28. Oktober 2022
Am Sonntag steht Brasilien vor der Stichwahl. Lula gilt als Favorit. Doch die Wahlergebnisse der ersten Runde zeigen, dass Bolsonaro eine Basis aufgebaut hat, die so schnell nicht wieder verschwinden wird.
Anhängerinnen von Bolsonaro bei einer Wahlkampfveranstaltung, Rio de Janeiro, 24. Juli 2022.
IMAGO / Xinhua2018 schockierte Jair Bolsonaro die Welt, als er aus relativer Bedeutungslosigkeit emporstieg und Präsident von Brasilien wurde. Sein unerwarteter Erfolg beruhte auf einem Paradoxon. Bolsonaros hauptsächliche Basis war Brasiliens überwiegend weiße Mittel- und Oberschicht. Um in einem Land, in dem 70 Prozent der Bevölkerung weniger als zwei Mindestlöhne (etwa 450 Euro pro Monat) verdienen und sich mehr als die Hälfte als Schwarz oder multiethnisch bezeichnet, reicht das jedoch nicht aus, um Wahlen zu gewinnen. Wenn wir Bolsonaros Erfolg begreifen wollen, müssen wir auch seine Anziehungskraft auf viele nicht-weiße Brasilianerinnen und Brasilianer mit niedrigem Einkommen verstehen.
Sein Sieg erschien seinerzeit besonders paradox, zumal die Mitte-Links-Regierung der Partido dos Trabalhadores (PT) 2003–2016 dreizehn Jahre lang an der Macht war und die Armut im Land in beeindruckendem Ausmaß zurückdrängen konnte. Während Wählerinnen und Wähler mit niedrigem Einkommen die PT in dieser Zeit tendenziell unterstützten, lehnte die Mittelschicht sie vehement ab. Bolsonaros Sieg schien dieser Logik zu widersprechen und warf Fragen auf: Wie war es ihm gelungen, die Eliten, die den sozialen Aufstieg der populären Schichten blockieren wollen, zusammen mit einem beträchtlichen Teil eben dieser populären Schichten in ein und derselben Wahlkoalition zusammenzubringen? Und wie lange würde dieses Bündnis halten?
Nach vier Jahren der Regierung Bolsonaro und im Eifer des Gefechts einer neuen Präsidentschaftswahl ist jetzt ein guter Zeitpunkt, diese Fragen aufs Neue zu stellen. Auf die zweite haben wir jetzt eine klarere Antwort: Bolsonaros Massenwirksamkeit ist weitaus langlebiger, als viele angenommen haben. Bei der Wahl am 2. Oktober hat Bolsonaro, obwohl er die weltweit schlimmste Pandemiebekämpfung, einen enormen Anstieg der Abholzungsraten im Amazonas und ständige Angriffe auf demokratische Institutionen zu verantworten hat, nur geringfügig weniger Stimmen erhalten als beim ersten Wahlgang im Jahr 2018 (43 Prozent im Vergleich zu 46 Prozent). Er tritt nun in einer Stichwahl gegen den Kandidaten der PT an, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der in der ersten Runde 48 Prozent der Stimmen erhielt.
Selbst wenn Bolsonaro verliert, ist klar, dass der Bolsonarismo – seine ideologische Agenda, sein Präsentationsstil und die politischen Kräfte, die sich um ihn versammelt haben – Brasilien auch in den kommenden Jahren prägen wird. Die Partido Liberal (PL), der er sich 2021 angeschlossen hat, ist in beiden Kammern des Kongresses die stärkste Kraft geworden, hat damit die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien endgültig verdrängt und stellt ein gewaltiges Hindernis für die Reformbestrebungen einer möglichen Lula-Regierung dar.
