22. März 2022
Wladimir Putin behauptet, die Bevölkerung im Donbass zu beschützen. In Wahrheit wird das Gebiet militärisch kontrolliert, Arbeitskämpfe werden zerschlagen – ein unheilvoller Ausblick auf die Zukunft, die Putin anvisiert.
Bewohner des Dorfes Warwariwka in Luhansk vor von Bomben zerstörten Wohnhäusern, 21. März 2022.
Wera Jastrebowa arbeitet als Anwältin und Gewerkschafterin in Donezk. Am am 26. Februar berichtete sie, dass Mütter und Ehefrauen in den »Volksrepubliken« im Donbass verzweifelt nach Wegen suchten, um ihre Männer vor dem Einzug in den Krieg zu bewahren. »Sie rufen an und sagen, dass die Männer aus den [Kohle-]Minen geholt und direkt an die Front geschickt werden, obwohl sie keine militärische Erfahrung haben«, schrieb Jastrebowa.
Aktivisten in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten hatten in derselben Woche von ihren Kameraden in den »Volksrepubliken« erfahren, dass über 50-Jährige einberufen wurden, weil ihre Milizen nicht genügend Soldaten rekrutiert hatten. Diese Tatsachen stehen in krassem Gegensatz zur Rhetorik des Kremls, der die kleinen Quasi-Staaten als Bastionen des Widerstands gegen ein »Nazi«-Regime darstellt.
Die auf Russisch als Donezkaja Narodnaja Respublika (DNR) und Luganskaja Narodnaja Respublika (LNR) bezeichneten Gebiete umfassen den östlichen Teil der Regionen Donezk und Luhansk. Die westlichen Teile blieben auch nach 2014 unter Kontrolle der ukrainischen Regierung. Trotz der Bezeichnung »Volksrepublik« wurden Arbeiterinnen und politische Dissidenten routinemäßig eingeschüchtert, Gewalt institutionalisiert und Menschenrechte mit Füßen getreten. Außerdem brach die Industrie zusammen, der Lebensstandard ist rapide gesunken.
Die harten Bedingungen, die seit der Gründung dieser Kleinststaaten im Jahr 2014 vorherrschen, sind zwar kein exaktes Abbild dessen, wie von Russland unterstützte Kräfte oder Russland selbst andere Teile der Ukraine verwalten könnten, wenn sie diese mit Gewalt übernehmen. Aber das Elend, das die Bevölkerung dieser »Volksrepubliken« in den letzten acht Jahren erdulden musste, liefert dennoch einige Anhaltspunkte.
Am Ende des Krieges in der Ostukraine 2014–15 gaben russische Nationalisten die Bestrebung zur Gründung des Staates »Noworossija« (Neurussland), der die sechs südöstlichen Regionen der Ukraine umfassen sollte, auf. Putin hatte 2014 in seinen Reden zwar davon gesprochen, die Idee jedoch danach ad acta gelegt: Die beiden »Volksrepubliken« sollten voneinander und von Russland getrennt bleiben.
Das Minsker Abkommen von 2015 verlangte von der Ukraine, den Spielraum örtlicher Behörden auszuweiten und Streitkräfte abzuziehen – doch das geschah nicht. Moskau schien jedoch damit zufrieden zu sein, diese separatistischen Staaten so zu belassen, wie sie waren – als Dorn im Inneren des ukrainischen Staates.
Erst Mitte 2019 gab es erste Anzeichen dafür, dass sich die Politik des Kremls in Richtung Anerkennung oder Integration bewegte: Putin versuchte durch zwei Präsidialdekrete russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainern sowohl in den »Volksrepubliken« als auch in den ukrainisch kontrollierten Gebieten die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Inzwischen wurden mehr als 800.000 Pässe ausgestellt, was mehr als einem Drittel der verbleibenden erwachsenen Bevölkerung in den Teilstaaten entspricht.
Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Wostotschnaja Prawosaschtschitnaja Gruppa (WPG), die von Gewerkschaftern gegründet wurde, die aus Donezk in die ukrainisch kontrollierten Gebiete vertrieben wurden, markiere diese »Passvergabe« das Streben nach »permanenter [russischer] Kontrolle« über die »Republiken«. Sie ging mit einer Militarisierung und der Integration in das russische Bildungssystem einher, insbesondere durch die Einführung einer »militärisch-patriotischen« Erziehung in Schulen und Sportvereinen.
