14. Dezember 2021
Da die Politik nichts gegen den Pflegenotstand unternahm, startete der Berufsverband der Pflegekräfte eine Volksinitiative. Diese fordert bessere Arbeitsbedingungen – und hatte Erfolg. Denn starke Pflege braucht mehr als Beifall.
Plakat der Volksinitiative für eine starke Pflege, 19. November 2021.
Am 28. November wurde in der Schweiz über die Initiative »Für eine starke Pflege« abgestimmt, welche die landesweite Pflegequalität durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sicherstellen will. Das Erstaunliche: Die Initiative wurde mit 60,98 Prozent der Stimmen angenommen.
Dazu sei gesagt, dass die Schweiz eher konservativ abstimmt und Initiativprojekte tendenziell erfolglos bleiben. Gewerkschaftliche und sozialpolitische Anliegen haben es besonders schwer. So brauchte es beispielsweise drei Anläufe, bis 1971 schweizweit das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Auch die Mindestlohninitiative, die eine Lohnuntergrenze von 4.000 Franken forderte und über die 2014 abgestimmt wurde, verlor sehr deutlich mit 76 Prozent Gegenstimmen.
Umso bedeutsamer ist es, dass eine Initiative, die von einem Berufsverband angestoßen und gewerkschaftlich unterstützt wurde, so großen Rückhalt fand. Noch vor der Corona-Pandemie stieß die Initiative im Parlament auf Ablehnung. Ein indirekter Gegenvorschlag sah lediglich eine Ausbildungsoffensive für die kommenden acht Jahre vor und griff in keiner Weise die Bedürfnisse der Pflegenden auf. Eine ernsthafte Antwort auf den Pflegenotstand lieferte sie nicht.
Der neoliberale Umbau des Gesundheitswesens und der Spardruck bei der regionalen Gesundheitsversorgung liegt in der Schweiz noch nicht lange zurück. Erst 2012 wurde beispielsweise das Universitätsspital Basel aus dem Kanton ausgelagert und zunächst in eine Anstalt des öffentlichen Rechts umgewandelt. Dazu muss man sagen, dass nicht alle privaten Krankenhäuser rein profitorientiert aufgestellt sind. Ein großer Teil der Kliniken spielt eine wichtige Rolle bei der regionalen Gesundheitsversorgung, da sie kantonale Leistungsaufträge haben. Der ideologische Umbruch von einer Politik, deren Ziel es ist, die öffentliche Daseinsvorsorge für die Bevölkerung zu sichern, hin zu einer Politik, die Gesundheitsversorgung als Kostenfaktor betrachtet, hat sich in der Schweiz wie andernorts in den 1990er Jahren vollzogen. In dieser Zeit gründete sich auch die Privatklinikgruppe Hirslanden, deren damalige Mehrheitsaktionärin die Bank UBS war. Der neoliberale Paradigmenwechsel in der Schweizer Gesundheitspolitik begann zeitgleich wie in anderen Ländern, nur greifen die politischen Maßnahmen etwas langsamer.
Dieser neoliberale Umbau schließt nicht nur die Umwandlung von kantonalen Krankenhäusern und Anstalten des öffentlichen Rechts in gemeinnützige Aktiengesellschaften ein, sondern auch die Einführung der Fallpauschalen, die in der Schweiz 2012 und damit neun Jahre später als in Deutschland erfolgte. Nach gestellter Diagnose wird eine katalogisierte Pauschale kalkuliert, die zu 45 Prozent von der Krankenkasse und zu 55 Prozent vom Kanton bezahlt wird. Die Krankenhäuser verdienen an der gestellten Diagnose und nicht an dem, was eine Patientin an Behandlung und Pflege benötigt: Je weniger behandelt wird, desto höher ist der Profit.
Doch Patientinnen und Patienten müssen aufgeklärt, versorgt und gepflegt werden. Durch die Fallpauschalen wird ein Teil dieser Pflegearbeit ins Private verlagert, wo sie unbezahlt vor allem von Töchtern, Müttern oder Schwestern geleistet wird. In diesem Sinne sind alle vom Sparkurs im Gesundheitssystem betroffen – Patientinnen und Patienten, Angehörige und Pflegende.
Die Arbeitsbelastung des Pflegepersonals in der Schweiz ist zwar geringer, die Situation ist dennoch alles andere als rosig. Während in Deutschland eine Pflegekraft im Schnitt dreizehn Personen betreuen muss, sind es in der Schweiz nur acht. Aber auch das reicht vielfach nicht, um den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Dabei geht es nicht um Luxusbetreuung, sondern um das, was würdige Pflege braucht. Deshalb verlassen rund 40 Prozent der Pflegenden den Beruf, ein Drittel davon ist jünger als 35 Jahre.
