13. Juni 2021
Wie Ethel Smyth der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts eine Stimme gab.
ILLUSTRATION Andy King
London, 1912: Im Hof des Frauengefängnisses Holloway marschieren frisch inhaftierte Frauenrechtlerinnen kampfeslustig auf und ab. Dabei singen sie die offizielle Hymne der Women’s Political and Social Union – einer militanten Organisation, die sich für das Frauenwahlrecht stark macht: »Shout! Shout! Up with your song! Cry with the wind for the dawn is breaking!« schmettern sie im Chor aus voller Kehle.
Ethel Smyth, Schöpferin des March of the Women, blickt von einem der oberen Zellenfenster wohlwollend zu ihnen hinab und schlägt mit ihrer Zahnbürste vergnügt den Takt dazu. Nach einer Großaktion, bei der rund 150 Aktivistinnen fast 300 Schaufensterscheiben im Londoner Westend eingeschlagen hatten, war auch sie verhaftet worden. Smyths Steinwurf war dem Herzen des British Empire gefährlich nahe gekommen und hatte es immerhin bis durch das Fenster des britischen Kolonialsekretariats geschafft.
Mit ihrem stürmischen Naturell und ihrer Vorliebe für Tweed-Anzüge und Herrenhüte hatte Smyth schon auf so mancher feinen Teegesellschaft für Naserümpfen gesorgt. Als Mitglied der Suffragetten Bewegung erlebte sie nun endlich Kameradschaft mit Gleichgesinnten. Später bemerkte sie süffisant, dass sie sich während ihrer zweimonatigen Gefängnisstrafe zum ersten Mal in ihrem Leben in wirklich guter Gesellschaft befunden hätte. Aus dem Munde von jemandem, der bereits in jungen Jahren die Bekanntschaft von Johannes Brahms, Edvard Grieg und anderen Superstars der kulturellen Elite gemacht hatte, ist das ein kaum zu überschätzendes Lob.
Als Neunzehnjährige hatte Smyth ihren Eltern unter Einsatz eines radikalen Hungerstreiks einen Bildungsaufenthalt in Deutschland abgetrotzt. Doch das Kompositionsstudium in der Musikstadt Leipzig enttäuschte sie. Besonders ärgerte sie sich darüber, dass sich die gesamte deutsche Musikwelt widerspruchslos vor Johannes Brahms in den Staub warf. Sein demonstratives Desinteresse an ihren Erstlingswerken und seine grundsätzliche Geringschätzung gegenüber Frauen trieben sie zur Weißglut. Ihr Leben lang erzürnte sie sich über solche Gatekeeper, die aus Angst vor künstlerischer Konkurrenz Frauen den Weg in musikalische Berufe versperrten.
Zwar hatte die Ausnahmekünstlerin Clara Schumann – Klaviervirtuosin und Ehefrau des Komponisten Robert Schumann – bereits erfolgreiche Pionierarbeit geleistet, doch Smyth wollte mehr als den Status einer komponierenden Gattin. Sie wollte in den großen Konzertsälen als hauptberufliche Komponistin anerkannt werden. Schumann hatte sich auf die kleine Form der Kammermusik beschränkt: Klaviersonaten oder Lieder hatten noch am ehesten die Chance, im Rahmen kleiner Salons der Leipziger High Society aufgeführt zu werden. Außerdem bedeuten große Formen wie Opern oder Symphonien lange, ausdauernde Schreibtischarbeit. Dafür ließen die Verpflichtungen einer Hausfrau und Mutter wenig Zeit. Das könnte mit ein Grund dafür gewesen sein, warum Smyth, die ohnehin offen lesbisch lebte, sich niemals in den wirtschaftlich komfortablen Hafen einer bürgerlichen Ehe zu retten versuchte. Fest steht, dass sie vor den großen, dramatischen Formen nicht zurückscheute und der Nachwelt mehrere Orchesterwerke und ganze sechs Opern hinterließ.
Auch die Heldinnen in Smyths Opern lassen sich vom Patriarchat nicht die Butter vom Brot nehmen. In The Wreckers setzt sich die junge Thirza gegen die Doppelmoral der Männergesellschaft zur Wehr. Diese Gesellschaft bereichert sich, indem sie vorsätzlich Seefahrer in die Irre führt, sodass ihre Schiffe an den Riffen zerschellen und ihre Ladungen ausgeplündert werden können. Um die Schiffer zu warnen, entzündet Thirza ein Leuchtfeuer und bewahrt sie so vor dem sicheren Tod.
In Smyths naturmythischem Musikdrama Der Wald steht die geheimnisvolle Einsiedlerin Jolanthe im Zentrum. Sie ist eine wahre Femme fatale und bringt den jungen Holzfäller Heinrich mit ihrer sexuellen Freizügigkeit ziemlich in Verlegenheit. Ihr humoristisches Pendant finden Thirza und Jolanthe in der Figur der Witwe Waters, Protagonistin der komischen Oper A Boatswain’s Mate: Einen geldgierigen und aufdringlichen Heiratskandidaten schlägt diese einfach mit ihrem Revolver in die Flucht. Mit derselben Vitalität besticht auch Smyths musikalische Sprache: In großen selbstbewussten Klängen und farbenreicher Orchestrierung entfaltet sie eine wilde und schwelgerische Schönheit – ohne dabei jemals sentimental zu sein.
Kein Wunder, dass viele in dieser energiegeladenen Engländerin mit ihrem unerschrockenen Willen zur Größe eine Wegbereiterin für die feministische Sache sahen. Als Dank für ihre Verdienste schenkte ihr die Chef-Suffragette Emmeline Pankhurst einen vergoldeten Taktstock. Auch die 24 Jahre jüngere Schriftstellerin und Autorin des Essays Ein eigenes Zimmer, Virginia Woolf, fand bewundernde Worte für Smyth: So ehren wir sie nicht nur als Musikerin und Schriftstellerin, sondern auch als eine Felsensprengerin und Brückenbauerin«. Smyth und Woolf schrieben sich bis an ihr Lebensende fast täglich Briefe.
Was bleibt von Ethel Smyths Vermächtnis? Trotz überbordender Schaffenskraft gelang es ihr nicht, sich dauerhaft im Kanon der klassischen Musik zu verewigen – denn die gläserne Decke besteht für Frauen bis heute. Auf den Opernbühnen dieser Welt ist weibliche Autorschaft eine Ausnahmeerscheinung: Die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins verzeichnet für die Saison 2017/18 gerade mal achtzehn Frauen unter den insgesamt 321 gespielten Komponistinnen und Komponisten. Man kann nur hoffen, dass Smyths schillernde Persönlichkeit mehr und mehr aus dem Schatten des Vergessens treten und anderen Arbeiterinnen der Künste Lust auf die ganz große Oper machen wird.