Der Bolsonarismo ist unbestreitbar zu einer dauerhaften politischen Kraft geworden. Aber wie steht es mit der ersten Frage? Stützt er sich immer noch auf ein sozial heterogenes Wahlbündnis, und wenn ja, wie hat er diese Koalition über die letzten Jahre beisammengehalten? Ein Vergleich der Umfragen zum ersten Wahlgang des führenden brasilianischen Meinungsforschungsinstituts Datafolha für die Jahre 2018 und 2022 bietet einige Anhaltspunkte dafür, wie sich die soziale Zusammensetzung von Bolsonaros Basis entwickelt hat.
2018 führte Bolsonaro mit großem Vorsprung in den beiden obersten Einkommensgruppen (die mehr als das Zehnfache des Mindestlohns beziehungsweise zwischen fünf und zehn Mindestlöhne verdienen). Er hatte jedoch auch einen sehr deutlichen Vorsprung in der dritten Einkommensgruppe (zwei bis fünf Mindestlöhne) und lag in der niedrigsten Einkommensgruppe (unter dem Zweifachen des Mindestlohns) nur knapp zurück. Beim ersten Wahlgang in diesem Jahr ist die Unterstützung für Bolsonaro in den drei unteren Einkommensgruppen jeweils um 6–8 Prozent zurückgegangen, in der obersten Einkommensgruppe aber ungefähr doppelt so stark.
Im Gegensatz dazu sind die Stimmen für die PT in den unteren drei Gruppen deutlich um 15–17 Prozent gestiegen und in der obersten Gruppe sogar um 25 Prozent. Einander gegenübergestellt suggerieren diese Zahlen einen gleichmäßigen Schwenk weg von Bolsonaro in den unteren drei Gruppen (wenn auch von sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen) und einen viel größeren bei den Spitzenverdienenden.
Andererseits liegt Bolsonaro dank seines enormen Vorsprungs im Jahr 2018 in den drei oberen Gruppen weiterhin leicht vorn und genießt immer noch die Unterstützung von über 20 Prozent der ärmsten Wählerinnen und Wähler. Im Großen und Ganzen können wir also sagen, dass Bolsonaro noch immer eine erhebliche klassenübergreifende Anziehungskraft ausübt.
Diese Analyse hat jedoch ihre Grenzen. Die Umfragen im Vorfeld der diesjährigen Wahl haben Bolsonaros Ergebnis deutlich unterschätzt. Außerdem erfassen diese Einkommensspannen jeweils sehr große Bevölkerungsgruppen, die in sich sozioökonomisch und politisch sehr vielfältig sind. Allein die Tatsache, dass jede dieser Gruppen zu einem gewissen Grad zwischen den beiden Kandidaten aufgeteilt ist, deutet darauf hin, dass wir andere Faktoren berücksichtigen müssen, wenn wir Bolsonaros anhaltende klassenübergreifende Anziehungskraft verstehen wollen.
Diesbezüglich bieten die Wahlergebnisse selbst einen besseren Einblick. Sie erfassen zwar keine demografischen Variablen auf individueller Ebene, doch sie offenbaren die sich verändernde Geografie von Bolsonaros Wählerschaft. Und sie zeigen einen Riss, der sich quer durch die brasilianische Wählerschaft zieht: zwischen denjenigen, die das unvollendete Projekt, einen funktionalen, demokratischen und zumindest moderat umverteilenden Staat in Brasilien aufzubauen, immer noch unterstützen, und denjenigen, die es jetzt ablehnen.
Betrachtet man die fünf Makroregionen Brasiliens – den Nordosten, den Norden, den Zentralwesten, den Südosten und den Süden –, so bestätigt der erste Wahlgang in diesem Jahr im Wesentlichen die Trends der letzten Präsidentschaftswahlen, wenn auch mit einigen wichtigen Verschiebungen. Das beste Ergebnis erzielte Lula im Nordosten, der ärmsten Region Brasiliens mit der zweitgrößten Bevölkerung. Die nordöstlichen Bundesstaaten haben seit den 2000er Jahren bei jeder Präsidentschaftswahl mit solider Mehrheit für die PT gestimmt – auch 2014 und 2018, als die Unterstützung für die Partei in allen anderen Regionen drastisch zurückging. Von einem ohnehin schon hohen Niveau im Jahr 2018 ist die Unterstützung für die PT in der gesamten Region in diesem Jahr erneut gestiegen.
