13. Juni 2021
Klassenkampf wurde durch Respekt ersetzt. Das rächt sich nun.
ILLUSTRATION MarieSchwab
Niemand dachte wirklich, dass abendliches Applaudieren die Arbeitenden auf den Intensivstationen und an den Supermarktkassen durch die Krise bringen würde. Spätestens als die Bundestagsabgeordneten im Plenum klatschten, verkehrte sich die anfangs noch gut gemeinte Geste in Hohn. Fast zeitgleich lockerte die Regierung das Arbeitszeitgesetz, das Mindestruhen und Höchstarbeitszeiten regelt – Pausen, die einst hart erkämpft wurden.
Die menschennahen Tätigkeiten, die Berufe der Grundversorgung und der Dienstleistung rückten plötzlich ins Zentrum – doch alles, was sie bekamen, war Symbolpolitik. Angela Merkel konnte den Menschen, die »den Laden am Laufen halten«, von Herzen danken, ohne aber Prämien oder ausreichend Arbeitsschutz zu gewähren. Die SPD verspricht im Wahlkampf eine »Gesellschaft des Respekts« und Olaf Scholz spricht bedeutungsschwanger von der Würde der Arbeit«, als hätte er mit dem von seiner Partei geschaffenen Niedriglohnsektor nichts zu tun.
Natürlich sehnen sich Arbeiterinnen und Arbeiter nach Respekt für das, was sie tagtäglich tun. Ein aufrichtiges »Danke« erfreut jeden Menschen und sollte zum Grundrepertoire sämtlicher sozialer Beziehungen gehören. Als politisches Programm hat die reine Anerkennung aber ihre Tücken: Für die Herrschenden ist sie günstig zu haben – ja genau genommen kostet sie überhaupt nichts. Sie bedeutet auch keine Übertragung von Macht oder Entscheidungsgewalt; sie belässt praktischerweise alles genau so, wie es ist. Reale Forderungen der arbeitenden Menschen nach Absicherung, Tarifverträgen oder mehr freier Zeit werden mit Respekt übertüncht.
Diese Form von Politik, die sich darauf beschränkt, die richtige Haltung zu verkörpern oder die überlegene moralische Sicht auf die Dinge zu vertreten, ist schon seit einiger Zeit im Kommen. Virtue signaling, also die Zurschaustellung von Tugendhaftigkeit, ist wichtiger geworden als politische Ergebnisse. Eine überschwängliche Geste oder die Übernahme eines Symbols können ausreichen, um sich auf der Seite der Guten zu behaupten.
Auch wenn die griffbereiten Anglizismen das vermuten lassen, handelt es sich bei dieser Wende zur moralisch aufgeladenen Politik um keine angelsächsische Erfindung. Die Kritische Theorie, eine der Hauptreferenzen der zeitgenössischen Sozialtheorie und prägend für Generationen von Linken in der Bundesrepublik, sagte sich in ihrer zweiten Generation durch Jürgen Habermas von der »Arbeit« und ihrer marxistischen Analyse los und ersetzte sie durch Interaktion« und später »Kommunikation«. Was nach einer sprachlichen Spitzfindigkeit klingen mag, war in Wahrheit eine sozialwissenschaftliche Wende, die sich bis heute in den meisten politischen Diskussionen niederschlägt.
Axel Honneth, Hauptfigur der dritten Generation der Kritischen Theorie, drehte das Rad noch etwas weiter und hob den Begriff der Anerkennung ins Zentrum seines Denkens. Obwohl er damit weniger Bekanntheit erlangte als seine Vorgänger, drang seine Grundidee tief in die Kapillaren der gesellschaftlichen Debatte ein. Indem die Kritische Theorie die Analyse von Arbeit und Klassen hinter sich ließ und sich einer Theorie der Anerkennung verschrieb, schuf sie – wenn auch unabsichtlich – ein Ge genangebot zu der Kritik an ökonomischen Machtverhältnissen. Ein für viele attraktives Angebot zudem, da die Sprache der Anerkennung in der akademischen Umgebung weniger aneckte als das marxistische Insistieren darauf, dass zunächst das Fressen kommt und dann erst die Moral. Und auch sozialdemokratische Parteien haben es mit dieser Form der Anerkennungspolitik leichter, minimale Verbesserungen für die arbeitende Klasse mit dem großen Wort des »Respekts« zu überschreiben.
Gerade in einer pandemischen Krise, welche die unbedingt notwendige Arbeit an und mit den Menschen und ihren Grundbedürfnissen ins Zentrum gerückt hat, hätte ein zupackendes Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse geholfen, sich von Anfang an nicht mit Applaus abspeisen zu lassen. Diese Anerkennungspolitik ist auch deshalb so krachend gescheitert, weil sie es nicht mehr schafft, die Not der Massen zu überdecken, die im wachsenden Dienstleistungssektor arbeiten. Dabei sind diese Tätigkeiten besonders anfällig für anerkennende Gesten: Der sehr weibliche und menschennahe Sektor lebt gewissermaßen von der Aufopferungsbereitschaft der Einzelnen.
Doch wenn ein Pfleger in einer Talkshow auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie sagen muss, dass Klatschen einfach nicht ausreicht, dann verschafft sich die Lebenswirklichkeit der arbeitenden Menschen wieder Gehör. Nimmt man ihre Forderungen ernst, merkt man schnell, dass bloße Anerkennung ohne Umverteilung von Macht, Zeit, Geld und Ressourcen eigentlich gar keine ist.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.