01. Oktober 2021
Die Historikerin Brigitte Studer hat eine Geschichte der global vernetzten Komintern geschrieben. Wie man sich den Alltag und die Arbeit als Berufsrevolutionärin vorstellen kann, erzählt sie im JACOBIN-Interview.
Lenin mit italienischen Delegierten beim II. Weltkongress der Komintern, Moskau, 23. Juli 1920.
In ihrem kürzlich erschienen Buch Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale (Suhrkamp, 2021) zeichnet Brigitte Studer, emeritierte Geschichtsprofessorin der Universität Bern die politischen Lebenswege einer Gruppe von transnational engagierten Frauen und Männern nach, die sich seit 1920 an verschiedenen Orten wiederbegegneten. Sei es in Moskau und Berlin, in Baku und Taschkent oder in Wuhan und Shanghai – überall wollten sie die Weltrevolution vorantreiben.
Was ist davon geblieben? Warum lohnt sich nach hundert Jahren die Auseinandersetzung mit dem Erbe des internationalen Kommunismus? Der Historiker Marcel Bois sprach für JACOBIN mit Studer über die Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen, für die die Revolution Arbeit und Lebensinhalt war.
Brigitte Studer, in Ihrem neuen Buch untersuchen Sie die Kommunistische Internationale der 1920er und 1930er Jahre als Arbeitsort. War die Komintern denn eine gute Arbeitgeberin? War es lukrativ, als Berufsrevolutionär tätig zu sein?
Nein, es war sicherlich nicht in dem Sinne lukrativ, dass man sehr hohe Einkünfte erzielen oder sogar ein Vermögen aufbauen konnte. Attraktiv war die Arbeit im Apparat der Komintern eher, weil sie die Möglichkeit bot, permanent politisch tätig und gleichzeitig finanziell abgesichert zu sein. Es ist zwar nicht ganz so leicht, Quellen hierzu zu finden. Aber die Dokumente, die uns vorliegen, zeigen, dass die Funktionärinnen und Funktionäre der Komintern im Prinzip – zumindest bis Mitte der 1930er Jahre – dasselbe Gehalt wie ein Facharbeiter erhalten haben. Auch verdeutlichen sie, dass alles sehr genau geregelt war – etwa die Höhe der Spesen oder unter welchen Bedingungen eine Mitarbeiterin eine Reise antreten konnte. Insofern war die Komintern schon eine moderne Arbeitgeberin.
Wie sahen denn die Tätigkeiten einer Funktionärin, eines Funktionärs der Komintern aus?
Die Komintern wuchs bald zu einem komplexen verästelten Apparat. In Moskau gab es zahlreiche Departemente, etwa eine große Übersetzungsabteilung. Die Aufgaben waren in politische und technische aufgeteilt. Erstere fielen meist den Männern zu, letztere den Frauen, doch es gab Ausnahmen. Auffällig ist der oft schnelle Funktionswechsel im Apparat, je nachdem, wo es gerade einen Arbeitskräftebedarf gab. Es gab dort Emissäre, die Supervisionsaufgaben hatten, und eher technische Instrukteure. Frauen waren oft Chiffrierinnen, Kurierinnen, Stenotypistinnen und eben Sekretärinnen, aber auch Redakteurinnen oder Spioninnen. Für die meisten galt: Stets waren zahlreiche Berichte zu verfassen, auch auf Auslandmission.
Von Personen, die in den 1920er Jahren für die Kommunistischen Partei Deutschlands gearbeitet haben, weiß man, dass sie große Probleme hatten anschließend wieder auf dem regulären Arbeitsmarkt tätig zu werden. Lässt sich das auch auf andere Länder übertragen?
Ja, auf jeden Fall. Diese Leute waren stigmatisiert. Sie waren markiert als Kommunistinnen und Kommunisten, sozusagen als politische Extremisten. Insofern waren sie bei Arbeitgebern nicht gerade beliebt. Hinzu kam: Die Tätigkeit bei der Komintern hatte sehr besondere Regeln und Arbeitsbedingungen, die die Funktionärinnen und Funktionäre vom bürgerlichen Alltagsmilieu entfremdete. Auch wenn sie meist sehr, sehr viel arbeiteten, unterlagen sie keinem strengen Zeitregime wie beispielsweise die Beschäftigten einer Fabrik. Es gab beispielsweise keine regulären Arbeitszeiten für diejenigen, die auf Auslandsmission waren. Insofern waren sie in einem gewissen Sinne sehr viel freier – zumindest in ihren Alltagspraktiken, natürlich nicht ideologisch.