Nehmen wir zum Beispiel den Bundesstaat Piauí: Dort gingen 2018 in der ersten Runde 63 Prozent der Stimmen an die PT und in diesem Jahr enorme 74 Prozent. Selbst der Bundesstaat Alagoas, in dem die PT ihr schlechtestes Ergebnis im Nordosten verzeichnete, brachte ihr immer noch einen höheren Stimmenanteil als jeder andere Bundesstaat außerhalb der Region und bevorzugte Lula mit 57 Prozent deutlich gegenüber Bolsonaro mit 36 Prozent.
Auch wenn es naheliegend scheint, dass die ärmste Region Brasiliens die wichtigste Mitte-Links-Partei des Landes wählt, war dies nicht immer der Fall. In den 1990er Jahren wählte der Nordosten, wie auch der Rest des Landes, mit überwältigender Mehrheit Mitte-Rechts-Kandidaten. Die jüngere Loyalität gegenüber der PT ist Ausdruck einer starken regionalen Identifikation nicht nur mit Lula (der selbst aus dem Nordosten stammt), sondern auch mit der Partei insgesamt. Sie bezeugt die historische Entwicklung einer politischen Kultur, die die unter der PT erzielten Errungenschaften anerkennt und versucht, dieses Erbe zu verteidigen und zu erneuern.
Zwar sollte man die Bedeutung der parteipolitischen Identifikation im Nordosten nicht überbewerten – insbesondere bei Parlamentswahlen bestehen auch lokale klientelistische Dynamiken fort. Nichtsdestoweniger widerlegt der Umstand, dass die PT die Hegemonie behält, auch wenn sie nicht mehr im Amt ist, die oft wiederholte, aber nicht fundierte These, jede beliebige Regierung könnte die Stimmen der Armen ganz einfach mit kleinen Geldtransfers kaufen. Bolsonaro hat genau das versucht, bisher jedoch mit wenig Erfolg. Die Wählerinnen und Wähler im Nordosten erwarten ein aufrichtigeres und nachhaltigeres Engagement für den Aufbau eines umverteilenden Sozialstaates.
Diese Beziehung zwischen regionaler Ungleichheit und Wahlpräferenzen ist allerdings nicht überall gegeben. Die abgelegenen und dünn besiedelten Amazonas-Bundesstaaten Acre, Rondônia und Roraima – drei der ärmsten außerhalb des Nordostens – sind auch die Bundesstaaten, die Bolsonaro am 2. Oktober mit jeweils 63, 64 und 70 Prozent die höchsten Stimmenanteile gebracht. Die Bundesstaaten der Region Zentral-West, die sozioökonomisch zwischen den ärmeren Regionen im Nordosten und Norden und dem wohlhabenderen Südosten und Süden stehen, haben Bolsonaro ebenfalls sehr hohe Wahlsiege beschert.
Diese Bundesstaaten liegen an der vordersten Front der weiteren Erschließung landwirtschaftlicher Flächen und sind stark von Viehzucht, Sojaanbau und verschiedenen extraktiven Industrien abhängig. Zwar sind dort die staatlichen Kapazitäten außerhalb einiger größerer Städte prekär aufgestellt, jedoch haben die lokalen Wirtschaften von ihrer weiteren Erosion unter Bolsonaros Regierung sogar noch profitiert. Insbesondere dass Bolsonaro die Indigenen- und Umweltschutzbehörden empfindlich schwächte, hat die Landnahme und Ressourcenausbeutung angeheizt. Dies mag in erster Linie den Großgrundbesitzern zugute kommen, hat aber auch positive Auswirkungen auf die einkommensschwache Bevölkerung in diesen Regionen. Da ihnen wirtschaftlich nur wenige andere Optionen offenstehen, sind viele von ihnen als Arbeiterinnen oder Kleinunternehmer in diesen Sektoren tätig.
