09. März 2022
Die Netflix-Serie »Inventing Anna« erzählt von der Hochstaplerin Anna Sorokin, die sich als deutsche Erbin ausgab, Banken betrug und die New Yorker High Society austrickste. Ihre Geschichte zeigt die moralische Leere des Kapitalismus.
Julia Garner in der Rolle von Anna Delvey.
Kurz nachdem die Geschichte über Anna Sorokins beeindruckenden Betrug durch die Presse geht, kommt eine Frau aus einem Geschäft. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Falsche deutsche Erbin«. Diese Szene aus der Netflix-Serie Inventing Anna verweist auf den Humor und die Bewunderung, mit der die Öffentlichkeit auf die Hochstaplerin Anna Sorokin reagierte.
Die leicht fiktionalisierte Fernsehserie Inventing Anna basiert auf der Titelgeschichte der Journalistin Jessica Pressler, die im New York Magazine erschien, und schildert den Aufstieg und Fall von Anna Delvey. Die als Anna Sorokin in Russland geborene junge Frau aus der Mittelschicht gab sich als deutsche Erbin aus, lebte etwa vier Jahre lang auf großem Fuß und verkehrte in den Kreisen von Manhattans Schickeria. Sie wurde sogar von großen Banken und Hedgefonds, darunter ein Fonds namens Fortress, als Kundin in Betracht gezogen.
Inventing Anna zeigt uns einige der besten Outfits der Fernsehgeschichte, und übertrifft darin sogar noch Sex and the City. Das noch größere Vergnügenbietet jedoch Anna Delveys Chuzpe. Sie stiehlt einen Privatjet. Sie benutzt die Jacht einer echten Erbin ohne Erlaubnis. Sie wohnt in einigen der nobelsten Hotels New Yorks, ohne zu bezahlen.
Sorokin wusste, wie man den Anschein erweckt, reich zu sein. Wie Pressler in ihrem Artikel feststellte, war Anna Sorokin weder außergewöhnlich hübsch noch charmant oder gar nett. Dennoch fühlten sich die Menschen zu ihr hingezogen. Reiche Leute mochten sie, weil sie über soziales Kapital zu verfügen schien. Echte Finanzkapitalisten dachten, sie könnten mit ihr das große Geld verdienen (und einige glaubten, sie würden noch reicher werden, wenn sie sie heirateten).
Als Anna Delvey schaffte sie es, eine Aura von Reichtum zu versprühen. Sie gab üppige Trinkgelder. Sie war perfekt gekleidet. Das Beste von allem: Delvey war kurz davor, große Hedgefonds und Banken davon zu überzeugen, Millionen von Dollar in ihr Start-up zu investieren, eine Mischung aus exklusivem Klub und internationalem Kunstraum. Sie benutzte eine App zur Stimmverzerrung und ein Wegwerfhandy, um sich als ihr eigener Familienbankier auszugeben, der gar nicht existierte. Obwohl die Serie leicht fiktionalisiert ist – einige Charaktere sind zusammengesetzt, einige Ereignisse erfunden – sind die besten und am wenigsten glaubwürdigen Aspekte der Geschichte wahr. Anna Delvey war wirklich kurz davor, große Kredite zu bekommen. Sie hat wirklich mit dem unerträglichen »Pharma-Bro« Martin Shkreli gefeiert. Der Fyre-Festival-Betrüger Billy McFarland war tatsächlich eine Zeit lang ihr Mitbewohner.
Leider verwendet Inventing Anna zu viel Zeit darauf, die Widrigkeiten des Alltags einer langweiligen Journalistin aus New York City darzustellen. Normale Berufstätige mit normalen Problemen in normalen Wohnungen können einfach nicht mit Delveys Abenteuern bei versuchtem Finanzbetrug, Balenciaga, Marokko oder Ibiza konkurrieren.
Noch verfehlter sind jedoch die unoriginellen Binsenweisheiten, die uns die Serie vermitteln will: Es ist schwer für junge Frauen, in der Finanzwelt Fuß zu fassen. Alle lügen ein bisschen. Jeder versucht, sich zu bereichern. Und vergessen wir nicht die tiefsinnigste aller Fragen: Wer ist in dieser Ära der sozialen Medien überhaupt noch authentisch? Diese oberflächlichen Pseudo-Weisheiten gehen am Thema vorbei. An einer Stelle sagt die Reporterin – Vivian Kent, die auf Jessica Pressler basiert –, dass es in Annas Geschichte um »Identität im Kapitalismus oder so« geht. Das ist der einzige Moment, in dem sich die Serie lobenswerterweise über ihren eigenen versuchten Tiefgang lustig macht.
