18. Januar 2022
Die Corona-Krise bedroht unzählige Existenzen, doch an der Börse herrscht Euphorie – denn die Zentralbanken stützen die Aktienmärkte.
Der diesjährige Oxfam-Bericht zur sozialen Ungleichheit beschreibt die Pandemie als »Goldrausch« für Milliardäre.
Fast 500 Menschen sind im Laufe der Pandemie zu Milliardärinnen und Milliardären geworden. Die Aktienkurse sind unaufhaltsam gestiegen, während die Arbeitslosigkeit zunahm und die Reallöhne stagnierten. Die Immobilienpreise, von denen viele glaubten, dass sie aufgrund des Rückgangs ökonomischer Aktivität endlich sinken würden, sind stabil geblieben.
Auf den ersten Blick ergibt der Aufschwung an den Aktienmärkten wenig Sinn. Die Preise von Vermögenswerten sollen die Erwartungen an künftige Erträge widerspiegeln, sei es in Form von Dividenden, Mieten, Zinsen oder Kapitalgewinnen. Die Verlangsamung der ökonomischen Aktivität in Verbindung mit den steigenden Verbraucherpreisen hätte die Investorinnen dazu veranlassen müssen, ihre Gewinnerwartungen nach unten zu korrigieren. Doch das ist nicht geschehen, da die Zentralbanken es verhindert haben.
Diese reagierten auf die anfängliche Panik auf den Finanzmärkten, indem sie neues Geld im Wert von Billionen von Dollar schufen und damit Vermögenswerte des privaten Sektors aufkauften. Das führte dazu, dass die Investoren mit Bargeld überschwemmt wurden, es zugleich aber an sicheren Anlagen mangelte, in die sie investieren konnten. Und so begaben sie sich erwartungsgemäß auf die Suche nach höheren Renditen. Sie steckten ihr Geld in riskantere Anlagen wie Technologie- und Gesundheitsaktien, zweifelhafte Unternehmensanleihen und sogar Kryptowährungen und NFTs.
Der daraus resultierende weltweite Boom der Vermögenswerte hat deren Eigentümerinnen extrem reich gemacht. Diese Entwicklung war für die Superreichen ein Segen und verschaffte den Besitzern von Eigenheimen und Rentenfonds eine gewisse Atempause. In Großbritannien besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung ein höheres Finanzvermögen als die unteren 80 Prozent zusammen. In den USA verfügt das reichste Prozent der Gesellschaft über 80 Prozent aller Aktien.
Wie sich diese Maßnahmen konkret ausgewirkt haben, lässt sich jedoch nur schwierig ermitteln, denn Vermögensungleichheit ist bekanntlich schwer zu messen. So beruht etwa die britische Wealth and Assets Survey (WAS) auf Selbstauskünften. Diese staatliche Erhebung nimmt viel Zeit in Anspruch, sodass die Daten relativ selten und mit beträchtlicher Verzögerung veröffentlicht werden. (Die kürzlich veröffentlichen Daten etwa beziehen sich auf eine Erhebung, die zwischen April 2018 und März 2020 durchgeführt wurde. Um die Auswirkungen der Pandemie auf die Vermögensungleichheit zu verstehen, ist sie daher unbrauchbar.)
Die Methode der Umfrage macht die Daten zudem weniger verlässlich: Die Superreichen geben das Ausmaß ihres Reichtums nämlich durchweg zu niedrig an – unter anderem deshalb, weil sie einen größeren Anreiz und mehr Möglichkeiten haben, ihr Vermögen zu verbergen, um Steuern zu vermeiden.
Die »Rich List« der Sunday Times oder die»Billionaire List« von Forbes liefert im Vergleich zu den Daten der WAS viel tiefere Einblicke in die Vermögen des reichsten Prozents der Gesellschaft. Das mag daran liegen, dass Wohlhabende gegenüber Quellen, die nicht mit dem Staat verbunden sind, ehrlicher sind. Vielleicht ist das aber auch dem eitlen Wunsch geschuldet, möglichst weit oben auf dieser Liste platziert zu werden. Jedenfalls ist man in den Sozialwissenschaften anhand dieser Datenquellen zu dem Schluss gekommen, dass die offiziellen Erhebungen den Reichtum des obersten Prozents um mindestens 6 Prozentpunkte unterschätzen. Vielleicht sind es sogar noch mehr.