Der PT hingegen ist es kaum gelungen, in diese Regionen vorzudringen. Daher liegen die meisten staatlichen Mittel, die die Armen tatsächlich erreichen könnten, weitgehend in den Händen klientelistischer Parteien. Infolgedessen wird der Staat mit seinen Auflagen größtenteils als Bedrohung für die Lebensgrundlagen wahrgenommen, während jene Leistungen, die die Armen vom Staat erhalten, in der Regel nicht mit progressiven Kräften assoziiert werden. Während die Armen des Nordostens in ein sozialdemokratisches Projekt eingebunden waren, das den demokratischen Staat als Umverteilungs- und Regulierungsinstanz stärken wollte, wurden die Armen in der Landwirtschaft in ein Projekt integriert, das genau diese Institutionen abbauen will.
Institutionalistische gegen revanchistische Mittelschichten
Der politische Riss geht auch durch Brasiliens Mittelschicht hindurch, und auch hier hängt die Spaltung eng mit der geografischen Lage zusammen. Der Südosten und der Süden sind die wohlhabendsten Regionen Brasiliens, umfassen aber ganz unterschiedliche Gebiete, darunter ländliche Bezirke, Klein- und Mittelstädte sowie große Metropolen, die sich wiederum aus wohlhabenden Vierteln, Mittelschichts-Vororten und armen Stadtrandgebieten und Favelas zusammensetzen.
2018 stimmten die Wählerinnen und Wähler in fast allen diesen Gebieten mit großer Mehrheit für Bolsonaro, was wichtige Unterschiede zwischen ihnen verdeckte. In diesem Jahr sind diese Unterschiede jedoch wieder zum Vorschein gekommen. Die Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro – zwei der wohlhabendsten und bevölkerungsreichsten des Landes – zeigen dies besonders deutlich. Dabei ist insbesondere zwischen den urbanen und den provinziellen Mittelschichten ein deutliches Gefälle zu beobachten.
Um zwei verhältnismäßig repräsentative Beispiele zu nennen: Zwischen 2018 und 2022 sank Bolsonaros Stimmenanteil in den Provinzstädten Petrópolis (Rio de Janeiro) und São José dos Campos (São Paulo) von 62 Prozent auf 55 Prozent beziehungsweise von 60 Prozent auf 55 Prozent. In beiden Fällen behielt er jedoch einen großen Vorsprung von 21 Prozent vor Lula. Mit anderen Worten: Zwar hat es nach den Spitzenwerten von 2018 eine Abwärtskorrektur gegeben, der Bolsonarismo hat in diesen Provinzstädten aber dennoch Wurzeln geschlagen.
Die Mittelschicht-Bezirke innerhalb der Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro hingegen zeichnen ein ganz anderes Bild: Im Stadtviertel Pinheiros in São Paulo stieg der Stimmenanteil der PT um enorme 36 Prozent von 11 Prozent im Jahr 2018 auf 47 Prozent heute, während der von Bolsonaro von 42 auf 33 Prozent fiel. Im Bezirk Botafogo von Rio de Janeiro konnte die PT sogar 41 Prozent hinzugewinnen – von 13 auf 54 Prozent –, während Bolsonaro von 44 auf 33 Prozent abstürzte. Dieses Muster wiederholt sich auch in anderen Bezirken beider Metropolen. In diesen Bezirken scheint der Bolsonarismo also tatsächlich auf dem Rückzug zu sein.