Durch die Fokussierung auf konventionelle Lektionen und individuelle Dramen wird die spannendste Dimension von Delveys Geschichte in Inventing Anna größtenteils ausgespart – nämlich die moralische Widersprüchlichkeit. Wer hat Reichtum verdient? Niemand, und gleichzeitig alle, und deshalb lieben wir Anna Delvey. Die Menschen verfolgen auf Instagram, in welchen Outfits Delvey bei Gerichtsverhandlungen erscheint, und tragen »Falsche deutsche Erbin«-T-Shirts, weil Delvey entlarvt, wie hohl die Mythologien um Reichtum im Kapitalismus tatsächlich sind. Normalerweise erzählt die Kulturindustrie am liebsten Geschichten von kleinen Leuten, die es mit harter Arbeit ganz nach oben geschafft haben. Genau dorthin wollte Anna Sorokin auch. In der modernen Welt sollte die Geburt nicht über den Zugang zu Chancen und Geld entscheiden, doch das tut sie.
Ihre Geschichte gibt ebenso Aufschluss über die gesellschaftliche Haltung gegenüber vererbtem Reichtum: Wir verherrlichen den »Self-Made-Man« und verspotten diejenigen, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren werden. Sorokin hätte so viel mehr Möglichkeiten gehabt, wenn sie mit Millionen und Abermillionen von Dollar zur Welt gekommen wäre, behauptete sie selber. Die Glorifizierung des »Self-Made-Man« ist am Ende nichts als sentimentales Geschwafel. Im heutigen Kapitalismus soll Geld an Leistung geknüpft sein – das gilt als einer der großen Fortschritte des Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus. Doch dieses Versprechen wurde nie Wirklichkeit, denn natürlich wird aus Geld noch mehr Geld. Es lässt sich nur schwer behaupten, dass Delveys mit ihrer Kreativität, ihrem Ehrgeiz, ihren Kunstkenntnisse, ihrem guter Geschmack weniger geleistet hätte, als die Leute, mit denen sie verkehrte, oder die Banker, von denen sie ihr Geld bekam. Hat Anna Sorokin es nicht verdient, in einem Privatjet zu fliegen oder auf einer Jacht Urlaub zu machen, bloß weil sie nicht tatsächlich reich war? Steht den tatsächlichen Profiteurinnen und Profiteuren der Hedgefonds – wie Fortress, die Anna Delvey fast ausgetrickst hätte – ihr Geld eher zu als dieser kreativen, klugen Migrantin mit einem großen Traum? Nein, natürlich nicht. Es ist legal und gesellschaftlich akzeptabel, von der Zerstörung des Gesundheitssystems, der Verwüstung des Planeten, der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen oder der Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu profitieren. Die Tatsache, dass eine junge Frau im Gefängnis sitzt, weil sie Männern, deren Reichtum von solchen Verbrechen abhängt, ein paar Lügen erzählt hat, sagt mehr über die moralische Leere des Kapitalismus aus als über die moralische Schwäche von Anna Delvey.
Was ist mit den Frauen mit geerbtem Vermögen, die Delvey betrügt? Jeder Mensch kann nachvollziehen, wie es sich anfühlt, von einer, Freundin betrogen zu werden, aber die wirklichen Erbinnen verdienen die Kleider und Jachten, die ihnen gehören, genauso wenig wie Delvey. Die meisten von uns fühlen instinktiv, dass Delvey recht hat, wenn sie sich von den Reichen nicht einschüchtern lässt, wenn sie einer Erbin sagt, welches Gemälde sie kaufen soll, wenn sie in ein nobles Hotel geht und glaubt, dass sie all das und noch viel mehr verdient. Die Geschichte von Anna Delvey ist berauschend, aber sie hat ein düsteres Ende. Im wirklichen Leben und in der Serie kam Anna wegen Betrugs ins Gefängnis. Kurz nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatte, wurde sie von der amerikanischen Einwanderungsbehörde ICE verhaftet, weil ihr Visum überfällig war. Sie befindet sich noch immer in Haft.
Sorokin ist nur aus einem Grund staatlicher Gewalt ausgesetzt: Sie hatte einfach Pech. Wenn es ihr gelungen wäre, die Banken und Hedgefonds zu täuschen, ihr Unternehmen zu finanzieren und erfolgreich zu machen, hätte es niemanden interessiert, dass sie nicht wirklich eine reiche deutsche Erbin ist. Die Investoren wären noch reicher geworden. Sie wäre jetzt »rechtmäßig« reich, es gäbe weiterhin Gerüchte über ihre tatsächliche Herkunft, aber die würden nur zu ihrer geheimnisvollen Aura beitragen. Sie würde immer noch Einladungen zu allen Partys erhalten. Stattdessen sitzt Sorokin im Gefängnis, während die Finanziers, die sie betrogen hat, ungestraft davonkommen. Viele von ihnen sind zweifellos in schlimmere Verbrechen verwickelt, aber bisher hatten sie mehr Glück.
Liza Featherstone ist Kolumnistin bei »Jacobin«, freiberufliche Journalistin und Autorin von »Selling Women Short: The Landmark Battle for Workers' Rights at Wal-Mart«.