29. September 2022
Die Inflation hat die 10-Prozent-Marke geknackt. Wenn wir nicht in eine Insolvenz- und Armutswelle schlittern wollen, brauchen wir jetzt eine großangelegte Investitionsoffensive. Die Gaspreisbremse zeigt: das Geld ist da.
Für dasselbe Geld immer weniger bekommen – diese Teuerungsspirale ist keine Naturgewalt, sie wird politisch forciert.
Unsplash / Viki Mohamad (eingefärbt)Von Rekord zu Rekord – so lässt sich derzeit die Inflationsrate beschreiben. Das führt dazu, dass wir uns von unserem Geld immer weniger kaufen können – um es genau zu nehmen, können wir uns heute von demselben Geld 10 Prozent weniger leisten als im letzten Jahr. Das zeigen die neuesten Inflationszahlen. Mit 43,9 Prozent sind die Energiepreise am stärksten gestiegen. Mittlerweile sind aber vor allem auch Lebensmittelmittel um satte 18,7 Prozent teurer als im Vorjahr. Wenn man diese beiden Gütergruppen herausrechnet, also nur die sogenannte Kerninflation betrachtet, ist die Inflationsrate immer noch relativ moderat.
Die hohen Energiepreise haben sich bisher also noch kaum in andere Bereiche wie Dienstleistungen übertragen. Das steht uns allem Anschein nach noch bevor. Vor allem in der Lebensmittelbranche wollen die Unternehmen Umfragen zufolge weiter die Preise erhöhen. Da Lebensmittel einen relativ großen und kaum variablen Kostenblock des privaten Konsums ausmachen, zieht das erhebliche Folgen nach sich. Hinzu kommt, dass sich die Ampel bei Maßnahmen, die auf den Lebensmittelmarkt abzielen, erstaunlich zurückhält – im Vergleich zum Energiemarkt. Gerade erst hat sich die Ampel auf die Finanzierung einer Gaspreisbremse geeinigt und auch die Einführung eines Strompreisdeckels ist absehbar.
Die steigenden Verbraucherpreise sind hauptsächlich eine Konsequenz steigender Erzeugerpreise. Sie laufen den Erhöhungen der Verbraucherpreise immer voraus. Und eben diese Erzeugerpreise waren im August auf einem neuen Rekordhoch, was maßgeblich auf die steigenden Energiepreise zurückzuführen ist.
Das Zusammenspiel von sinkender Nachfrage bei den Verbrauchern und steigenden Kosten bei den Unternehmen bildet die Grundlage für eine kommende Wirtschaftskrise. Der Konsumklimaindex und der Geschäftklimasindex sind abgestürzt, die Prognosen für die Zukunft sind düster. Dazu kommen die Lecks an Nord Stream 1 und Nord Stream 2, weshalb diese zur Gasversorgung im Winter praktisch nicht nutzbar sind.
»Die Partei der Wirtschaft« macht Politik gegen die Wirtschaft – mit Christian Lindner an der Spitze. In praktisch allen Fragen schlägt der Finanzminister die falsche Richtung ein. Mit seinem Handeln forciert er geradezu eine Insolvenz- und Armutswelle. Lindner pocht weiterhin auf die Einhaltung der Schuldenbremse im kommenden Jahr und wollte bis vor kurzem keine weiteren Schulden im Jahr 2022 aufnehmen. Damit wäre die Katastrophe besiegelt gewesen. Das hat sich nun geändert. Lindner hat dem immensen Druck der Forderungen nach einem Gaspreisdeckel nachgegeben. Für diese Maßnahme werden bis zu 200 Milliarden Euro bereitgestellt. Das ist zwar richtig, weitet den generellen Handlungsspielraum des Staates aber nicht langfristig aus. Das betont Lindner auch bei jeder Gelegenheit, da die Schuldenbremse für den Bundeshaushalt weiterhin gilt und Steuererhöhungen für Reiche weiterhin ausgeschlossen sind. Dabei fordert zum Beispiel mittlerweile selbst der EZB-Chefvolkswirt höhere Steuern für Reiche.
Bei der Schuldenbremse sieht es ähnlich aus: Der Präsident des Instituts der Deutschen Wirtschaft Michael Hüther hat sich in einem Gastbeitrag mit dem SPD-nahen Ökonom Jens Südekum für die Nutzung der Notfallklausel der Schuldenbremse im kommenden Jahr ausgesprochen. Genau für solche Notlagen, wie wir sie grade erleben, sei diese Klausel schließlich da. Damit erübrigt sich auch Lindners Scheinargument, der immer wieder darauf verweist, dass die Schuldenbremse in der Verfassung stünde – denn genau da steht eben auch die Notfallklausel.
Die Nutzung der Notfallklausel würde weitere Investitionen ermöglichen, um Energie langfristig wieder bezahlbar zu machen. Auch Entlastungen würden weiterhin möglich sein – Entlastungen, wie sie zum Beispiel die Initiative »Genug ist Genug« vorschlägt. Neben dem Energiepreisdeckel plädiert die Kampagne für ein zu versteuerndes Wintergeld von 1.000 Euro und eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets. Beides wäre genauso problemlos finanzierbar wie die 200 Milliarden für die Gaspreisbremse oder die 100 Milliarden für die Bundeswehr.
Klar ist aber auch: Es braucht eine Investitionsoffensive. Und dafür reicht es nicht, die Schuldenbremse ein Jahr auszusetzen. Es braucht strukturelle Reformen, sowohl in der Steuerpolitik als auch bei der Schuldenbremse. Erst mit wirklichem Spielraum kann man die Realisierung von Investitionen wirklich beschleunigen, etwa durch mehr Ressourcen für Planungsverfahren oder die Ausbildung von Handwerkerinnen und Handwerkern. Genauso braucht es weitere strukturelle Entlastungen für die große Mehrheit wie zum Beispiel eine armutsfeste Grundsicherung oder eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel.
Wenn man all das tun würde, dann müsste die Europäische Zentralbank auch nicht die Zinsen immer weiter anheben, um die Inflation senken zu wollen. Das sehen mittlerweile auch viele Ökonomen kritisch, da die Inflation über die Nachfrage gesenkt werden soll. Die Nebenwirkung: Die Wirtschaft wird abgewürgt. Und das obwohl die hohen Zinsen nahezu keinen Einfluss auf die Energiepreise haben und die Klimawende sogar noch blockieren.
Aber auch die EZB ist in der Zwickmühle. Denn: Der Ball liegt grade bei der Politik – insbesondere bei der Finanzpolitik. Wenn hier gehandelt wird, kann die EZB auf die Riesen-Zinsschritte verzichten. All das ist aber nur möglich, wenn Finanzpolitik beginnt, unter anderen Vorzeichen zu handeln. Wir brauchen einen Staat, der entschlossen ist und sich in der Krise nicht vornehm zurückhält.
Lukas Scholle ist Ökonom und Kolumnist bei JACOBIN.