel von Ludwig von Mises. Aber im Allgemeinen war der Versuch, eine direkte Verbindung zwischen Marxismus und Nationalsozialismus herzustellen, eine Minderheitenposition. Ab den 1980er Jahren kam es dann zu einem Wendepunkt, als in der Faschismusforschung eine revisionistische Strömung einsetzte. Sie versuchte, den Faschismus viel stärker mit der politischen Linken zu verbinden. Das geschah zu einer Zeit, in der der Neoliberalismus den Wohlfahrtsstaat abzulösen begann. Dadurch wurde dieser ideologische Schachzug sehr praktisch. Sie sagten: »Die Nazis standen eigentlich für eine autoritäre Form des Sozialismus!« Die Sozialpolitik anzugreifen, wurde so zu einem antifaschistischen Akt.
Nazis zu Sozialisten zu machen ist also auch ein Instrument, um arbeiterfeindliche Politik durchzusetzen?
So ist es. Wann fingen Intellektuelle denn an, Bücher zu schreiben, in denen sie die Nazis beschuldigen, eine sozialistische Wirtschaftspolitik betrieben zu haben? Wann fingen sie damit an, die Nazis zu beschuldigen, den Massen auf Kosten der Bourgeoisie geholfen zu haben? Genau zu dem Zeitpunkt, als die Politik versuchte, neoliberale Reformen des Arbeitsmarktes durchzusetzen. Die Geschichtsschreibung ist also mit den wirtschaftlichen Realitäten verbunden. Die Politik nutzte diese Theorien also, um ihre Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat zu unterstützen. Götz Aly sagte damals in einem seiner Interviews, dass es die Aufgabe der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder sei, der »Volksgemeinschaft« endlich den Garaus zu machen. Durch die Liberalisierung der Wirtschaft werden also die letzten Reste des Nationalsozialismus aus dem deutschen Leben entfernt. Dieses Denken zeigt, wie aktuelle politische Moden mit der Frage, wie wir die Vergangenheit wahrnehmen, verknüpft sind.
Aber haben sich die Liberalen jemals mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass Hitler teilweise ihr eigenes politisches Programm vorantrieb?
Es gab nie eine ehrliche und direkte Konfrontation. In den Nachkriegsjahren gab es einen Konsens darüber, dass der Staat in Maßen die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter verbessern müsse – sogar innerhalb des Liberalismus. Wenn es ein liberales Schuldbekenntnis gab, so wurde es unter der Prämisse abgegeben, dass die Politik der Nazis kein wirklicher Liberalismus gewesen sei. Ihr Liberalismus sei unausgegoren gewesen und sei seiner demokratischen Verantwortung nicht gerecht geworden.
Später kam es jedoch zu einem radikalen Wandel. Plötzlich waren die Liberalen viel eher geneigt zu sagen: »Der Nationalsozialismus war sozialistisch. Und wenn man gegen den Sozialismus kämpft und einen Markt schafft, der so frei wie möglich von jeglichem politischen Eingriff ist, ist man ein guter Antifaschist.« Das war die viel nachhaltigere Phase der liberalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Auch mit der Verknüpfung von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Liberalisierung lässt sich eine unternehmerfreundliche Politik durchsetzen. Glaubst Du, dass der wirtschaftliche Liberalismus tatsächlich immer mit gesellschaftlichen Fortschritten einhergeht?
Ich denke, wir sollten zwischen den wirtschaftlichen Auswirkungen des Liberalismus und den politischen Auswirkungen strikt unterscheiden. Zu Beginn gingen sie manchmal Hand in Hand. Aber in einer bestimmten Phase kam es dann zu einer Spaltung zwischen dem wirtschaftlichen und dem politischen Aspekt. Liberale mussten sich dann entscheiden, was für sie wichtiger war. Sind sie Wirtschaftsliberale, weil sie das Privateigentum, die Klassengesellschaft, und den freien Markt um jeden Preis verteidigen wollen oder wollen sie, dass die liberale Demokratie ihr Versprechen auf Freiheit und Selbstbestimmung für alle Menschen auch wirklich einlöst? Dieser Widerspruch wurde bislang nicht aufgelöst. Denn letztlich muss man sich für eine Seite entscheiden.
Warum geht denn nicht beides?
