05. Juni 2022
Millionen Menschen, die der Staat im Stich lässt, wenden sich hilfesuchend an die Pfingstkirchen – eine Spielart der Evangelikalen. Das ist eine schlechte Nachricht. Denn ihr Erfolg ist ein Symptom des globalen Rechtsrucks.
Priester einer Pfingstkirche weiht eine neue Konvertitin, Rio de Janeiro, 1. Juni 1998.
Im Jahr 2019 ging ein Video des südafrikanischen Pastors Alph Lukau viral. Darin ließ er einen offensichtlich lebendigen Mann »von den Toten auferstehen«. Dieser irrwitzige Auftritt markierte den Höhepunkt eines Wettrüstens unter Propheten: Zuvor hatten einige junge Prediger in ihren Gottesdiensten immer extremere Praktiken angewendet, um aus der Wut und Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation Kapital zu schlagen.
»Professor« Lesego Daniel behauptete zum Beispiel, er habe die Gabe, »Petroleum in Ananas« zu verwandeln, und animierte seine Gemeinde dazu, in einer Art Kommunion Benzin zu trinken. Einer seiner Schützlinge, Pastor Lethebo Rabalago, verdiente sich den Titel »Prophet des Verderbens«, indem er die Kirchenbesucher mit einem Insektizid besprühte, um AIDS-Dämonen auszutreiben. Und der Prophet Penuel Mnguni trampelte auf halbnackten Gläubigen herum und ließ sie lebende Schlangen essen, während er sie vom Bösen befreite.
Das ist kein Weltuntergangskult. Es handelt sich um eine ausgesprochen moderne und sehr extreme südafrikanische Ausprägung des Pfingstchristentums – einem Glauben, der, zumindest was die Zahl der Bekehrungen angeht, mit 600 Millionen Anhängerinnen und Anhängern die am schnellsten wachsende Religion der Welt ist, Tendenz steigend.
Was Mnguni seine »Kirche des Grauens« nennt, scheint mit dem Christentum, wie viele es kennen, kaum etwas gemein zu haben – aber das ist genau der Punkt. Die wildesten, populärsten und reichsten jungen Prediger Südafrikas halten sich nicht an die Normen, und ihre Gemeinden lieben sie dafür. Die neue Pfingstbewegung ist ein großer Mittelfinger an all die Institutionen, die diese Menschen im Stich gelassen haben. Sie ist der Glaube der arbeitenden Armen der Welt.
Ein Viertel der rund 2 Milliarden Christinnen und Christen weltweit sind heute Teil der Pfingstbewegung, 1980 waren es nur 6 Prozent. Die Prognose lautet, dass es bis 2050 eine Milliarde sein werden – und damit jeder zehnte Mensch. Für eine Bewegung, die 1906 in Los Angeles von einem Sohn befreiter Sklaven gegründet wurde und die lange Zeit als das ungeliebte Kind des Christentums galt, ist das durchaus beachtlich.
Die Pfingstbewegung ist eine Strömung des evangelikalen Christentums. Ihre Anhängerinnen und Anhänger werden zuerst wiedergeboren, indem sie Jesus als ihren Herrn und Erlöser anerkennen, bevor sie der Heilige Geist erfüllt und ihnen Gaben wie Wunder, Prophezeiungen und Zungenrede zuteil werden lässt. Viele Vertreterinnen und Vertreter der Pfingstbewegung bezeichnen sich selbst nicht als solche, aber ihre Geist-geleitete oder »charismatische« Praxis ist unverkennbar, auch wenn sie weltweit sehr unterschiedliche Formen annimmt.
Die Pfingstbewegung zog von Anfang an Frauen, Afroamerikanerinnen, Migranten und Arme an. Ihr Aufstieg zum bevorzugten Glauben der arbeitenden Armen lässt sich größtenteils auf ihren dogmatischen Ansatz in Sachen »Gesundheit und Reichtum« zurückführen. Demzufolge soll direkte Erfahrung und persönliche Interaktion mit der Gegenwart Gottes und seinen Wundern den Menschen Erfolg bescheren – bezüglich Körper, Geist, Seele und Geldbeutel.
Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, die Welt zu bereisen, um das bemerkenswerte Wachstum dieser Bewegung zu verstehen. In den USA assoziiert man Evangelikale vor allen Dingen mit weißen Trump-Wählern – das durchschnittliche Mitglied der Pfingsbewegung ist jedoch eine junge Frau im subsaharischen Afrika oder in Lateinamerika. Dazu kommen nordkoreanische Exilanten, die in Seoul ums Überleben kämpfen, Sinti und Roma, die schon lange die Ausgestoßenen Europas sind, und indigene Gemeinschaften Zentralamerikas, die mit den Folgen schmutziger Kriege und Katastrophen zurechtkommen müssen.
Dass seit den 1980er Jahren insbesondere diese Gruppen zur Pfingstbewegung gefunden haben, erzählt uns viel über die Welt, in der wir Leben.
Die jungen südafrikanischen Prediger in ihren bunten Hemden und schicken Anzügen fanden in der Generation der Millennials ein bereitwilliges Publikum. Diese war im Optimismus der Zeit nach dem Ende der Apartheid aufgewachsen, nur um dann bitter enttäuscht zu werden. Man hatte ihnen so viel versprochen – doch dann fand sich diese Generation in einer Gesellschaft wieder, in der die Ungleichheit so hoch ist, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 75 Prozent, über 80 Prozent der Bevölkerung sind nicht krankenversichert und das Bildungssystem versagt.
Die Probleme Südafrikas mögen besonders schwerwiegend sein, jedoch wiederholt sich dieses Muster fast überall auf der Welt. Viele Menschen, vor allem in und um die Großstädte, wenden sich den Pfingstkirchen zu, weil diese die einzigen Orte sind, an denen sowohl ihre spirituellen als auch ihre materiellen Bedürfnisse angesprochen werden.
Durch ihr massives Wachstum wird ihre Kirche zu einer Art Staat im Staat, in dem das Zehnt effektiv eine Form der Besteuerung darstellt. Hier erhalten die Menschen eine gewisse Gesundheitsversorgung sowie Kinderbetreuung und soziale Unterstützung. In einer Zeit, in der die Staaten – in vielen Fällen absichtlich – dabei versagen, Sozialprogramme und einen Lebensstandard zu bieten, der die Grundsicherung gewährleistet, suchen sich die arbeitenden Armen Alternativen.
Die meisten Pfingstkirchen praktizieren den Glauben nicht ganz so wie die Schaustellerprediger in Südafrika, doch auch einige der weniger extremen Bräuche wirken auf Außenstehende befremdlich. Um die religiöse Revolution, die derzeit in Lateinamerika stattfindet, mit eigenen Augen zu sehen, reiste ich in das Arbeiterviertel Brás in São Paulo. In Brasilien ist der Anteil der Pfingstlerinnen und Pfingstler von 3 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1980 auf über 30 Prozent gestiegen und hat damit innerhalb weniger Jahrzehnte die fünfhundertjährige Dominanz der katholischen Kirche gebrochen.
Es war Montagmorgen und die Sonne begann über Salomons Tempel aufgehen – dem 300 Millionen Dollar teuren und 55 Meter hohen Schrein für den Gott der Gesundheit und des Wohlstands und zugleich Hauptsitz der Universalkirche des Königreichs Gottes (Igreja Universal do Reino de Deus, IURD). Während des Gottesdienstes um 7 Uhr morgens schlug ein Mann vor mir eine riesige zerfledderte Bibel auf, legte seine Brieftasche darauf, streckte sie beides in die Höhe und sprach in Zungen zum Himmel. Es heißt, dass die Pfingstkirchen für den Montag beten, nicht für den Sonntag – und genau das hat das Wohlstandsevangelium der IURD weltweit so erfolgreich gemacht.
Gemeindemitglieder der IURD sind dafür bekannt, dass sie in Momenten der Ekstase ihre Autos und Häuser verschenken. Der Gründer der Kirche, Edir Macedo, der mehr als jeder andere für die Popularisierung der Pfingstbewegung in Brasilien getan hat, ist heute ein milliardenschwerer Mogul – aufgewachsen ist er aber in der Favela, eines unter den sieben von insgesamt siebzehn Geschwistern, die ihre Kindheit überlebten.