Auch hier hängt die Divergenz mit dem unterschiedlichen Verhältnis dieser Bevölkerungsgruppen zum Aufbau eines demokratischen Staates zusammen. Sowohl in den Provinzstädten als auch in den urbanen Bezirken haben die Mittelschichten wenig Interesse an einer radikalen Regierung oder einem stark umverteilenden Staat, da viele Menschen dies mit Populismus und Korruption in assoziieren. Der wirtschaftliche Abschwung und die Korruptionsskandale Mitte der 2010er Jahre führten sowohl in den urbanen als auch in der provinziellen Mittelschichten zu einer anti-institutionellen Wende – sie unterstützten den parlamentarischen Putsch gegen Dilma Rousseff und wählten 2018 massenhaft Bolsonaro, um »die PT draußen zu halten«.
Die Realität des Bolsonarismo hat jedoch gezeigt, dass ein Teil der Mittelschicht weiterhin an das Projekt der langfristigen demokratischen Konsolidierung glaubt, was auch moderate Sozialausgaben und den Schutz von Minderheitenrechten beinhaltet. Viele von ihnen sind durch die Schwächung der Mitte-Rechts-Partei Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) verwaist und haben sich dank Lulas moderater Positionierung der PT zugewandt. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie, entsetzt darüber, wie Bolsonaro wahnhaft die Pandemie leugnet, die staatlichen Institutionen demontiert und die Demokratie bedroht, zu entschiedenen Gegner Bolsonaros geworden sind.
Was viele – auch die Meinungsforschungsinstitute – überrascht hat, ist die Tatsache, dass sich viele Wählerinnen und Wähler der Abkehr der institutionalistischen Mittelschicht nicht angeschlossen haben. Diese revanchistische Mittelschicht ist vor allem im kleinstädtischen Hinterland des Südostens und des Südens zu finden, aber auch in anderen Regionen und in einigen Großstädten. Ihre Mitglieder unterstützen, wenn auch nicht immer den völligen Autoritarismus, so doch zumindest eine radikale Reform des Staates und lehnen den sozialen Vertrag ab, der sich aus dem Prozess der Redemokratisierung Brasiliens und der progressiven Verfassung von 1988 ergeben hat.
Diese Wählerschaft betrachtet Investitionen in öffentliche Dienstleistungen – die sie größtenteils nicht in Anspruch nehmen – als eine Verschwendung von Steuergeldern. Aus ihrer Sicht werden historisch rassistisch ausgegrenzte Gruppen und sexuelle Minderheiten mit staatlichen Mitteln und Privilegien verwöhnt. In strengeren Waffengesetzen und Altersuntergrenzen der Strafmündigkeit sieht sie Hindernisse für Polizei und Bürger, sich rechtmäßig gegen die allgegenwärtige Kriminalität zur Wehr zu setzen. Mit anderen Worten: Die revanchistische Mittelschicht versucht, einen Staat zurückzuerobern, von dem sie glaubt, dass er von ihren Feinden gekapert wurde. Aus dieser Perspektive kann manches, was für andere nach Bolsonaros Unfähigkeit zu regieren aussieht, wie ein bewusster Schritt in die richtige Richtung erscheinen.
Während die Kluft zwischen der institutionalistischen und der revanchistischen Mittelschicht am deutlichsten sichtbar wird, wenn man Metropole und Hinterland gegenüberstellt, wird die Divergenz zwischen den städtischen Wählerinnen und Wählern mit niedrigem Einkommen am offensichtlichsten, wenn wir die beiden größten Städte des Landes untereinander vergleichen: São Paulo und Rio de Janeiro.
In den 2000er Jahren waren die armen Randgebiete beider Städte bei den Präsidentschaftswahlen Hochburgen der PT, ähnlich wie der Nordosten des Landes. Doch in den 2010er Jahren wandten die Menschen der PT allmählich den Rücken zu und stimmten 2018 überwiegend für Bolsonaro. Dieser Trend schien auf eine Reihe von sozialen Prozessen zurückführbar zu sein, die diesen Gebieten gemeinsam sind – etwa die Prekarisierung der Arbeit, den Niedergang der Gewerkschaften und Basisbewegungen sowie das starke Wachstum der evangelikalen Kirchengemeinden.