Bis 2029 werden in der Schweiz 70.500 zusätzliche Pflegekräfte gebraucht, davon 43.200 Fachpersonal, also Menschen mit Diplomabschluss, den sie an Fachhochschulen und höheren Fachschulen erwerben. Die bisherige Antwort auf diesen Pflegenotstand war lasch. Weder Kantone noch der Bund haben nachhaltige und angemessene Maßnahmen ergriffen. Stattdessen wurde eine kleine Ausbildungsoffensive gestartet, die der Berufsabbrecherquote nichts entgegenstellen konnte. Außerdem wurde im benachbarten Ausland – etwa in Deutschland – Pflegepersonal abgeworben, was wiederum den dortigen Pflegenotstand verschärfte. 2010 unterzeichnete die Schweiz schließlich ein WHO-Abkommen, dass das offensive Abwerben von Gesundheitsfachpersonen aus dem Ausland begrenzen beziehungsweise verhindern soll. Wirksam war das kaum, da auf privater Ebene weiterhin Pflegepersonal angeworben wird, was andernorts die Pflegekrise verschärft.
Die Initiative will die Pflegequalität in der Schweiz sichern. Sie wurde vom Berufsverband der Pflegefachpersonen (SBK) vorwiegend mit dem Ziel initiiert, den Pflegenotstand unter den diplomierten Pflegefachpersonen zu beenden. Doch dazu muss sich auch die Situation der übrigen Pflegekräfte verbessern. Dazu wurde die Rolle der Pflegekräfte in der Verfassung als zentraler Teil der Gesundheitsversorgung festgeschrieben, wie dies bei Hausärztinnen und Hausärzten bereits der Fall ist.
Gewerkschaften und der Berufsverband konnten so den Diskurs wenden und aufzeigen, dass die miserablen Arbeitsbedingungen für den Fachkräftemangel verantwortlich sind. Die Probleme des akuten Pflegenotstands sind damit jedoch nicht behoben. Im nächsten Schritt müssen auf Basis dieser Verfassungsänderung Gesetze geschaffen werden, die die konkrete Arbeitsbelastung senken, wie ein fixer Pflegeschlüssel für die unterschiedlichen Fachbereiche in denen Pflegende tätig sind. Daneben braucht es verbindliche Schichtpläne, die ein Privatleben ermöglichen.
Der Pflegenotstand drängt, aber die Lösung braucht Zeit. Das gegenwärtige Ausbildungssystem lässt junge Menschen von einem Praktikum zum nächsten hangeln und wer kein Abitur hat, muss eine dreijährige Lehre absolvieren, bevor die Diplomausbildung begonnen werden kann. In dieser Zeit tragen die Auszubildenden häufig mehr Verantwortung als sie dürften und erhalten dafür einen prekären Lohn. Stattdessen müssen alle Pflegende ein Einkommen erhalten, das ihrer täglichen Verantwortung gerecht wird.
Die Pflegeinitative gibt den Gewerkschaften Rückenwind für sozialpartnerschaftliche Verhandlungen und gewerkschaftspolitische Kämpfe. Aber die müssen sie auch ausfechten. Die geforderte Ausbildungsoffensive reicht nicht, wenn die Pflegenden durch Überlastung krank werden oder völlig ausbrennen und den Beruf verlassen. Es geht also nicht nur um Lohn oder bezahlte Umkleidezeiten, sondern auch um Respekt vor der Arbeit mit Menschen und den Einbezug der Pflegenden in zentrale gesundheitspolitische Fragen wie der Organisierung des Krankenhausalltags, der kantonalen Gesundheitsversorgung oder einer Corona-Taskforce. Ferner sollte das gesamte Gesundheitswesen demokratisiert werden. Ein Ende der gewinnorientierten Gesundheitsversorgung ist überfällig. Dazu gehört vor allem eine Abkehr von der fallpauschalenabhängigen Finanzierung, um Pflege zu ermöglichen, die auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf Profite ausgerichtet ist.
Der Pflegeinitative ging eine starke feministische Bewegung voraus. Seit dem Frauenstreik 2019 wird die Situation der Pflegenden in bezahlten und unbezahlten Bereichen immer wieder thematisiert. Sorgearbeit ist lebensnotwendig und damit mehr als ein Beruf. Die Hauptlast der Pflege- und Sorgearbeit wird von Frauen unterbezahlt und unbezahlt geleistet. Die Ökonomin Mascha Madörin geht in der Schweiz von einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung aus, die Frauen jährlich 108 Milliarden Franken kostet. Der größte Teil dieser Summe ist darauf zurückzuführen, dass Frauen für diese gesellschaftsnotwendige Arbeit keinen Lohn oder einen vergleichsweise schlechten Lohn erhalten. Und die Verlagerung der Pflege vom Krankenhaus ins Private, um Kosten zu sparen, ist Teil des Problems.
84 Prozent der Menschen in den Pflegeberufen sind Frauen. Der Gewinn der Initiative ist daher auch ein feministischer Erfolg. Die Diskussion über Sorgearbeit ist in der Breite der Gesellschaft angekommen. Dazu hat neben der feministischen Auseinandersetzung vor allem die Gesundheitskrise seit Corona beigetragen, genauso wie strategische Entwicklungen innerhalb der Gewerkschaften und dem Berufsverband.