Vor den russischen Parlamentswahlen 2021 wurde die Bevölkerung der »Republiken« dazu aufgefordert, online ihre Stimme abzugeben, und es gab Busse, die Bewohnerinnen und Bewohner zu Wahllokalen in der Region Rostow transportierten. Halja Kojnasch von der WPG in Charkiw berichtete, dass ganze Massen der dortigen Bevölkerung als neue Parteimitglieder der dominierenden Pro-Putin-Partei »Einiges Russland« (Jedinaja Rossija, JR) eingetragen wurden.
Am Wahltag des vergangenen Jahres traf Dmitri Sablin, ein führender JR-Abgeordneter, in Donezk ein und verkündete, dass man versuche, »dieses Gebiet mit Russland zu vereinen«. Eine Flut ähnlicher Äußerungen ließ Beobachterinnen und Beobachter vermuten, dass der Kreml doch eher eine Annexion als eine Anerkennung der »Republiken« in Erwägung zog.
Die loyalen Oppositionsparteien »Gerechtes Russland – für die Wahrheit« (Sprawedliwaja Rossija – Sa Prawdu, SRSP) und die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) hatten dieser Propagandaoffensive den Weg geebnet; Abgeordnete beider Parteien waren seit 2015 regelmäßig in den Donbass gereist. Sergej Mironow, ehemaliger Vorsitzender des Oberhauses des russischen Parlaments und Vorsitzender der nominell sozialdemokratischen, tatsächlich aber ultranationalistischen SRSP befürwortete die russische Integration der »Republiken«. Und es waren Abgeordnete der KPRF, die im Februar im russischen Parlament einen Antrag einreichten, der Putin dazu aufforderte, die »Republiken« anzuerkennen – was die JR dann sogar unterstützte. Zwei Abgeordnete der KPRF haben seitdem gegen den Krieg protestiert.
Der Einsatz für die »russische Welt« – die nach Putins Ansicht neben Russland auch Teile der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken umfasst – hat eine dunkle Seite: Unter seinem Deckmantel werden ukrainischsprachige Menschen und Unterstützerinnen der ukrainischen Regierung einer gewaltsamen und willkürlichen Strafverfolgung durch die Behörden der Separatisten-Gebiete ausgesetzt. An der Spitze einer Liste der UN, die Angriffe auf die Meinungsfreiheit in den Jahren 2019–21 aufführte, stand die Verurteilung eines Geschäftsmannes aus Luhansk: Weil er öffentlich pro-ukrainische Ansichten geäußert hatte, wurde eine Haftstrafe von dreizehneinhalb Jahren verhängt.
Im Jahr 2020 wurden drei Männer inhaftiert, weil sie Lieder auf Ukrainisch gesungen, die Regierung in Kiew gelobt und die Behörden in Luhansk kritisiert hatten – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des UN-Berichts im Oktober 2021 hatte es immer noch kein Gerichtsverfahren gegeben. Die »Volksrepublik Luhansk« verwehrt der UN Informationen, sodass der Verbleib dieser drei Männer unbekannt bleibt.
Diese schleichende Integration ist auch für die Bewohnerinnen und Bewohner der »Republiken«, die in das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet reisen müssen, eine Tragödie. Das gilt besonders für Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe. Die meisten Grenzübergänge wurden während der Corona-Pandemie geschlossen. Daraufhin begannen örtliche Transportunternehmen, Fahrten über russisches Gebiet anzubieten; doch die ukrainischen Grenzbeamten verhängten Bußgelder, bis Proteste aus der Bevölkerung endlich eine Gesetzesänderung bewirkten.
Der Donbass war in der Vergangenheit ein Zentrum des Kohlebergbaus, der Stahlerzeugung und der chemischen Industrie. Nachdem sich die Ukraine von dem katastrophalen wirtschaftlichen Einbruch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erholt hatte, wurde der Export von Stahl, Kohle und Lokomotiven zunehmend zum wirtschaftlichen Motor des Donbass; Russland blieb der größte Absatzmarkt. Die Wirtschaft in anderen Regionen wuchs schneller und profitierte in einigen Fällen von neueren Sektoren und Dienstleistungen. Doch der Krieg 2014–15 und die anschließende Teilung des Donbass entwurzelten die Bevölkerung und zerstörten die lokale Industrie.
Bis 2021 hatte der Krieg rund 14.000 Menschenleben gefordert, darunter etwa 4.000 Zivilisten; schätzungsweise 30.000 wurden schwer verletzt. Ein Großteil der Bevölkerung des Donbass wurde vertrieben: Von den 6,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, die vor dem Krieg dort lebten, sind schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen geflohen; davon leben 1,8 Millionen als Binnenvertriebene in der Ukraine und 1,5 Millionen in Russland und Belarus. Ganze Städte und Dörfer sind mittlerweile menschenleer.