Macedos große Innovation war es, die Kirchentore frühmorgens und spätabends zu öffnen – zu den Zeiten, in denen Fabrikarbeiter und Dienstmädchen auf dem Weg zu oder von der Arbeit sind. Nach Macedos Ansicht brauchte ein Pfingstprediger keine Ausbildung, sondern lediglich eine Anhängerschaft, und er ermächtigte die einfachen Leute, Kirchen nach ihren eigenen Vorstellungen zu gründen.
Die Pfingstprediger in den Favelas und den armen Dörfern am Rande des Amazonas sehen aus wie die lokale Bevölkerung und sprechen ihre Sprache. Sie sind in denselben Straßen aufgewachsen und haben genau den sozialen Aufstieg geschafft, den ihre Nachbarinnen und Nachbarn anstreben. Sie hören auf der Straße, dass die Mutter von jemandem krank ist, und kommen zu Besuch, um ihr Trost zu spenden. Sie sind Mentoren für ihre Gemeinden und ermutigen Gemeindemitglieder, kleine Straßenverkaufsgeschäfte zu eröffnen, um ihren schrecklichen Chefs zu entkommen. Wenn jemandes Ehemann mal wieder säuft und sich mit anderen Frauen vergnügt, kommen die Prediger persönlich vorbei, um ihm eine Standpauke zu halten.
Sicher, sie verlangen von ihren Schäfchen auch, dass sie mindestens 10 Prozent ihres hart verdienten Geldes an die Kirche abtreten – aber wir leben nunmal in einem System, in dem sich Wertschätzung in Bezahlung ausdrückt. In dieser Hinsicht ist das Wohlstandsevangelium eine unbequeme Antwort auf eine Welt, in der dem Geld jeden Tag gehuldigt wird, nur normalerweise eben nicht in Zeremonien. Es ist zugleich ein Bollwerk in und gegen die materielle Welt.
Und nicht nur das – es gibt auch immer mehr Hinweise darauf, dass das Wohlstandsevangelium hält, was es verspricht. Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen, die in der Armut oder in Kreisläufen von Sucht oder Gewalt feststecken, eine größere Chance haben, diesen zu entkommen, wenn sie sich einer evangelikalen Kirche anschließen. Dass sich Gottes Gunst im materiellen Wohlstand zeigt, wird zu einer »selbsterfüllenden Prophezeiung«.
Das Wohlstandsevangelium ist nicht einfach nur erfolgreich, wo Staaten versagen – es bietet auch einen Anreiz, zu versagen. Eine brasilianische Studie hat festgestellt, dass für jeden Rückgang des BIP um 1 Prozent die Zahl der Evangelikalen um 0,8 Prozent ansteigt. Denn die Kirchen bieten gefährdeten Bevölkerungsgruppen ein soziales Netz, das der Staat ihnen verwehrt.
Die heutige Pfingstbewegung hat viel mit dem globalen politischen Trend zum Rechtspopulismus gemeinsam, der sich gegen die liberale Weltordnung, die Globalisierung, den Feminismus, die Massenmigration und die Mainstream-Wissenschaft wendet. Es ist kein Zufall, dass ihre Popularität mit einer deutlichen Verschiebung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven in allen Teilen der Welt zusammenfällt. Vor allem hat die Pfingstbewegung eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer neuen Art von rechtspopulistischen Anführern wie Donald Trump, Jair Bolsonaro, Viktor Orbán und Rodrigo Duterte gespielt.
Die Pfingstbewegung und der Rechtspopulismus senden dieselben Botschaften. Aber die Pfingstbewegung ist größer als die Politik. Der Glaube folgt den globalen Migrationsstömen der arbeitenden Klasse. Für viele, die zum Arbeiten in Großstädte wie Johannesburg, São Paulo, London und Los Angeles ziehen, stellen diese Kirchen die einzige Form von Gemeinschaft dar.
Die Pfingstbewegung bietet einen direkten Zugang zu spiritueller, sozialer und materieller Versorgung in einer Welt, die ihren Armen all das verwehrt. Allerdings gibt es auch eine wachsende Zahl von Pfingstkirchen, die sich an die Reichen und die Mittelschicht wenden. Schließlich wissen sie, dass der Aufstieg nur schwer möglich ist – und dass jeder, der es nach oben schafft, ein Wunder braucht, um dort auch zu bleiben.
Elle Hardy ist Journalistin und Autorin von Beyond Belief: How Pentecostal Christianity Is Taking Over the World.