Ursprünglich wurde die Initiative 2017 vom Berufsverband für Pflegefachpersonen (SBK) initiiert, der bis 2016 ausschließlich diplomierte Pflegende organisierte. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes VPOD fokussierte sich auf Krankenhäuser und den häuslichen Pflegedienst Spitex und die Gewerkschaft Unia begann ab 2012 offensiv Menschen im Gesundheitswesen zu organisieren und führte einige erfolgreiche Streiks in Alters- und Pflegeheimen. Doch die Organisierung blieb über Jahre hinweg zersplittert. Die Politik reagiere nicht auf das Problem und die großen Gewerkschaften seien »impotent« geworden, konstatierte der Psychiatriepfleger Alain Müller, als er 2020 die Facebook-Gruppe Pflegedurchbruch gründete. Die Frustration war groß. Auf die Aushebelung des Arbeitsschutzgesetzes und Endlosschichten folgte keine offensive Organisierung. Die Verbände äußerten sich zunächst lediglich vermehrt in den Medien.
Die Pflegenden standen plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit, aber ihre Vertretungen schienen in Schockstarre zu verharren. Der zeitraubende Organisierungsrythmus der Gewerkschaften mit Abendsitzungen, Delegiertenversammlungen und Kongressen nach der Arbeit funktioniert für viele Pflegende nicht, ganz besonders unter Pandemiebedingungen. Die Selbstorganisierung über Social Media hingegen schon. In kurzer Zeit wuchs die Gruppe von 10 auf 2.000 Mitglieder und wirkte zunächst als Ort, um Frust abzulassen und sich zu vernetzen. Wenig später suchte die Gruppe aktiv den Kontakt zu Gewerkschaften und Berufsverband.
Die Facebook-Gruppe Pflegedurchbruch hat mittlerweile mehr als 8.000 Mitglieder und leistet Lobbyarbeit in Gewerkschaften, Parteien und Verbänden für die Anliegen der Pflegenden. Um diese auch durchzusetzen und strategisch vorgehen zu können, wirbt die Gruppe zudem für die aktive Mitgliedschaft und Organisierung in tariffähigen Verbänden. Die Bewegung Pflegedurchbruch ist gerade dort stark, wo der gewerkschaftliche Organisierungsgrad niedrig ist. Besonders in der konservativen Zentralschweiz ist der Pflegedurchbruch präsent – trotz seiner Radikalität. Mit der Gründung des Bündnisses Gesundheitspersonal haben sich nun auch die Gewerkschaften und der Berufsverband für das Pflegepersonal zusammengetan, wenn auch die Kooperation nicht immer ganz reibungslos verläuft. Der Abstimmungskampf für die Initiative hat strategische Bündnisse erfordert und die Verschärfung der Gesundheitskrise in Zeiten der Pandemie zwang sogar Mitte-Parteien und einzelne Vertreterinnen und Vertreter der politischen Rechten zu einem »Ja« zur Initiative aufzurufen.
Diese Gesamtkonstellation machte die Initiative erfolgreich. Fest steht, dass sich die Pflegenden nach der gewonnenen Abstimmung und den Erfahrungen aus der Pandemie nicht mehr mit symbolischen Zugeständnissen abspeisen lassen werden. Der Gewinn der Initiative schafft ein neues Selbstbewusstsein der Pflegenden und verschafft ihren Anliegen Gehör. Doch die Verfassungsinitiative nützt nur, wenn darauf wirkungsvolle Gesetze folgen.
Daher ist es nun wichtig, dass linke Kräfte auf Bundesebene und in den Kantonen konkrete Umsetzungsvorschläge einreichen, in den Kommissionen hart verhandeln und an der Seite der Pflegenden stehen. Mindestens genauso wichtig ist aber auch die gewerkschaftliche Organisierung in den Krankenhäusern, Altenheimen und anderen Gesundheitsinstitutionen. Schließlich spiegelt die Arbeitssituation und die herrschende Dauerüberlastung immer auch das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmen wieder, wenngleich hier Patientinnen- und Patientenwohl und Politik mit am Verhandlungstisch sitzen. Die Initiative gibt viel Rückenwind, aber eigentlich stehen wir erst am Anfang.
Deniz Killi ist Präsidentin des Vereins Pflegedurchbruch, Mitglied der Gesundheitskommission der Gewerkschaft vpod und engagiert sich in der Parteileitung der Partei der Arbeit Schweiz.
Franziska Stier ist Parteisekretärin der Basler Kantonalpartei BastA!. Sie ist außerdem als Autorin tätig und engagiert sich im feministischen Streik/Frauenstreik Basel.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Antexters stand, dass die Pflegeinitiative ein Ende der Fallpauschalen fordert. Dies wurde am 14. Dezember korrigiert.
Franziska Stier ist Parteisekretärin der Basler Kantonalpartei BastA!, Autorin und engagiert sich im feministischen Streik/Frauenstreik Basel.
Deniz Kili ist Präsidentin des Vereins Pflegedurchbruchs, Mitglied der Gesundheitskommission der Gewerkschaft vpod und engagiert sie sich in der Parteileitung der Partei der Arbeit Schweiz.