Bei der Wahl am 2. Oktober fielen die Ergebnisse in beiden Metropolen jedoch extrem unterschiedlich aus. Daher müssen wir nach anderen Erklärungen suchen. Dabei zeigt sich: Auch hier ist ein entscheidender Faktor die unterschiedliche Art und Weise, wie der demokratische Staat in diesen Städten jeweils erlebt wurde.
Die Randbezirke von São Paulo haben sich wieder stark auf die PT zubewegt, was eine Umkehrung des jüngeren Trends bedeutet. Beispiele sind der östliche Außenbezirk Itaquera, wo der Stimmenanteil der PT von 20 Prozent 2018 auf 49 Prozent in diesem Jahr stieg, oder der südliche Stadtteil Campo Limpo, wo er von 25 auf 54 Prozent stieg. In beiden Gebieten gingen auch die Stimmen für Bolsonaro deutlich zurück, sodass Lula in der ersten Runde einen große Vorsprünge erzielte. Dieses Muster wiederholt sich in den meisten Randbezirken São Paulos und in vielen seiner Satellitenstädte, in denen sich die Arbeiterklasse konzentriert.
In den Randgebieten von Rio de Janeiro dagegen sieht die Sache ganz anders aus. In den Vierteln Santa Cruz, Campo Grande und Bangu im äußeren Westen der Stadt behielt Bolsonaro einen Vorsprung von 20 Prozent oder mehr vor Lula, und auch in der nördlichen Region Baixada Fluminense gewann er deutlich. Der Bolsonarismo scheint sich also in den überwiegend einkommensschwachen Randgebieten von Rio ebenso zu etablieren wie im kleinstädtischen Hinterland.
Es gibt wichtige Unterschiede zwischen den Peripherien der beiden Städte, die helfen, diese Divergenz zu erklären. Erstens war die PT in der Vergangenheit in den Außenbezirken São Paulos deutlich präsenter. Insgesamt haben die institutionellen Bedingungen in der Stadt im Laufe der Zeit größere Erwartungen an den Staat geweckt.
Der Politologe Eduardo Marques hat in São Paulo eine Dynamik festgestellt, die er als »inkrementellen Progressivismus« bezeichnet. Damit meint er, dass allmählich progressive politische Maßnahmen institutionalisiert wurden, selbst unter Mitte-Rechts-Stadtregierungen. Das lässt sich zum Teil darauf zurückführen, dass der politische Wettkampf hier unter den Bedingungen eines minimalen Konsenses stattfand, was bedeutet, dass wirksame politische Maßnahmen häufig Regierungswechsel überdauerten.
Nicht weniger bedeutend ist jedoch zweitens, dass es der organisierten Zivilgesellschaft in erheblichem Maße gelungen ist, die politischen Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Solche Prozesse verlaufen selten reibungslos und die öffentliche Sphäre ist in weiten Teilen der Peripherie nach wie vor äußerst prekär aufgestellt. Dennoch zeigt diese Dynamik, dass es sich lohnen kann, seine Interessen in einen demokratischen Staat hineinzutragen. Sie fördert den Glauben an die Möglichkeit eines effektiven und umverteilenden Staates, auch wenn die Realität noch weit davon entfernt ist. Gewissermaßen verrät hier gerade die Enttäuschung über die derzeitige Ineffizienz und Ungerechtigkeit des Staates den Glauben der Menschen daran, dass es auch anders sein könnte.
In den Außenbezirken Rios sind die Bedingungen vollkommen andere. Dort konnte die PT als politische Kraft nie richtig Fuß fassen und war stets gezwungen, Bündnisse mit klientelistischen Parteien einzugehen, die die lokale politische Kultur fest im Griff haben. Das hatte zur Folge, dass die Ära der PT in den Randgebieten Rios weniger als Einschnitt erfahren wurde als anderswo.