Die Tätigkeit für die Komintern glich gewissermaßen der Unstetigkeit und Unsicherheit eines Künstlerlebens: Heute war man hier, morgen da. An dem einen Tag begann die Arbeit frühmorgens, an anderen Tagen waren die Meetings abends. Man musste Entscheidungen treffen und mit vielen unterschiedlichen Personen zusammenarbeiten. Insofern verlangte dieser »Beruf« viele Kompetenzen. Zugleich ließ er je nach Kontext auch Raum, autonomes Handeln zu entwickeln.
Aus dem, was Sie bislang berichten, wird schon deutlich: Reisende der Weltrevolution bietet einen ganz anderen Zugang zur Geschichte der Komintern als andere Bücher.
Das stimmt. Die Mehrheit der bislang veröffentlichten Arbeiten hat sich vor allem mit politischen Resolutionsentwürfen befasst, mit den Sitzungen und den Strukturen. Die Autorinnen und Autoren fragten: Wie ist die Organisation aufgebaut oder wie viele Mitglieder gibt es? Das sind absolut wichtige und notwendige Arbeiten. Aber ich wollte zeigen, wie sich dieses historisch spezifische politische Engagement gestaltete. Wie wurde es von einer Gruppe von Menschen erfahren? Ich wollte also nicht nur wissen, was die Überzeugungen dieser Personen waren, sondern auch, wie sie versucht haben diese in Handlungen umzusetzen – nicht zuletzt an wechselnden Orten. Wie kamen sie mit politischen Direktiven und Handlungsmustern zurecht, die sie in einem Umfeld anwenden mussten, das für sie fremd war? Es handelt sich also um eine Geschichte der kommunistischen Praktiken.
Was war für Sie denn die überraschendste Erkenntnis?
Das hohe Maß an Improvisation. Vieles, das wir im Nachhinein als sehr geordnet und strukturiert wahrnehmen, ging damals für die Beteiligten in einer Art Versuchsmodus vor sich. Die Akteurinnen und Akteure mussten sich an ihre Tätigkeit herantasten und sich fragen: Worum geht es und wie kann ich hier handeln? Zudem mussten sie immer wieder mit ihren Partnern, mit ihrem Umfeld, mit anderen Akteurinnen aushandeln, wie eine politische Resolution in die Praxis umgesetzt werden kann. Es gab dafür keine Vorbilder und keine formalisierte Ausbildung, außer später vielleicht die Internationale Leninschule in Moskau, die aber erst 1926 gegründet wurde. Anfänglich waren individuelle Lernprozesse in einem Kollektiv gefordert.
Ihr Buch nimmt ja eine stark akteurszentrierte Perspektive ein. Was bedeutete es denn, in den 1920er Jahren Kommunistin oder Kommunist zu sein?
Es kommt darauf an, in welchem Land eine Person aktiv war. Meine Untersuchung befasst sich mit den internationalen Aktivistinnen und Aktivisten der Komintern und blickt nicht auf diejenigen, die Funktionärinnen und Funktionäre einer nationalen Partei waren. Für diese Komintern-Angestellten bedeutete ihre Tätigkeit eine Entfremdung von ihrer früheren Heimat. Sie mussten sich praktisch als Internationalisten definieren und entsprechend handeln.
Zugleich bedeutete die Arbeit aber auch, Teil einer Community zu sein. Das ist sicher ein starkes Element um zu erklären, weshalb viele trotz aller Schwierigkeiten und Widrigkeiten Kommunistinnen und Kommunisten geblieben sind. Sie gehörten einer Gemeinschaft an, erfuhren dort viel Solidarität, erlebten jedoch auch Konflikte oder Eifersüchteleien – wie das in jedem geschlossenen Milieu so ist. Dieses Dazugehören gab ihrem Leben einen Sinn.