Der UN zufolge war der Donbass schon vor der russischen Invasion in diesem Jahr eines der am stärksten mit Minen verseuchten Gebiete der Welt.
In den ersten vier Jahren des Konflikts (2014–17) schrumpfte die Wirtschaft des Donbass um 61 Prozent, wie der Wirtschaftswissenschaftler Wlad Michnenko feststellte – vor allem aufgrund einer »schnellen und starken Deindustrialisierung«. Die Industrieproduktion in Luhansk ging um mehr als vier Fünftel zurück, die in Donezk sogar um die Hälfte. Dutzende von Bergwerken wurden geschlossen und überflutet, während die informelle Kohleförderung de facto legalisiert wurde. Stahlwerke und Produktionskapazitäten liegen still.
Der Außenhandel brach ebenfalls zusammen; der Handel in Luhansk kam fast zum Erliegen, während er in Donezk um beinahe zwei Drittel zurückging. Was jetzt noch von der Wirtschaft übrig geblieben ist, wurde eng an Russland gebunden; der Rubel ist seit 2015 die wichtigste Währung.
Im Zuge dessen ist der Lebensstandard drastisch gesunken. 2017 lagen die Durchschnittslöhne in Donezk bei umgerechnet 174 US-Dollar pro Monat (38 Prozent des Niveaus vor 2014) und in Luhansk bei 229 US-Dollar pro Monat (56 Prozent des Niveaus vor 2014), wie Michnenko darlegt. Häufig werden Löhne sogar gar nicht ausgezahlt.
Die Arbeitslosigkeit in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen des Donbass lag 2018 bei 14–16 Prozent. Für die »Volksrepubliken« liegen keine Daten vor, aber die Erwerbslosigkeit dürfte ähnlich hoch sein. Gleichzeitig herrscht ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, darunter medizinisches Personal, Minenarbeiter und Pädagoginnen. Eine Umfrage der WPG ergab, dass qualifizierte Arbeitskräfte abwandern, wenn sie können – die örtlichen Behörden fördern die Arbeitsmigration nach Russland sogar.
Vor 2014 wurde ein Großteil der Schwerindustrie im Donbass von der SKM-Finanzgruppe kontrolliert. Dessen Eigentümer, Rinat Achmetow, ist einer der vermögendsten und politisch einflussreichsten Oligarchen der Ukraine. Im Februar 2017 blockierten ukrainische Nationalisten mit Verbindungen zu Ihor Kolomojskyj, einem konkurrierenden Oligarchen, den Export von Achmetows Kohle aus den »Republiken« in die Ukraine; die organisierte Arbeiterschaft protestierte dagegen.
Die bewaffneten Kräfte der Separatisten beschlagnahmten daraufhin Achmetows Vermögen und übergaben es – trotz der Rhetorik der »Verstaatlichung« – an das Unternehmen Vneshtorgservis (VTS). Letzteres hat seinen Sitz in Südossetien, einer von Russland besetzten Enklave in Georgien, und wird von Serhij Kurtschenko, einem Milliardär mit Verbindungen zum ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch kontrolliert. (Mitte 2021 wurde Kurtschenko durch Jewgeni Jurtschenko ersetzt).
Die Zusammenarbeit zwischen der VTS und der politischen und militärischen Führung der »Volksrepubliken« sowie den russischen Eliten geht weit über den üblichen »Drehtüreffekt« hinaus – die meisten Beobachter halten sie für untrennbar.
Der Soziologe Sergej Kudelia schrieb 2017: »In Wirklichkeit nehmen die ›Republiken‹ allmählich die Züge eines militärisch-bürokratischen Regimes an, in dem Militärs und Beamte die Gesellschaft durch Zwang und die Monopolisierung der Wohlstandsverteilung beherrschen.«
Doch die wirtschaftliche Katastrophe in den »Volksrepubliken« ist nicht allein das Ergebnis der politischen Führung; sie ist größtenteils eine Konsequenz von Krieg und Rezession. Mit nur einem Bruchteil der Mittel, die der russische Staat jetzt in die Verwüstung der Ukraine pumpt, hätte die Wirtschaft umgebaut und der Übergang zu neuen Industriezweigen eingeleitet werden können – es ist ein ungeheuerlicher Ausdruck des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, dass es anders gekommen ist.