Auch die Institutionalisierung progressiver Politikvorschläge ist hier nicht annähernd so weit fortgeschritten. In den einkommensschwachen Gemeinden Rios ist der Staat oft lediglich in Form lokaler politisch-ökonomischer Machtnetzwerke wahrnehmbar, die zudem oft mit gewalttätigen Milizen verflochten sind. Zwar hat auch Rio eine bedeutende Präsenz sozialer Bewegungen, jedoch schränken diese Bedingungen sie sehr bei ihrer Tätigkeit ein. Unterm Strich bedeutet das, dass sich bei den Einwohnerinnen und Einwohnern dieser Bezirke eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat eingestellt hat – zumindest was die Institutionalisierung und Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen angeht.
Der Staat wird hier nicht so sehr als Enttäuschung wahrgenommen, er ist schlichtweg irrelevant. Viele Nöte des täglichen Lebens werden auf andere Weise gelindert. Da liegt es nahe, dass der bolsonaristische Diskurs anklang findet – schließlich betont dieser das Versagen des demokratischen Staates und empfiehlt den Menschen, Sicherheit und Chancen in anderen Kontexten zu suchen.
Die erste Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr hat also gezeigt, dass sich eine dauerhafte, wenn auch sozial und geografisch heterogene Koalition von Wählergruppen um Bolsonaro gebildet hat. Dazu gehören erstens verschiedene soziale Gruppen entlang der brasilianischen Landwirtschaftsfront, die den Staat vor allem in Form von Umweltauflagen erleben, welche sie als Bedrohung ihrer Lebensgrundlagen wahrnehmen. Dazu gehören zweitens Teile der Mittelschicht in den wohlhabenderen Regionen Brasiliens, vor allem im kleinstädtischen Hinterland, die das Projekt der demokratischen Konsolidierung aufgegeben haben und nun nun eine revanchistische Rückeroberung und Neugestaltung des Staates wünschen. Und dazu gehören drittens die Bewohnerinnen und Bewohner der Urbanen Peripherie unter anderem von Rio, für die der Staat weitgehend irrelevant geworden ist.
Mit anderen Worten: Es handelt sich um Gruppen, die sich unter sehr unterschiedlichen Umständen und aus verschiedenen Gründen darauf geeinigt haben, dass Bolsonaros »Anti-Regierung« keineswegs eine Katastrophe, sondern vielleicht sogar ein Fortschritt ist.
Ihnen gegenüber stehen erstens arme Wählerinnen und Wähler – vor allem im Nordosten – die sich eine Wiederaufnahme des politischen Projekts sozialer Inklusion unter der PT wünschen; zweitens eine institutionalistische Mittelschicht, die nach einem Flirt mit dem Bolsonarismo ihre demokratische Orientierung wiederentdeckt hat; und drittens eine skeptische urbane Arbeiterklasse – vor allem an den Rändern São Paulos – die noch einen Rest Hoffnung hegt, dass sich letztlich doch noch ein funktionierender, umverteilender Staat konsolidieren könnte.
Diese beiden heterogenen, innerlich zwar fraktionierten, aber inzwischen weitgehend konsolidierten Blöcke werden am 30. Oktober im zweiten Wahlgang aufeinander treffen. In Anbetracht dessen, dass sie ähnlich groß sind, könnte eine relativ kleine Zahl von Wechselwählerinnen und Unentschlossenen den Wahlausgang bestimmen, der enorme Auswirkungen auf die brasilianische Demokratie haben wird. Aber selbst wenn Lula gewinnt, wird der Bolsonarismo in der Opposition weiterbestehen und denjenigen, die das Vertrauen in den demokratischen Staat Brasiliens verloren haben oder vielleicht niemals hatten, eine destruktive Alternative bieten.
Matthew Richmond ist Fellow am Lateinamerika- und Karibikzentrum der London School of Economics.