Für manche kam noch hinzu, dass ihnen die Tätigkeit einen beruflichen Status gab, den sie vielleicht sonst nicht erreicht hätten. Die Tätigkeit für die Komintern war ja etwas ganz anderes als in der Fabrik zu arbeiten. Hier konnten sie aufsteigen, Anerkennung erfahren und – mit Pierre Bourdieu gesprochen – politisches Kapital anhäufen. Aktivistisches Kapital brachten derweil schon alle Akteurinnen und Akteure mit. Denn es waren keine vollkommenen Neulinge, die im Kominternapparat einstiegen. Sie verfügten schon über Erfahrungen in politischen Auseinandersetzungen, in Streiks oder Revolutionen wie der Münchner Räterepublik.
Kann man daran anknüpfend denn sagen, dass Intellektuelle, denen noch andere Karrierewege als die Komintern offenstanden, eher mit dem Apparat gebrochen haben, als Personen, denen nur der Weg zurück in die Fabrik blieb?
Nicht unbedingt. Denn die Aktivität war oftmals ein subjektiv tiefgehendes Engagement. Entsprechend stellte der Bruch mit dem Kommunismus für viele einen Bruch mit dem eigenen Ich dar. Er wurde wie ein Verrat an den eigenen Idealen erlebt – und glich einem Scheitern. Das langjährige Engagement und die vielen Verzichte wären dann umsonst gewesen. Insofern war es für Intellektuelle nicht unbedingt einfacher, mit der Komintern zu brechen, zumal auch sie politisch markiert waren und Probleme hatten, beruflich woanders wieder Fuß zu fassen. Für einen Musiker war das vielleicht einfacher als für eine Schriftstellerin.
Man kann also grundsätzlich sagen, dass diese Form des Engagements das ganze Selbst umfasste. Es war nicht irgendeine politische Aktivität wie beispielsweise heute die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei. Wenn Sie da wieder austreten, geht das Leben weiter. Aber mit dem Austritt aus der Komintern verlor eine Person nicht nur ihren Lebenssinn, sondern ihr ganzes Lebensumfeld. Und das war für alle schwierig.
Sie erzählen ja die Geschichte der Komintern als die Geschichte der sich immer wieder kreuzenden Lebenswege von rund zwei Dutzend Einzelpersonen, die alle das aufwiesen, was sie eine transnationale Biografie nennen. Der Berliner Medienmacher Willi Münzenberg ist eine solche Person, ebenso die italienische Fotografin Tina Modotti oder der indische Kommunist Manabendra Nath Roy. Wie ist die Auswahl der Akteure zustande gekommen?
Meine Idee war eigentlich, die Geschichte der Komintern ausgehend von drei Revolutionen der Zwischenkriegszeit zu schreiben: der kläglich gescheiterten deutschen (1923), der chinesischen (1927) und der spanischen Revolution (1936). Entsprechend habe ich nach Akteurinnen und Akteuren gesucht, die während dieser drei Momente an diesen Orten aktiv waren. Doch es stellte sich heraus, dass diese Permanenz des Engagements selten war. Es gab nur wenige profilierte Personen, die wirklich während der ganzen Kominternzeit an vorderster Front aktiv waren. Also habe ich das Sample um weitere Aktivistinnen und Aktivisten ergänzt. Es mussten Menschen sein, über die man Quellen und Forschungsliteratur finden kann – und dann möglichst in einer Sprache, die ich spreche. Die chinesische Seite in meinem Buch ist ganz klar von den Westlerinnen und Westlern her erzählt – und nicht aus Sicht der chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten, weil ich deren Quellen schlichtweg nicht lesen kann.
Darüber hinaus habe ich nach Personen gesucht, die die Diversität der frühen Komintern repräsentieren. Und nicht zuletzt war mir wichtig, dass sich meine Akteurinnen und Akteure immer wieder begegneten. So konnten sie an mehreren Stellen im Buch auftauchen. Tatsächlich war ich dann aber selbst erstaunt, dass es viele Räume gab, an denen sich Lebenswege kreuzten. Das Berliner Haus des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld war beispielsweise ein solcher Ort. Willi Münzenberg und Babette Gross lebten hier zeitweilig und viele andere prominente Kommunistinnen und Kommunisten gingen ein und aus: Heinz Neumann, Georgi Dimitrow oder Manabendra Nath Roy. Sie haben sich alle gekannt und zum Teil ja auch ineinander verliebt. Das fand ich interessant.