Soziales und politisches Engagement wird von den militarisierten Behörden drastisch eingeschränkt. Die UN berichtete, dass es aufgrund von »Angst und Selbstzensur« keine öffentliche Diskussion über »heikle politische Themen« mehr gibt und dass Proteste gegen die ökonomischen Bedingungen, wie etwa Streiks, »ernsthafte Konsequenzen, einschließlich willkürlicher Verhaftungen« nach sich ziehen.
Trotz der Bezeichnung »Volksrepublik« stößt die tatsächliche politische Beteiligung der Bevölkerung an harte institutionelle Grenzen. In der Donezker »Volksrepublik« führten die Militärbehörden 2014 eine »überparteiliche Demokratie« (!) ein. Die politische Macht liegt beim »Volksrat« und dieser lässt nur eine legale Partei zu: die Kommunistische Partei der Donezker Volksrepublik – und das, obwohl der »Volksrat« Vertreterinnen und Vertreter der Kommunistischen Partei erst 2016 ausgeschlossen hatte. Das Parlament wird von zwei »sozialen Bewegungen« dominiert, die einen hohen Anteil an Militärs in ihren Reihen haben. Wie der Politikwissenschaftler Kimitaka Matsuzato darlegt, hat der Chefideologe des Kreml Wladislaw Surkow mit Donezk-Beamten zusammengearbeitet, um dieses System aufzubauen.
Organisierte Arbeitskämpfe gab es in den »Republiken« bisher kaum. Am meisten Aufsehen erregte in den letzten Jahren ein Sitzstreik von 119 Bergleuten im Bergwerk Komsomolskaja in Antrazyt, weil dort monatelang keine Löhne gezahlt wurden. Vierzehn Beteiligte wurden wegen »wiederholter Verstöße gegen die bestehende Ordnung, die Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Treffen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Streikposten« verhaftet und mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Mit ihrer Freilassung und der Auszahlung der ausstehenden Löhne endete die Auseinandersetzung.
Die öffentliche Einschüchterung der Zivilgesellschaft wird durch ein undurchsichtiges System aus Folter, Demütigung und Zwangsarbeit in Militärgefängnissen verstärkt. Der Journalist Stanislaw Asejew, der 2017–19 31 Monate in Donezk inhaftiert war und im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen wurde, berichtete über körperliche Folter (Elektroschocks und Schläge auf die Genitalien), Vergewaltigungen von Männern und Frauen sowie andere Misshandlungen, die ihm und anderen widerfuhren.
Die Gewerkschafter bei der WPG haben in einem Bericht von 2016 aufgedeckt, dass Inhaftierte in den Gefängnissen von Luhansk Zwangsarbeit verrichten mussten. Gefangene, die vor 2014 nach ukrainischem Recht verurteilt wurden, waren einem rechtsfreien Regime ausgeliefert, das Gefangene ohne Bezahlung in Tischlereien, Metallwerkstätten und anderen Produktionsstätten arbeiten ließ.
Insassen, die sich weigerten, wurden von bewaffneten, maskierten Männern zusammengeschlagen, drei Tage lang ohne Versorgung in Einzelhaft gehalten und unter Androhung von Schlägen gezwungen, acht bis zehn Stunden in der brennend heißen Sonne zu stehen. Als die Gefangenen gemeinsam protestierten, riefen die Wärter Sonderkommandos des Innenministeriums hinzu, um den Widerstand niederzuschlagen.
Gewerkschaftsaktivistinnen und Menschenrechtler haben die »Volksrepubliken« nach einer Razzia im Jahr 2014 größtenteils verlassen; diejenigen, die geblieben sind, halten sich »aus Angst vor Verfolgung bedeckt«, heißt es im UN-Bericht. Auch Frauenrechtsorganisationen und Gruppen zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt führen ein Schattendasein.
Zu den Gruppen, die sich in den ukrainisch kontrollierten Teilen des Donbass organisiert und soziale Bewegungen in den »Republiken« unterstützt haben, gehören:
Die »Volksrepubliken« im Donbass wurden während ihres gesamten Bestehens von der russischen Regierung politisch und militärisch unterstützt. Ihre Wirtschaft ist eng mit der Russlands verflochten. Sollte Russland die Kontrolle über andere Teile der Ukraine behalten, könnte diese Art von Regime auch dort Fuß fassen.
Simon Pirani ist Aktivist und Autor des Buches »Burning Up: A Global History of Fossil Fuel Consumption«. Er betreibt den Blog peoplenature.org.
Simon Pirani ist Aktivist und Autor des Buches »Burning Up: A Global History of Fossil Fuel Consumption«. Er betreibt den Blog p