28. Juni 2022
Die Sanktionen gegen Russland sollten Putin schwächen und seinen Krieg in der Ukraine beenden. Stattdessen haben sie die gesellschaftliche Spaltung vertieft.
Russische Truppen in Melitopol, 12. Juni 2022.
Die beispiellosen Sanktionen, die die USA gegen Russland als Strafe für den Angriffskrieg gegen die Ukraine verhängt haben, wurden Anfang des Jahres unter Anspannung eilig ausgearbeitet. Warnungen, dass diese nach hinten losgehen könnten, wurden ignoriert. Vier Monate später scheint nun selbst das Weiße Haus zugeben zu müssen, dass es auf diese Warnungen hätte hören sollen.
In der vergangen Woche berichtete Bloomberg, dass »einige Beamte der Biden-Regierung hinter vorgehaltener Hand ihre Besorgnis darüber ausdrücken, dass die Sanktionen nicht wie beabsichtigt den Kreml abschrecken, sondern stattdessen die Inflation verschärfen, die Ernährungsunsicherheit verschlimmern und die einfachen Russen mehr bestrafen als Putin oder seine Verbündeten«. Zu dieser Liste könnte man hinzufügen: Sie machen Russland reicher.
Das europäische Verbot von 90 Prozent der russischen Ölimporte sollte »ein schwerer Schlag für Putins Kriegskasse« sein, hat aber in Verbindung mit anderen Sanktionen und verschiedenen Unterbrechungen der Versorgungskette die Ölpreise weiter in die Höhe getrieben. Im Ergebnis hat das Land im Laufe des Krieges rekordverdächtige Exporteinnahmen gemacht, die die Kriegsausgaben bei weitem übertrafen – mit Exportpreisen, die im Durchschnitt 60 Prozent höher waren als 2021, als Moskau Öl mit einem deutlichen Abschlag auf die internationalen Preise verkaufte.
Dies ist vor allem China und Indien zu verdanken, die das von Europa und insbesondere von Deutschland hinterlassene Vakuum füllen und das billige russische Öl dankbar abnehmen. Auch Länder wie die NATO-Mitglieder Bulgarien und Türkei haben ihre Lieferungen von russischem Öl erhöht. Zusammen mit anderen Faktoren hat dies den Rubel vor dem Zusammenbruch bewahrt, ihn gegenüber dem US-Dollar auf ein Sieben-Jahres-Hoch gebracht und Moskau sogar erlaubt, die Zinssätze auf das Vorkriegsniveau zu senken. Die einfache russische Bevölkerung ist überraschend optimistisch, was die Wirtschaft des Landes angeht.
Natürlich ist es alles andere als sicher, dass das so bleiben wird. Die russische Wirtschaft steht nach wie vor unter großem Druck, und es ist klar, dass die ganz normalen Leute die Auswirkungen noch zu spüren bekommen werden. Wenn die Ölpreise fallen, könnte der vorübergehende Aufschwung für die russische Wirtschaft leicht wieder zunichte gemacht werden. Es gibt aber noch weitere Anzeichen dafür, dass die Sanktionen Auswirkungen haben, die so nicht beabsichtigt wurden.
Am beunruhigendsten für die westlichen Regierungen dürften Moskaus wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen sein. Russland reagierte auf die Sanktionen, indem es die Erdgaslieferungen an europäische Länder einschränkte oder sogar ganz einstellte, was die europäische Industrie zusätzlich belastet. Deutschland wurde gewarnt, dass ein völliger Stopp der russischen Gaslieferungen das Land in eine umfassende Rezession stürzen würde. Institutionen wie die Weltbank und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben davor gewarnt, dass das auch aufgrund des Inflationsdrucks auf globaler Ebene geschehen könnte.
Es geht allerdings nicht nur um Öl. Die Sanktionen gegen Russland haben auch der Versorgung mit Düngemitteln den Hahn abgedreht. Das treibt die Lebensmittelpreise in die Höhe und könnte Lebensmittelengpässe nach sich ziehen. Die Situation ist so alarmierend, dass Washington die Privatwirtschaft nun klammheimlich dazu auffordert, mehr Düngemittel aus Russland zu kaufen. Aus Angst, mit den Sanktionen in Konflikt zu geraten oder im Schwarzen Meer buchstäblich ins Kreuzfeuer zu geraten, werden das die meisten Unternehmen aber vermutlich nicht tun. Verschiedene Großbanken und zahlreiche Ökonominnen und Ökonomen prognostizieren auch für die Vereinigten Staaten, wo sich bereits Anzeichen für eine wirtschaftliche Abschwächung zeigen, eine heftige Wirtschaftsrezession.