Sie sprechen die Liebe zwischen Kommunistinnen und Kommunisten an. Was können Sie über deren Beziehungen berichten?
Zum Teil pflegten sie recht freie Lebensformen, die man eigentlich nicht mit dem Kommunismus assoziiert, sondern eher mit dem Feminismus der neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre. Ich meine damit nicht nur, dass die Frauen sexuell freier waren, sondern dass sie auch in eher ungewöhnlichen Beziehungsformen lebten. Die sowjetische Geheimagentin Ruth Werner beispielsweise hatte Kinder von drei verschiedenen Männern, von denen zwei zeitweise von ihrem ehemaligen Ehemann betreut wurden. Hier wurden also schon sehr moderne Lebensformen eingeübt.
Insofern ist diese frühe Phase der Komintern relevant für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, weil ich glaube, dass hier kulturelle Modelle ausprobiert wurden, die später wieder aufgenommen worden sind – natürlich nicht einfach gleich. Aber sie wirkten eben nach.
Lassen Sie uns noch einmal zeitlich einen Schritt zurückgehen: Warum ist die Komintern überhaupt entstanden?
Die Kommunistische Internationale ist kurz nach dem Ende der Ersten Weltkriegs gegründet worden – also in einer Zeit mit großen gesellschaftlichen Verwerfungen, Unruhen und Konflikten. Millionen waren in diesem Krieg gestorben, viele weitere wurden in Armut gestürzt. Dementsprechend war die Ablehnung des Krieges sehr stark: Viele Menschen machten jene Regime, die den Krieg verursacht hatten, verantwortlich für die nun herrschenden Zustände. So kam es zu einer Radikalisierung von großen Teilen der Bevölkerung in Mitteleuropa, vor allem der Arbeiterbewegung – auch angeregt durch die Russische Revolution von 1917.
Es entstanden starke soziale Bewegungen, in Deutschland und Österreich-Ungarn wurde die Monarchie gestürzt. Die russischen Kommunisten, die Bolschewiki, haben hier ein Zeitfenster gesehen, um ihr eigenes Regime, ihr eigenes System zu konsolidieren – oder um es vielleicht etwas weniger macht- und geopolitisch auszudrücken: Es ging ihnen darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, und zwar durch eine weltweite proletarische Revolution. Dieses politische Moment stand hinter der Gründung der Komintern.
Welche Rolle spielte der Zusammenbruch der sozialistischen Internationale?
Der war zentral. Die Bolschewiki haben die Zeichen der Zeit sehr genau erkannt und im richtigen Moment versucht, einen neuen Internationalismus aufzubauen. Die sozialistische Internationale war im Krieg auseinandergebrochen, nachdem sich ihre Mitgliedsparteien für die nationale statt die internationale Solidarität ausgesprochen hatten. In genau dieses Vakuum stieß der zweite Weltkongress der Komintern, der 1920 in Moskau stattfand – und den ich als ihren eigentlichen Gründungskongress ansehe. Hier kamen Delegierte aus fast der ganzen Welt zusammen, teilweise unter großen Anreiseschwierigkeiten. Und hier erfuhren sie diesen neuen Internationalismus persönlich und konnten sich daran beteiligen. Dieses Moment ist nicht zu unterschätzen. Die bloße Verkündung schuf noch keine Internationale, sondern erst ist die kollektive Erfahrung am transnationalen Treffpunkt Moskau.
Was lässt sich über die personelle Zusammensetzung des Kongresses sagen?