Wenn wir solche Statistiken betrachten, müssen wir immer bedenken, dass die dramatische Konzentration des Reichtums an der Spitze keineswegs das »natürliche« Ergebnis des freien Marktes ist. Vielmehr wurde sie von den politischen Entscheidungsträgerinnen herbeigeführt.
In Großbritannien ist die zunehmende Vermögensungleichheit inzwischen integraler Bestandteil der Wirtschaft – mit widersprüchlichen Ergebnissen. Würden die Preise für Vermögenswerte abstürzen, wären Millionen von Menschen, die sich auf den Wert ihres Hauses oder ihres Pensionsfonds verlassen, um ihren Ruhestand zu finanzieren, auf die staatliche Rente zurückgeworfen, die in Großbritannien besonders gering ausfällt. Sie würden dann wahrscheinlich ihre Ausgaben reduzieren und vielleicht sogar anfangen, ihre Vermögenswerte zu verkaufen, was die Lage noch verschärfen würde.
Das Problem ist nur, dass man keinen »Neustart« der Wirtschaft in Gang setzen kann, wie er normalerweise auf eine Krise vom Ausmaß der Corona-Pandemie folgen würde, wenn die Vermögenspreise nicht fallen dürfen. Unter diesen Bedingungen werden die meisten Menschen kein Eigenheim erwerben können – stattdessen werden sie einen großen Teil ihres Einkommens für die Miete aufwenden, was wiederum ihre Konsumausgaben einschränkt oder sie sogar in die Schulden treiben kann. Auch insolvente Unternehmen sind dann nicht mehr den Schumpeterschen Kräften der schöpferischen Zerstörung unterworfen. Stattdessen werden die größten und mächtigsten Unternehmen in der Lage sein, ihre Konkurrenten mit billigem Geld aufzukaufen und ihre Marktmacht zu konsolidieren.
Die Wohlhabenden werden mehr Geld haben, als sie gebrauchen können. Also werden sie es weiterhin in die Finanzmärkte stecken, damit es in Kredite für mächtige Unternehmen und die weniger Wohlhabenden umgewandelt werden kann. Im Endeffekt wird sich die Wirtschaft zu einem System der Schuldknechtschaft entwickeln – und zwar von planetarem Maßstab. Eine Studie aus den USA hat gezeigt, dass die Reichen inzwischen »in beträchtlichem Umfang finanzielle Vermögenswerte angehäuft haben, die direkte Ansprüche auf die Schulden der US-Regierung und der privaten Haushalte darstellen«. Den größten Teil unserer Schulden haben wir demnach bei dem reichsten 1 Prozent.
Das Ausmaß der Ungleichheit, der wir entgegentreten müssen, übersteigt den Rahmen des Reformismus. Die Kräfte, die den Reichtum an der Spitze bündeln, erscheinen übermächtig. Aber wie David Graeber einmal schrieb: »Die ultimative verborgene Wahrheit der Welt ist, dass wir sie zu dem machen, was sie ist, und dass es genauso gut auch anders sein könnte.« Angesichts einer Pandemie, die nicht von den abstrakten Kräften des »freien Marktes«, sondern durch politische Interventionen von Staaten, mächtigen Unternehmen und Finanzinstitutionen bestimmt wurde, ist das offensichtlicher denn je.
Diese Interventionen haben in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Vermögensungleichheit kein rein wirtschaftliches Problem ist, das mit technokratischen Maßnahmen gelöst werden könnte. Sie ist eine Frage von Macht und von Politik. Wer die Institutionen kontrolliert, die den Reichtum in der Weltwirtschaft verteilen, der bestimmt auch, wer was bekommt.
Grace Blakeley ist Ökonomin, schreibt für »Tribune«, und moderiert den Podcast »A World to Win«. Ihr Buch »Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus« ist 2021 im Brumaire Verlag erschienen.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.