Die gängige Meinung ist, dass der Liberalismus immer mit politischen und individuellen Freiheiten einhergeht, was manchmal auch stimmt. Was aber vergessen wird, ist, dass der Liberalismus von Anfang an nicht nur politische Möglichkeiten eröffnete, sondern sie gleichzeitig stark einschränkte. Was der Liberalismus von Anfang an klarmachen musste, war: »Das Privateigentum ist unantastbar«. Denn das ist die Grundlage der politischen Ordnung.
Man kann also die Reichen nicht ohne ihre Zustimmung besteuern. Wenn man das tut, gibt man ihnen bereits einen guten Grund, um zu rebellieren und Gewalt gegen die Massen anzuwenden. Der liberalen Politik war damit von Anfang an eine diktatorische Option eingeschrieben. Und so wurde es zur Hauptaufgabe der Politik, das Eigentum zu schützen. Natürlich ist das aber eine sehr enge Definition dessen, was Politik tun kann oder tun sollte. Und darunter leiden wir bis heute. In einer westlichen Demokratie kann man vieles tun – aber man sollte auf keinen Fall das Privateigentum antasten.
Es gibt also etwas in der Grundstruktur des wirtschaftlichen Liberalismus, das die Freiheit der Menschen in Wirklichkeit behindert?
Der Kapitalismus ist im Wesentlichen eine antidemokratische Wirtschaftsstruktur: Er bedeutet vor allem die freie Herrschaft über Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Kapitalismus ist hierarchisch und nicht egalitär. Außerdem gibt es eine massive Konzentration von Reichtum, was eine entscheidende Debatte auslöst: Wie können wir ihn umverteilen? Der klassische Liberalismus sagt: »Tut nichts, um die Situation zu ändern.« Aber das schafft enorme Hindernisse für die politische Freiheit und die politischen Möglichkeiten. Denn wenn man die Menschen davon abhalten will, das Eigentum anzurühren, muss die Demokratie streng begrenzt werden. Die liberale Sichtweise besteht also darin, den Massen zu sagen: »Versucht nicht, zu logisch zu sein, wenn ihr über Demokratie nachdenkt! Versucht nicht, die Demokratie beim Wort zu nehmen! Das schafft nur eine Menge Ärger!«
Und versucht auf keinen Fall, die wirtschaftliche Situation für irgendjemanden außer der Bourgeoisie zu verbessern.
Ganz genau. Und das ist ein sehr aktuelles Problem: Elon Musk ist eine wahre Wundertüte für das, was wir hier diskutieren, weil er ziemlich offen und unverhohlen damit umgeht. Kürzlich sagte er, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner versuchen, sich vor harter Arbeit zu drücken und dass sie sich an den chinesischen Arbeiterinnen und Arbeitern ein Beispiel nehmen sollten. Das ist eine sehr klare Aussage, denn er meint natürlich, dass die chinesischen Beschäftigten keine Möglichkeit haben, sich demokratisch gegen schlechte Bedingungen zu wehren. Er sagt, das demokratische System sei viel zu nachsichtig und wir bräuchten ein viel strengeres System, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu disziplinieren, um sie dazu zu bringen, hart zu arbeiten und niedrige Löhne zu akzeptieren – ein System, wie wir es in China sehen.
Musk hat außerdem vor kurzem angekündigt, dass er die Republikaner unterstützen wird. Und das obwohl Donald Trump, der eine Art Neo-Faschist ist, immer noch eine zentrale Rolle in der Partei spielt.
Genau so etwas zeigt, dass ein diktatorischer Ausweg in das liberale Denken eingebaut ist. Ich will damit keineswegs sagen, dass alle Liberalen so etwas befürworten würden. Aber es ist sehr schwer, den ökonomischen und politischen Liberalismus unter einen Hut zu bringen. Stattdessen gibt es politische Liberale, die ökonomisch einen anderen Weg wählen, oder zwischen den beiden Polen hin und her schwanken, ohne den grundlegenden Konflikt je wirklich lösen zu können. So ist der Sozialismus in gewissem Maße selbst ein Kind des politischen Liberalismus. Marx und Engels sind als politische Liberale gestartet und haben die Grundideen des Liberalismus niemals aufgegeben: Freiheit und demokratische Mitbestimmung für alle. Sie haben ihre Auffassung bloß weiterentwickelt, weil sie erkannt haben, dass im Kapitalismus die Chancen für die Verwirklichung eines echten demokratischen Projekts sehr begrenzt sind.
Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung dieses Interviews stand nicht »Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen«, sondern »Kranke und Alte«. Dies wurde am 11. Juli 2022 korrigiert.