Politische Konsequenzen sind also absehbar. Der Enthusiasmus für einen Gegenschlag gegen Russland, der in den ersten Tagen des Krieges bei den Europäern zu beobachten war, ist der Sorge um die Kosten der westlichen Sanktionen gewichen. Brüssel wurde gerade nahezu stillgelegt, als zwischen 70.000 und 80.000 Demonstrierende Maßnahmen gegen die Preiserhöhungen eingeforderten. Ende Mai zeigten Umfragen erstmals, dass eine Mehrheit der US-Bürgerinnen und -Bürger der Begrenzung der kriegsbedingten wirtschaftlichen Schäden eine höhere Priorität einräumt als den Sanktionen gegen Russland. Die Demokraten sind derzeit auf dem besten Weg, im November bei den Zwischenwahlen eine historische Schlappe zu kassieren, was vor allem auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den steigenden Lebenshaltungskosten zurückzuführen ist.
Wenn die US-Politik gehofft hatte, dass der wirtschaftliche Druck Putins Regime schwächen würde – oder ihn zumindest zu einem Kurswechsel zwingen könnte –, so scheinen die Sanktionen im Moment das Gegenteil zu bewirken. Das Verschwinden der russischen Antikriegsproteste ist vor allem auf ihre rasche und brutale Unterdrückung durch den Kreml zurückzuführen. Die Härte der Sanktionen scheint bei der einfachen Bevölkerung in Teilen aber auch dazu geführt zu haben, sich wieder stärker hinter Putin zu stellen. Befragungen zeigen, dass einige aus den Fokusgruppen davon überzeugt sind, dass die westlichen Regierungen so oder so einen Vorwand für Sanktionen gegen Russland gefunden hätten.
In der Zwischenzeit sitzt Putin die Krisen aus, weil er sich sicher ist, dass der Westen zuerst einlenken muss und dass Russlands Rolle als Lieferant wichtiger Rohstoffe die Sanktionen früher oder später für westliche Wählerinnen und Wähler unerträglich machen wird. Die Sanktionen schwächen nicht nur die russische, sondern auch die westliche Wirtschaft – und genau deshalb sind sie für Putin ein Grund, den Krieg fortzusetzen, obwohl Russland bisher nur sehr begrenzte Gewinne erzielt hat.
Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Sanktionen ihren Zweck erfüllen – ein guter Grund, sich in Erinnerung zu rufen, was man stattdessen hätte tun können. Zu Beginn der Invasion war die Rede von »gezielten Sanktionen«, die die russische Elite unter Druck setzen und die einfachen Menschen verschonen sollten. Die meisten russischen Oligarchen, einschließlich der wirklich reichsten unter ihnen, wurden jedoch nicht sanktioniert. Die Last der westlichen Sanktionen trifft daher überwiegend die Russinnen und Russen, die für diesen Krieg am wenigsten Schuld tragen.
Diese Zurückhaltung mag damit zusammenhängen, dass die reichen Magnaten die Kontrolle über wichtige Rohstoffe innehaben. Zum Teil könnte es aber auch daran liegen, wie Thomas Piketty argumentiert, dass Washington und seine Verbündeten davor zurückschrecken, wirksame Maßnahmen umzusetzen. Ein globales Finanzregister, mit dem man die Auslandsbeteiligungen reicher Russinnen und Russen bestrafen könnte, wird etwa nicht eingerichtet, da »westliche Wohlhabende befürchten, dass eine solche Transparenz ihnen letztlich schaden wird«. Letztes Jahr beschuldigte Oxfam die USA und das Vereinigte Königreich, »die größten Blockierer von Transparenz« zu sein, und erst dieses Jahr stufte das Tax Justice Network die US-Regierung als den weltweit führenden Verursacher von Finanzgeheimnissen ein.
Vor der Verkündung der Sanktionen wurde vor den Risiken solcher Szenarien gewarnt, doch in einem Klima der Kriegsbegeisterung wurden diese Warnungen ignoriert. Das Ergebnis ist, dass die Sanktionsbefürworter genau die Politik bekamen, die sie wollten. Jetzt müssen sie und der Rest von uns damit leben.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.