Auffallend ist die große Diversität der Partizipierenden. Die Bandbreite reichte von der »kleinen«, unbekannten Hilde Kramer bis zu Lenin und Trotzki – also von der Stenographin und Dolmetscherin bis zu den prominenten Führungsfiguren der internationalen Arbeiterbewegung. Auch haben etliche Frauen an dem Kongress teilgenommen, was bislang wenig von der Forschung berücksichtigt wurde. Sie stellten zwar eine Minderheit dar, laut Protokoll waren es etwa 10 Prozent der Delegierten. Doch solche Zahlen täuschen oder geben zumindest nicht die ganze Realität wieder. Denn jemand wie Hilde Kramer, die keine Delegierte war, wurde statistisch gar nicht erfasst.
Insgesamt finden sich in Ihrem Sample überproportional viele Frauen. Warum ist eine geschlechterhistorische Perspektive beim Blick auf die Geschichte der Kommunistischen Internationale wichtig?
Wir kennen insgesamt die Namen von 30.000 Mitarbeitenden der Komintern. Davon waren etwa ein Sechstel Frauen, also 16 Prozent. Ich finde das zunächst einmal relevant als Hinweis, dass der Kommunismus auch eine Hoffnung für Gleichberechtigung in sich getragen hat. Heute würden wir vielleicht den Begriff Feminismus verwenden, auch wenn sich die damaligen Kommunistinnen nicht als Feministinnen bezeichnet haben. Dieser Begriff war damals der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung vorbehalten.
Ich wollte viele Frauen porträtieren, weil sie bislang in der Rezeption unterbelichtet geblieben sind. Frauen erscheinen oftmals nicht in den Quellen und werden daher auch in der Geschichtswissenschaft wenig wahrgenommen. Ich habe das historiografischen Mimetismus genannt. Das heißt, die Historiker reproduzieren die Blindheit der Quellen, verdoppeln sie sozusagen. Das wollte ich korrigieren und kompensieren.
Darüber hinaus wollte ich zeigen, dass man sich nicht nur auf die Sekretäre im Exekutivkomitee konzentrieren darf, wenn man die Komintern als Apparat, als globale Organisation untersuchen will. Vielmehr muss man die Vielfalt der Funktionen beachten, die es darin gab, und dass sehr viele unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen waren. Hier haben Frauen eine große Rolle gespielt. In dieser funktions- und arbeitsteiligen Hierarchie erhielten sie meist die sogenannten technischen Aufgaben, die untergeordneten Funktionen, die aber für das Funktionieren des Ganzen unverzichtbar waren.
Im September 1920 fand der »Kongress der Völker des Ostens« statt, an dem sich 1.900 Delegierte aus Asien und Europa beteiligten. Sie schreiben, seine Wirkung sei nicht zu unterschätzen, »legte er doch den Grundstein für die Integration neuer Gruppen in den Kampf der Arbeiterbewegung. Durch den Kongress öffnete sich die Komintern, bisher auf die Kategorie Klasse fokussiert, gegenüber den Kategorien Geschlecht und ›Rasse‹/Ethnie und ihren Interaktionen«. Vertrat die Komintern also die Intersektionalitätstheorie, bevor es sie gab?
(lacht) Ja, also sicher nicht explizit. Ich würde auch sagen, dass die Kominternführung große Mühe hatte, die verschiedenen Diskriminierungskategorien zusammenzubekommen. Für sie blieb Klasse immer die zentrale Kategorie. Aber sie sah doch, dass auch die Unterdrückung aufgrund des Geschlechts oder der Ethnie eine Rolle spielte. Die betroffenen sozialen Gruppen wollte sie integrieren. Der Kongress von Baku ist deshalb interessant, weil es dort so etwas gab wie eine »affirmative action«: Es wurden ganz bewusst Frauen in den Kongressvorstand gewählt, zum Teil sogar paritätisch, obwohl sie eigentlich eine verschwindende Minderheit waren.
Zudem gab man Gleichstellungsfragen ein recht großes Gewicht. Dieses Vorgehen ist bemerkenswert, vor allem wenn man sich das Umfeld anschaut, in dem der Kongress stattgefunden hat: in einer Weltgegend mit einer islamischen, sehr patriarchalischen und konservativen Kultur. Ob diese Herangehensweise Erfolg hatte, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall haben die Bolschewiki hier einiges in Bewegung gesetzt. Es war ein Moment, um westliche und östliche Befreiungsbewegungen zusammenzubringen – allerdings in einem voluntaristischen Akt.
Viel Raum nehmen in Ihrem Buch auch die Themenfelder Antiimperialismus und die entsprechenden transkolonialen Netzwerke ein. Welche Rolle spielten sie für die kommunistische Politik der Zwischenkriegszeit?
Antiimperialismus war theoretisch ein wichtiges Element der politischen Konzeption und Theorie der Bolschewiki. Aber es blieb etwas abstrakt – vor allem, weil die Verbindungen zwischen den antikolonialen Akteurinnen und Akteuren und den Schwerpunkten der Komintern – also den Orten, wo sie stark vertreten war – fast inexistent waren. Es gab antikoloniale Akteure in Frankreich, die lange keinen Kontakt zu Kommunistinnen und Kommunisten hatten. Es war zwar ein Desiderat, aber die meisten kommunistischen Parteien hatten andere Prioritäten. Zwischen den politischen Ambitionen und den Resolutionen der Komintern und der politischen Praxis brauchte es Vermittler.
Einer dieser Vermittler war Willi Münzenberg, der sich sehr stark engagierte und auch viel erreichte. Ihm gelang es, weltweite Vernetzungen herzustellen. Aber er musste seine Initiativen immer wieder rechtfertigen und Erlaubnis einholen – und war oft mit einem Apparat konfrontiert, der sagte: Nein, das machen wir jetzt nicht. Zum Teil spielte hier die Angst eine Rolle, politische Fehlentscheidungen zu treffen. Manchmal standen aber auch viel banalere Fragen dahinter: Wie viel kostet denn das? Manchmal fehlten auch schlicht die personellen Ressourcen oder der Apparat setzte sie anderswo ein. Diese Verbindung finde ich interessant – zwischen den Idealen und einer sehr pragmatischen Down-to-earth-Überlegung: Hier müssen wir leider sparen.
Die Stalinisierung der kommunistischen Bewegung der 1920er Jahre ist ja schon lange erforscht, also ihre Entdemokratisierung, ihre bürokratische Erstarrung und auch die immer größer werdende Abhängigkeit von Moskau. Können Sie sagen, wie sich dieser Prozess auf die Akteure und Akteurinnen auswirkte, deren Lebenswege Sie nachgezeichnet haben?
Also, um vom Ende her zu sprechen: Ein Großteil derjenigen, die in die Sowjetunion geflüchtet sind und dann dort gewohnt haben, sind durch den stalinistischen Terror ums Leben gekommen. Das ist zweifellos die größte Tragik. Aber auch schon vorher wurde ihnen die Arbeit erschwert. Beispielsweise wurden die Diskussionen innerhalb der Komintern im Lauf der Zeit schwieriger. Nicht mehr jede Position war akzeptabel, sodass sich die Akteurinnen und Akteure immer vortasten mussten, um rauszufinden: Was ist jetzt eigentlich noch sagbar? Welche Optionen kann ich überhaupt noch ins Spiel bringen? Ebenso beeinflusste die zunehmende Hierarchisierung die Aktionsmöglichkeiten. Man sieht es beispielsweise bei Roy, der nach China geschickt wird, obwohl er sich eigentlich lieber mit Indien befassen wollte. Aber Stalin erteilte ihm nicht die Genehmigung.
Auffällig ist hier der Unterschied zu den 1920er Jahren. Die 21 Aufnahmebedingungen der Komintern sind beispielsweise von den nicht-russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des zweiten Weltkongresses verschärft worden. Ohnehin mussten die Bolschewiki hier einige Kompromisse machen. Anfang der 1930er Jahre war das überhaupt nicht mehr nötig, da haben sich alle nach den Direktiven aus Moskau gerichtet. Und wenn man es nicht tat, dann wurde eben der Geldhahn zugedreht.
Sie arbeiten ja jetzt nun schon seit Jahrzehnten zur Geschichte des Kommunismus der Zwischenkriegszeit. Wie lautet Ihr Fazit: Warum lohnt sich die Beschäftigung damit auch heute noch?
Ohne den Kommunismus kann man die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht verstehen, er war ein absolut zentrales Element.